Scatterheart nahm die Kupfereichel und ging weiter, aber sie bedankte sich nicht bei der Frau aus Sägespänen. Nach langer, langer Zeit kam sie wieder zu einem Felsen. Dort saß eine Frau in mittlerem Alter. Die war ganz aus Glas und in ihrer Hand lag eine Eichel aus Silber. Scatterheart fragte sie, ob sie den Weg zu ihres Vaters Haus wisse.
Long Meg war betrunken. Nicht angeheitert oder benebelt oder berauscht. Sie war sturzbesoffen. Seit drei Tagen regnete es und die Frauen drehten beinahe durch. Sie prügelten sich wegen der kleinsten Kleinigkeiten und der Laderaum stank nach Schweiß und Erbrochenem. Das Schiff wurde hin und her geworfen, oben peitschte der Regen und unten wütete der Ozean. Und die stickige Luft tat ihr Übriges, dass fast alle seekrank wurden.
Long Meg wälzte sich auf ihrem Bett, erzählte dreckige Witze und lachte heiser. In der einen Hand hielt sie eine bedenklich leere Glasflasche. Es war bereits Nachtruhe und im Schlaftrakt der Frauen brannte nur noch eine spärlich flackernde Kerze. Hannah hatte schreckliche Angst, jemand könnte Long Meg hören und nach unten kommen.
»Eine Feier! Eine Einpersonenfeier«, krähte Meg und fuchtelte mit der leeren Flasche herum.
»Pst!«, zischte Hannah. »Woher hast du das überhaupt?«
»Was das?«, fragte Meg und setzte eine Unschuldsmiene auf. Doch dann prustete sie los. »Keine Ahnung, was du meinst.«
Hannah verdrehte die Augen. »Und ich habe keine Ahnung, wie du es fertigbringst, in so kurzer Zeit so betrunken zu werden.«
»Betrunken?«, lallte Long Meg. »Ich bin kein bisschen betrunken.« Sie kicherte. »Ich bin sehr betrunken. Ich bin voll wie ein König. Nein, wie ein Kaiser. Voll wie eine Haubitze.« Sie packte Hannah am Kleid und blies ihr ihre Alkoholfahne ins Gesicht.
»Zieh nicht so ’ne Miene, Gnädigste.« Sie rülpste. »Ich bin voll wie die Sau von Davy.«
»Genug«, sagte Hannah. »Du musst jetzt schlafen.«
Long Meg schüttelte den Kopf. »Nee, nee. Erst muss ich dir die Geschichte von Davys Sau erzählen. Du bist …«, auf der Suche nach den richtigen Worten wedelte sie mit der Hand. »Du bist … etwas Besonderes. Häubchen und Schleifchen und Einladungen. Du weißt schon, was ich meine. Abendessen mit Törtchen und Zuckerblümchen. Du kennst die Sau von Davy nicht und deshalb muss ich dir das erzählen.«
Hannah legte Meg die Hand auf den Arm. »Vielleicht hat das Zeit bis morgen.«
Long Meg zog ihren Arm zurück. »Jetzt. Jetzt musst du das hören.« Sie schloss kurz die Augen und konzentrierte sich. »Davy kam aus Wales. Und er hatte ein Schweinchen. Und ein Weibchen. Und das Schweinchen hatte sechs Beinchen.« Meg schwieg und sah Hannah bedeutungsvoll an. »Sechs und kein Bein weniger. Und sein Weibchen, das hatte zwei Beine. Sie war eine widerliche alte Hexe und ziemlich dem Suff verfallen.« Long Meg kicherte. »So wie ich. Nur dass sie sich geschämt hat. Und ich nicht.«
Hannah hörte über sich die schweren Schritte von Offiziersstiefeln. »Das ist eine nette Geschichte«, sagte sie schnell. »Aber ich glaube, für heute reicht es.«
»Eines Tages«, fuhr Meg fort, als hätte sie Hannah nicht gehört, »eines Tages war das Weibchen so besoffen, dass es Angst bekam, was sein Mann wohl sagen würde. Also schaffte es das Schweinchen hinaus und legte sich selbst in den Stall, um seiner…« Meg fand das passende Wort nicht. »… um nicht mehr so betrunken zu sein. Aber da kam Davy nach Hause. Er hatte einen Freund mitgebracht, dem er das Schweinchen mit den sechs Schweinchenbeinchen zeigen wollte. ›Schau nur!‹, sagte Davy stolz, denn er liebte sein sechsbeiniges Schweinchen. ›Hast du jemals so eine Sau gesehen?‹ Du musst nämlich wissen, dass Davy nicht besonders schlau war und den Unterschied zwischen seinem Weib und seinem Schwein nicht kannte. Aber Davys Freund, der war ein ganz Schlauer und der sagte: ›Das ist das besoffenste Schweinchen, das mir je untergekommen ist.‹ Und seit dieser Zeit wurde die Frau nur noch Davys Sau genannt.«
Long Meg drohte Hannah mit dem Finger. »Also, jetzt weißt du, dass du nie, niemals …«, sie sah Hannah verwirrt an, » … niemals so tun darfst, als wärst du ein Schweinchen. Außer, wenn du besoffen bist.« Sie nickte nachdrücklich, verdrehte die Augen und schlief auf der Stelle ein.
