Als Scatterheart am nächsten Morgen aufwachte, war das Schloss verschwunden und sie lag auf einer kleinen grünen Lichtung inmitten eines tiefen, dunklen Waldes. Neben ihr lag das kleine Bündel, das sie von zu Hause mitgebracht hatte. Scatterheart seufzte und machte sich auf den langen Weg zu ihres Vaters Haus.
Hannah dämmerte von einer Ohnmacht in die nächste. Von Zeit zu Zeit kam der Arzt, schob ihr einen Silberlöffel in den Mund und verabreichte ihr die geschmacklose glibberige Flüssigkeit. Nach diesen Besuchen musste Hannah oft heftig erbrechen und schlief dann viele Stunden lang. Wenn sie wieder aufwachte, waren ihre Glieder lahm und schwer, ihre Sicht war verschwommen und ihre Ohren waren fast taub. Sie bekam viel Besuch: Long Meg, ihr Vater und einmal eine zierliche Frau, die Hannah für ihre Mutter hielt.
Thomas aber besuchte Hannah nicht wieder, egal wie oft sie nach ihm rief. Sie sehnte sich nach ihm. Aber er war fortgegangen. Wohin wusste Hannah nicht. Irgendwohin. Östlich der Sonne, westlich des Mondes. Hannah überlegte, wie sie ihm folgen könnte.
Sie kratzte fieberhaft ihre Arme und Beine, die von einem hitzigen roten Ausschlag bedeckt waren. Jemand packte sie an der Schulter.
»Genug«, sagte Long Meg, »du kratzt dir noch die Haut vom Leib.«
Hannah hielt sich die Hand vor die Augen. Ihre Finger waren blutig.
»Warum bin ich noch hier, Meg?«, fragte sie. »Hat meine Verhandlung nicht schon stattgefunden?«
Long Meg setzte eine Flasche an Hannahs Lippen.
»Wir warten auf ein Schiff«, sagte sie, »und jetzt trink.« Hannah trank, der Gin brannte in ihrer Kehle und einen Augenblick lang verschwamm wieder alles vor ihren Augen. Dann stand Tabby über ihr.
»Nur ein dummer Hund jagt einem fliegenden Vogel nach«, sagte sie und gackerte vor sich hin. Sie schaute Hannah mit ihren glänzenden schwarzen Augen an. Sie sahen aus wie die eines Vogels.
Hannah blickte Tabby unverwandt an. Und auf einmal krümmte sich Tabbys Gestalt noch weiter nach unten und ihre Nase wurde lang und spitz. Sie spreizte ein schwarz glänzendes Gefieder ab und hüpfte auf und nieder. Wieder gackerte sie, dann breitete sie ihre Schwingen aus, erhob sich in die Luft und schwebte über Hannah. Sie schlug mit den Flügeln, einmal und noch einmal, und flog zu dem winzigen Zellenfenster hinaus.
Zuerst kam es Hannah vor, als fliege sie ebenfalls, als halte Tabby sie in ihren gelben Klauen fest und segle mit ihr über die Straßen von London. Aber dann ließ Tabby sie plötzlich ohne Vorwarnung los und Hannah stürzte trudelnd in die Tiefe.
Sie wachte auf und alles tat ihr weh. Sie spürte ein qualvolles Rütteln, als würde sie wie ein Korken auf den Wellen hin und her geworfen.
Hannah schlug die Augen auf und die Schmerzen wurden noch schlimmer. Weißes sengendes Licht stach ihr in die Augen. Sie schrie auf und schloss sie schnell wieder. War sie erblindet?
Sie versuchte sich aufzurichten, aber ihr schwindelte und Übelkeit überkam sie. Sie stöhnte auf und fiel sogleich wieder nach hinten.
»Nicht so schnell, Gnädigste«, hörte sie die Stimme von Long Meg.
Hannah spürte einen kalten Luftzug und nahm den Geruch von Rauch und gekochtem Essen wahr. Sie waren im Freien.
Hannah öffnete die Augen einen Spaltbreit und erblickte vor sich Holzlatten. Durch die Ritzen sah sie Häuser vorüberziehen. Das gleichmäßige Schlagen von Hufen dröhnte in ihren Ohren. Sie befand sich in einem Fuhrwerk. Aber wohin brachte man sie?