Hannah seufzte erleichtert und legte sich in ihr Bett. Aber sie hatte kaum die Augen zu, da tippte ihr jemand auf die Schulter. Es war James.
»Was machen …«
»Pst«, bedeutete er ihr, »sonst wecken wir die anderen Frauen. Der Regen hat aufgehört. Kommen Sie mit nach oben.«
Hannah kletterte aus dem Bett. Zum ersten Mal war sie froh, dass die Sträflinge in ihren Kleidern schlafen mussten.
»Warte.« Es war Long Meg, die, immer noch volltrunken, im Halbschlaf den Arm nach Hannah ausstreckte.
»Sei nur vorsichtig«, lallte sie. »Du bist noch so klein und sehr, sehr dumm. Der Leutnant ist es gewohnt, seinen Willen zu bekommen. Pass nur auf, dass er nicht wütend wird. Glaub mir.«
Sie ließ Hannah los und begann zu schnarchen. Hannah drehte sich zu James um, aber der war schon halb den Gang hinunter. Sie eilte ihm nach.
Als sie an Deck trat, blieb sie einen Moment wie gebannt stehen. Über ihr funkelten die Sterne. Seit sie sie das letzte Mal gesehen hatte, waren Monate vergangen. In London waren sie meist vom Nebel verdeckt und auf dem Schiff durften die Sträflinge nach Sonnenuntergang für gewöhnlich nicht an Deck. Hannah überlegte, ob sie in Schwierigkeiten kommen könnte, dann fiel ihr ein, dass sie in Begleitung des Ersten Offiziers war.
Sie gingen zum Vorderdeck. Die Planken waren nass und glitschig. James streifte seine Jacke ab und breitete sie auf dem nassen Boden aus. Hannah trat einen Schritt vor, weil sie dachte, die Jacke sei für sie zum Sitzen gedacht. Aber James hatte sich schon selbst darauf niedergelassen. Er zog einen Flachmann aus seiner Tasche, öffnete ihn und reichte ihn Hannah. Sie schüttelte den Kopf und setzte sich neben ihn.
James schmunzelte und nahm einen Schluck.
»Haben Sie an der Feier Ihrer Freundin etwa nicht teilgenommen?«
Hannah sah ihn erstaunt an. »Woher wissen Sie davon?«
»Sie ist in das Schnapslager der Offiziere eingebrochen. Ullathorne hat einen ganzen Zuber leerer Flaschen im Laderaum gefunden. Er verlangt, dass sie ausgepeitscht wird.«
»Und, wird sie das?«
James grinste. »Nein, aber wir haben eine kleine Überraschung für sie vorbereitet.«
»Was machen Sie mit ihr?«
James schwieg, aber seine Augen lachten immer noch. Er hob seinen Arm zum Himmel und zeigte auf die Sterne. »Sehen Sie, dort ist Orion.«
Hannah folgte seiner Hand und versuchte die Umrisse des Jägers auszumachen.
James senkte seinen Finger zum Horizont.
»Und da ist der Große Bär, sehen Sie?«
Hannah blinzelte.
»Nein, ich kann ihn nicht finden.«
»Schauen Sie«, sagte James und rückte näher. Er neigte sich so weit vor, dass er ihrem Blick mit seinem ausgestreckten Arm folgen konnte. Er roch nach Whisky, ein Geruch, der sie an ihren Vater erinnerte. »Da drüben läuft er, sein Kopf ist uns zugewandt. Die drei Sterne dort bilden seinen Schwanz.«
»Ihren Schwanz«, sagte Hannah, die sich daran erinnerte, was Thomas Behr ihr einmal erzählt hatte. »Es ist eine Bärin. Sie heißt Kallisto.«
»Wie?«
»Kallisto. Das war eine Nymphe. Zeus verliebte sich in sie und verführte sie. Sie hatten einen Sohn, der Arkas hieß. Die Frau von Zeus war so wütend, dass sie Kallisto in eine Bärin verwandelte. Arkas tötete sie beinahe auf der Jagd, aber dann setzte Zeus sie beide als den Großen und Kleinen Bären in den Himmel.«
James verzog das Gesicht. »Woher wissen Sie so viel über die Sterne?«
Hannah lachte. »Das hat mir Thomas beigebracht. Er liebte Geschichten.«
»Wer ist Thomas?«, fragte James schnell.
»Mein Hauslehrer.«
»Ein Hauslehrer hat Sie in Astrologie unterrichtet?« James zog die Augenbrauen hoch. »Ich wundere mich, dass Ihr Vater das erlaubt hat.«
»Hat er auch nicht«, sagte Hannah. »Thomas wurde … er wurde entlassen.«
»Zu Recht«, entgegnete James. »Kein Vater will einen Blaustrumpf zur Tochter.«
»Ich bin doch kein Blaustrumpf, nur weil ich ein paar Bärengeschichten kenne.«
James zuckte die Achseln. »Das da drüben ist der Kleine Bär. Aber ich finde, er sieht nicht wie ein Bär aus. Der Schwanz ist viel zu lang.«
Hannah lächelte versonnen. »Thomas hat immer gesagt, der Schwanz sei so lang, weil er Tausende von Jahren daran um den Nordpol gewirbelt worden ist.«
»Ihr Thomas hat wohl auf alles eine Antwort«, brummte James.
Hannahs Lächeln erstarb und sie sah wieder zu den funkelnden Sternen hinauf.
»Nein«, erwiderte sie nach einer Weile. »Thomas kannte nicht alle Antworten. Er glaubte es, aber es stimmte nicht.« Hannah dachte an Thomas’ weißen Bären. Sie seufzte.
»Was haben Sie?«, fragte James.
»Nichts«, murmelte Hannah, »ich musste nur gerade an eine andere Geschichte denken.«
James nahm noch einen Schluck aus dem Flachmann. »Für einen Abend habe ich genug Geschichten gehört.« Er betrachtete Hannah von der Seite. »Ich fände es schön, wenn Sie ein anständiges Kleid tragen würden. Aus weichem Musselin. Blassrosa. Vielleicht mit ein paar Spitzen.«
»Mein Lieblingskleid war aus rosa Musselin!«, platzte Hannah heraus.
»Und bestimmt haben Sie bildschön darin ausgesehen.«
»Sie sind immer bildschön«, sagte Hannah leise, ohne darüber nachzudenken, und ihre Wangen erröteten. »Ich … ich muss jetzt gehen«, stotterte sie und erhob sich. »Es ist spät geworden.« Sie eilte zur Treppe.
»Hannah!«, rief James.
Hannah drehte sich um. Es war ihr peinlich, dass ihr Kleid hinten, wo sie auf dem feuchten Holz gesessen hatte, einen nassen Fleck hatte.
»Träum süß«, sagte James und lächelte. Seine Zähne sahen in der Dunkelheit sehr weiß aus.
Am nächsten Tag war der Himmel bewölkt, aber es blieb trocken. Die Sträflinge strömten auf das Oberdeck, sie lechzten nach frischer Luft.
Hannah und Meg lehnten an der Reling. Hannah erzählte ihrer Freundin von ihrem Abend mit James und was für ein Gentleman er gewesen sei. Molly lungerte nur wenige Schritte entfernt herum – sie folgte Meg seit einiger Zeit wie ein Hündchen.
Long Meg schnaubte. »Wenn er ein Gentleman wäre, hätte er dich auf seinem Mantel sitzen lassen. Du tust dir keinen Gefallen, wenn du mit diesem Schönling schäkerst. Die Männer sind alle gleich. Wir Frauen müssen zusammenhalten.«
»Das sagst ausgerechnet du, Meg«, erwiderte Hannah.
»Du verbringst doch jede Nacht in einer anderen Hängematte.«
Molly kicherte, worauf Hannah sie böse ansah.
»Das ist etwas anderes«, entgegnete Meg. »Das mache ich für Geld, Grog und Schutz.«
Hannah zuckte die Achseln.