Der Wagen hielt ruckartig an. Hannah kniff stöhnend die Augen wieder zusammen. Die Pferde schnaubten und sie meinte, in der Ferne ein Brüllen zu hören. Sofort schlug sie die Augen wieder auf. War das ein Bär?
Zwischen den Latten sah Hannah das breite Band eines Flusses. Das Eis war geschmolzen und die Themse strömte braun und schäumend wie immer dahin.
Auf dem Wasser lagen Bug an Heck mehrere Reihen großer Schiffe vor Anker. Sie machten den Eindruck, als würden sie gleich auseinanderfallen. Ihre hölzernen Rümpfe waren von Flickstellen und eigenartigen Podesten und Vorsprüngen übersät. Zwischen abgeknickten Masten waren Schnüre mit schmutzig grauer Wäsche gespannt und aus ein paar winzigen Öffnungen in dem verrottenden Holz starrten leere Augen hervor. An einem der unförmigen Kolosse hing eine zerfallene Galionsfigur, eine riesige Frau, deren einst stolzes, schönes Gesicht von Schimmel und Witterung zerfressen war.
Der Wagen rumpelte weiter. Einen Moment lang sah Hannah einen verschwommenen weißen Fleck, der sich durch das schäumende braune Wasser des Flusses kämpfte. Es war der weiße Bär im Kampf mit dem Gipslöwen, der sie im Gerichtssaal angegriffen hatte. Heftig ineinander verbissen wurden sie stromabwärts gespült. Hannah versuchte vergebens sich auf die Ellbogen zu stützen.
Dann merkte sie, dass der Wagen anhielt.
»Wir sind da«, sagte Long Meg.
Hannah krallte die Finger um den Querlauf des Karrens und zog sich zum Sitzen hoch.
»Was ist passiert? Ist der Bär entkommen?«
»Psst«, sagte Meg scharf, »der Schiffsarzt kommt.«
Hannah zitterte. Ihr wurde schwarz vor Augen und in ihren Ohren hob ein fürchterliches Pfeifen an. Sie sank wieder zurück. Ihr Atem ging flach und ihre Brust schmerzte. »Was ist mit der da?«, fragte eine kalte ölige Männerstimme. Eine eisige Hand berührte ihre Stirn und Hannah spürte das Kratzen von langen Fingernägeln.
»Sie ist zu schwach für eine Seereise. Sie hat Gefängnisfieber. Die wird keine Woche mehr machen.«
Hannah öffnete die Augen und sah den Tod vor sich. Er hatte ein langes bleiches und vornehmes Gesicht, das sich an den Rändern jedoch aufzulösen schien. Die Nase war eingesunken und grau, in den Augenwinkeln und an den Wangenknochen keimten weiße Pusteln. Der Tod öffnete seinen Mund. Hannah sah glitzernden schwarzen Speichel.
»Bringt sie ins Gefängnis zurück«, befahl er.
Hannah tastete nach Long Meg. »Bitte, lass mich nicht sterben«, flüsterte sie.
Long Meg drückte ihre Hand. »Kein Knastfieber, Sir«, sagte sie laut. »Die hat nur ihren Monatsgast, wenn Sie verstehen, was ich meine. Das schlägt sie total nieder, soll aber gut sein für viele Kinderchen. In ein paar Tagen ist die wieder munter wie ein Schwälbchen.«
Keine Antwort. Hannah schnappte nach Luft.
»Also gut«, sagte der Tod. »Leutnant Belforte! Geleiten Sie die Dame bitte zu ihrer Kabine.«
Jemand warf eine Decke über Hannah und dann wurde sie von starken Armen hochgehoben. Sie sog den Duft von Lavendel ein.
»Mr Behr«, murmelte sie. »Sie leben. Sie wollen mich retten.« Sie lehnte den Kopf an seine starke Brust. Die Arme schlangen sich noch fester um sie.
»Ganz still«, sagte eine Männerstimme, »ich werde mich um Sie kümmern.«
Hannah regte sich. Das war nicht Mr Behr. Aber sie fühlte sich in seinen Armen so sicher, dass es ihr nichts ausmachte. Der Mann trug sie ein ganzes Stück weit. Der liebliche Lavendelduft wurde vom Gestank fauler Fische überlagert. Hannah hörte das Schreien der Möwen und ein leises, sanftes Brausen, das sie in den Schlaf wiegte.