»Nun, vielleicht ist das bei mir auch so, nur dass ich es damenhafter anstelle.«
»Damenhafter? Pah! Wer im Glashaus sitzt, soll nicht mit Steinen werfen. Was du machst, ist keine Spur damenhaft. Du bist wie eine läufige Hündin, die ihm schöne Augen macht. Verknallt hast du dich in den Schnösel. Pass nur auf, wo das endet.«
»Und wenn?«, fragte Hannah verärgert und wandte sich ab. Sie wunderte sich über sich selbst. War sie im Begriff, sich in James zu verlieben?
Long Meg drehte Hannah wieder zu sich herum und sah ihr in die Augen.
»Pass auf dich auf, Frollein. Pass verdammt gut auf. Er ist gefährlich.«
Hannah schob Long Meg von sich.
»Er ist ein Gentleman. Wir sind beide aus gutem Hause. Was ist daran so falsch?«
»Eins weiß ich mit Sicherheit«, sagte Long Meg. »Dieser Leutnant Belforte ist kein Gentleman.«
»Woher willst du das wissen?«, fragte Hannah.
»Also, erstens, sein richtiger Name ist nicht Belforte, sondern Buffet. Und sein Papa ist auch kein Gentleman. Der kommt von unten, genau wie ich. Hat sein Vermögen mit Knöpfen gemacht.«
Hannah blinzelte. James kein Herr von Stand? Er hatte doch ein so vornehmes Benehmen.
»Aber das ist nicht der Grund, warum er kein Gentleman ist«, fügte Long Meg hinzu und ging. Molly sprang hinter ihr her. Mit einem triumphierenden Blick auf Hannah hakte sie sich bei Long Meg unter.
Hannah kochte vor Wut. Meg unterhielt sich mit Jemmy Griffin. Ihre verschlagene Miene und das schrille Gekicher von Molly ließen keinen Zweifel aufkommen, worüber sie sich unterhielten. Liebe? Long Meg hatte keine Ahnung von Liebe. Für sie zählten nur ihre eigenen Interessen. Hannah schaute zum Achterdeck hinauf. Dort stand Dr. Ullathorne und beobachtete Meg wie ein Habicht seine Beute. Wahrscheinlich musste Meg wieder einmal in den Bau. Hannah seufzte und blickte über die wogende See.
Ein heiseres Kreischen veranlasste sie, sich wieder umzudrehen. Long Meg hatte ihren Matrosen stehen lassen und sich einem Midshipman zugewandt, den sie mit einer Tirade von Beschimpfungen überschüttete. Sie zog über sein Aussehen, seine Mutter und seine sexuellen Aktivitäten her. Hannah warf einen Blick zum Achterdeck hinüber und wartete darauf, dass Long Meg fortgeschafft werden würde.
Dr. Ullathorne stand nur reglos da und beobachtete Meg mit einem leisen Grinsen. Der Midshipman schenkte ihr keine Beachtung. Hannah erinnerte sich, dass James von einer Überraschung gesprochen hatte, und wandte sich suchend nach ihm um. Er war nirgends zu sehen.
Long Meg war frustriert, weil ihr Gezeter keine Wirkung zeigte. Sie ging zum nächsten Offizier. Wieder dasselbe. Schließlich lief sie zu der Treppe, die zum Achterdeck hinaufführte.
Molly steckte sich die Faust in den Mund und trieb sich am Fuß der Treppe herum. Hannah hielt die Luft an. Sie hatte schon erlebt, dass Matrosen ausgepeitscht wurden, weil sie unerlaubt das Achterdeck betreten hatten.
Meg kletterte die Treppe hoch und fand sich zu ihrer Überraschung Captain Gartside gegenüber. Hannah konnte nicht verstehen, was sie sagte. Sie schnappte nur einzelne Wortfetzen auf. Gewöhnlich wie ein Stück Scheiße … Mutter hatte den Tripper.
Alle Sträflinge, Matrosen und Offiziere beobachteten das Spektakel. Molly hüpfte aufgeregt auf und ab. Captain Gartside nickte abwesend und schlenderte von dannen, um mit dem Bootsmann zu sprechen. Meg war anzusehen, wie schockiert sie über seine gelangweilte Gleichgültigkeit war.
Hannah bemerkte, dass Dr. Ullathorne jemandem zunickte. Hinter dem Steuerrad tauchten James und ein anderer Offizier auf. Sie hielten ein Holzfass, das oben und an den Seiten Löcher hatte, zwischen sich, rannten vor und stülpten es Long Meg über den Kopf. Der stakte nun aus dem oberen Loch und ihre Arme aus den seitlichen Löchern, als trüge sie einen Umhang aus Holz.
Die Matrosen lachten und Meg drehte sich zu ihnen um. Sie bewegte sich schwerfällig wie eine Wasserschildkröte auf dem Trockenen. Wieder lachten alle. Hannah beobachtete, dass Captain Gartside missbilligend die Stirn runzelte. Meg grinste und deutete ein Tänzchen an. Die Sträflingsfrauen jubelten und Molly kreischte begeistert. Hannah sah zu James hinüber. Auch er grinste.
»Wie finden Sie mein neues Kleid?«, fragte Long Meg ihn. »Ist es nicht sehr elegant?«
»Elegant ja. Für eine Schildkröte!«, rief James und lachte schallend.
»Eine Schildkröte?«, fragte Long Meg. »Dann hören Sie mal genau zu, es gibt Leute, die von Schildkröten sogar was lernen können.«
»Was denn?«, fragte James.
»Ein Fauler weiß nicht, dass er faul ist, bis er eine Schildkröte aufscheucht und sie ihm entkommt.«
Alle lachten.
»Erzähl noch einen Witz!«
»Einen Witz?«, fragte Long Meg. »Also gut. Kennt ihr den?« Sie legte ihren Kopf schief und überlegte. »Es war einmal ein Kerl, der ging durch einen Wald und hatte einen mächtigen Hunger. Er kam an ein Gasthaus, das hieß ›Zum Georg mit dem Drachen‹. Er klopft an die Tür«, – an dieser Stelle klopfte Meg mit ihren Knöcheln an das Fass – »und die Frau des Wirts steckt ihren Kopf aus dem Fenster. Unser Kerl bittet um eine Kleinigkeit zu essen, aber die Frau schreit: ›Nein!‹ Der Kerl bittet um einen Krug Bier und die Frau schreit: ›Nein!‹ Dann bittet der Kerl darum, das Klo benutzen zu dürfen, und wieder schreit die Frau: ›Nein!‹ ›Nun‹, sagt der Kerl, ›könnte ich vielleicht …‹ – aber bevor er zu Ende reden kann, kreischt die Frau: ›Was denn noch?‹ ›Könnte ich jetzt bitte mit Georg sprechen?‹«
Die Matrosen und die Frauen brüllten vor Lachen und applaudierten. Dr. Ullathorne mischte sich wieder unter die Menge – er stand jetzt nur wenige Schritte links vor Hannah. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Hannah schaute wieder zu Captain Gartside hinüber, der Long Meg mit einem eigenartigen Gesichtsausdruck beobachtete. War es Mitleid?
»Und jetzt, du alte Schildkröte?«, fragte Hopping Giles, ein Matrose mit einem dichten schwarzen Bart und einem Klumpfuß.
»So eine vornehme alte Schildkröte braucht natürlich einen Hut!«, schrie Meg.
Ein zerbeulter alter Hut wurde aufgetrieben und Meg auf den Kopf gesetzt. Sie winkte Molly herbei.
»Meine Pfeife!«, sagte sie zu ihr. »Wo ist meine Pfeife?«
Molly wieselte kichernd davon und kam gleich darauf mit einer Tonpfeife wieder. Long Meg rief sie zu sich. Molly kletterte mit einem scheuen Blick auf die Offiziere die Stufen zum Achterdeck hoch und steckte Long Meg die Pfeife in den Mund. Der Arzt hatte sich umgedreht und Hannah sah nun sein Gesicht im Halbprofil. Aber sein Blick galt nicht Meg, sondern Molly. Er starrte sie an, als sähe er sie zum ersten Mal. Molly wieselte die Treppe wieder hinunter, eine Faust in den Mund gestopft und ihr Auge vor Aufregung weit aufgerissen.
Ein Offizier zückte sein Feuerzeug und dann stolzierte Meg, dicke Rauchwolken ausstoßend, über das Deck.
»Ich muss schon sagen«, rief sie, »das ist wirklich ein klasse Boot. Echt spitze! Eine vornehme, gebildete Schildkröte wie ich könnte hier richtig heimisch werden.«
»Tanz, Schildkröte!«, forderte Jemmy Griffin sie auf.
»Tanz für uns!«
Die Schildkröte schüttelte den Kopf. »Ach, ich weiß nicht, guter Mann. Das passt doch nicht zu einer vornehmen Schildkröte wie mir.«
»Los, tanz!«, brüllte Hopping Giles. »Sonst stecken wir dich in einen Topf und kochen Schildkrötensuppe.«
Die Schildkröte stieß ein ängstliches Jaulen aus und machte einen komischen kleinen Luftsprung. Die Zuschauer lachten. Dann begann die Schildkröte langsam und schwerfällig zu tanzen.
Ein Matrose mit Zylinder, der, wie Hannah erfuhr, Tam Chaunter hieß, zog eine Fidel hervor und spielte eine lustige Melodie. Der Tanz der Schildkröte wurde heftiger, sie hüpfte auf und nieder und ihre kurzen Beine sprangen vor und zurück. Die versammelte Mannschaft und die Sträflinge jubelten und Long Meg grinste. Aber Hannah bemerkte den Schweiß auf ihrer Stirn.
Tam Chaunter beendete sein Lied und fing gleich mit dem nächsten an. Die Matrosen und die Frauen klatschten und stampften mit den Füßen im Takt der Musik. Die Schildkröte kreiselte und hüpfte immer schneller.
Als das zweite Lied zu Ende war, sagte einer der Offiziere etwas zum Bootsmann, worauf dieser in seine Pfeife blies und die Matrosen murrend an ihre Arbeit zurückkehrten. Captain Gartside wandte sich um und verschwand in seiner Kajüte.
Einige Matrosen verteilten Scheuersteine an die Frauen und wiesen sie an, die Decks zu schrubben. Hannah nahm ihre Steine entgegen und ließ sich auf Knie und Hände nieder. Sie sah zu Long Meg hinauf, die mit einiger Mühe die Stufen vom Achterdeck hinunterkletterte. Keuchend und schwitzend kam sie unten an. Sie versuchte sich hinzusetzen, um wieder zu Atem zu kommen, aber das Fass war zu sperrig.
Schmollend kauerte sie am Ankerspill, aber dann hob eine besonders große Welle das Schiff in die Höhe, es neigte sich zur Seite und Meg verlor das Gleichgewicht. Krachend stürzte sie auf die Planken. Das Fass kam ins Rollen und kullerte mit Meg bis zum anderen Ende des Decks. Die Matrosen lachten, aber in Megs Augen glitzerten Tränen.
Das Schiff hob sich wieder und Meg rollte zur anderen Seite und verfehlte nur knapp den Niedergang zum unteren Deck. Sie versuchte auf die Füße zu kommen, das Fass war jedoch zu groß und zu schwer. Sie wedelte jämmerlich mit Armen und Beinen.
»Helft mir, ihr dreckigen Metzen!«, zischte sie den anderen Frauen zu. »Helft mir oder ich schwöre, dass ich euch im Schlaf die Augen aussteche!«
James beobachtete sie vom Achterdeck aus.
»Ihr vertrockneten, alten Wanderhuren!«, stieß Meg mit tränenerstickter Stimme hervor.
Die anderen Frauen schauten zu Boden und taten, als merkten sie nicht, dass Long Meg weinte.
»Kommt weiter, Mädels«, sagte Cathy.
Long Megs wütende Blicke meidend, schlichen die Frauen davon.
Hannah biss sich auf die Lippe und ging zu Meg. Aus den Augenwinkeln sah sie, dass James den Kopf schüttelte. Sie beugte sich herab und packte Meg am Arm. Die kam schwankend auf die Füße und hielt sich am Rand einer Schießscharte fest, um nicht vornüberzukippen.
»Hau ab«, presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor.
»Bitte?«, fragte Hannah verwirrt. Sie dachte, sie hätte Meg einen Gefallen getan.
»Du bringst dich in Teufels Küche«, erklärte Meg. »Geh schon!«
Bei Einbruch der Nacht bettelte Meg freigelassen zu werden und versprach für den Rest der Reise nüchtern zu bleiben und sich gut zu benehmen. Das Fass wurde entfernt.
Hannah erschrak, als Meg in den Schlaftrakt hinunterkam. Sie war über und über mit blauen Flecken und Schürfwunden bedeckt, die sie sich in dem harten Holzfass zugezogen hatte.
Als sie an Cathys Schlafplatz vorbeiging, spuckte sie aus. »Verräterin«, flüsterte sie.
»Siehst du?«, sagte sie zu Hannah und ließ sich stöhnend auf ihr Bett nieder. »Die Offiziere sind unsere Feinde. Sie hassen uns genauso, wie wir sie hassen. Auch dein Schönling von Leutnant.«
Hannah dachte an James’ Gesichtsausdruck, als er Long Meg das Fass übergestülpt hatte.