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Scatterheart und der Nordwind flogen über das weite Meer. Der Nordwind wurde immer matter und seine Flügel sanken immer weiter herab. Schließlich flog er so tief, dass das Wasser der Wellen auf seine Fersen spritzte. »Hast du Angst?«, fragte der Nordwind. Nein, sie hatte keine Angst.

Sie blieben eine Woche in Kapstadt. Bei ihrer Abfahrt war das Schiff, das ihnen monatelang groß und leer vorgekommen war, mit Säcken, Fässern und Kisten vollgepackt. Das Orlopdeck war vom Quäken, Blöken und Muhen verängstigter Tiere erfüllt, deren schwermütiges Schreien die Frauen nachts wach hielt. Erst nach einer Woche auf See hatten sie sich an die stickige Dunkelheit gewöhnt.

Hannah versuchte James aus dem Weg zu gehen, aber er war überall.

Eines Nachmittags saß sie mit Cathy, Patty und Sally an Deck und zupfte Werg. Sallys Kind lag unweit von ihnen in eine raue Wolldecke gewickelt. Hannahs Fingernägel waren entzündet und rissig und der Schweiß ran ihr über die Stirn. Als sie ihn abwischte, geriet eine der harten Hanffasern in ihr Auge. Es juckte und schmerzte so sehr, dass sie reiben musste.

»Du weinst wohl, weil du deinen Liebsten verloren hast?«, bemerkte Cathy grinsend.

»Nein«, sagte Hannah, »ich habe etwas im Auge.«

Cathy und die anderen Frauen lachten.

»Du bist nur eifersüchtig, weil du nicht mehr sein Liebling bist«, entgegnete Cathy. Sie zeigte zum Vorderdeck, wo James im Gespräch mit einer anderen Gefangenen an der Reling lehnte. Hannah kniff geblendet die Augen zusammen. Es war Sarah, ein irisches Mädchen mit rosigen Wangen und üppigem Busen. Sie sah, wie Sarah lachte und James ihr über die Wange strich. Hannah schauderte, denn sie stellte sich vor, wie James über Long Megs kalte weiße Wange gestrichen haben mochte.

Die Frauen lachten, als sie Hannahs Reaktion bemerkten.

»Seht nur, wie sie sich nach ihrem Liebsten sehnt!«

»Und wie lang und kalt die Nächte für sie sein werden.«

»Ehrlich, Mädchen, was wären wir traurig, wenn der hübsche Leutnant uns nicht mehr haben wollte.«

Cathy machte ein genießerisches Geräusch.

»Wir können froh sein, dass er immer noch seine Bettübungen mit uns macht.«

Hannah sah sie an. »Wie kannst du nur so etwas sagen?«

Die Frauen guckten erstaunt.

»Überleg doch nur, was er mit Long Meg gemacht hat«, erinnerte Hannah sie. »Er hat sie umgebracht. Das wisst ihr doch. Und dann zwitschert ihr hier herum, was für ein toller Kerl er ist.«

»Lass uns mit deiner Moralpredigt in Ruh, Frollein«, entgegnete Cathy. »Wir tun das, weil wir überleben wollen. Was man von Meg nicht unbedingt behaupten konnte.« »Long Meg hat doch nur versucht Molly zu schützen. Deshalb musste sie sterben!«, erwiderte Hannah.

»Nein«, blaffte Cathy und stand auf. »Sie ist gestorben, weil du sie nicht gerettet hast. Du hättest die Macht gehabt, den Leutnant zurückzuhalten. Du warst doch dabei. Du hättest sie retten können. Also tu nicht so, als ob du eine von uns wärst. Das bist du nie gewesen und wirst es auch nie sein.«

Die Tage schleppten sich dahin, das südliche Meer glitt unter ihnen hinweg und Mollys Kerben über Long Megs Bett wurden immer mehr, bis es über einhundert waren. Das Wetter wurde kälter und nachts schlüpfte Molly zu Hannah ins Bett, um sich zu wärmen.

Noch immer konnte Hannah sich nicht an das Ende des Märchens erinnern.

»Bestimmt findet sie ihn«, sagte Molly, als sie einmal auf dem Vorderdeck saßen.

»Ich glaube auch«, antwortete Hannah.

Molly stand auf und beugte sich über die Reling. Sie sah auf das vorbeirauschende Wasser hinunter.

»Ob er in einem Käfig ist? Oder in einem Schloss? Oder auf dem Meeresgrund in einem Seemannsgrab?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht kann uns Thomas die Geschichte zu Ende erzählen, wenn wir nach New South Wales kommen. Er wird sich bestimmt erinnern.«

Molly fragte sie über Thomas Behr aus.

»Als er anfangs zu uns kam, habe ich ihn immer Mr Bär genannt«, sagte Hannah lächelnd. »Er kannte so viele Geschichten.«

»Ist er auch ein Sträfling? Oder ein Matrose?«

»Er ist ein Offizier. Er ist tapfer und stark.«

»Hat er schon einmal mit einem Hai gekämpft?«

»Bestimmt«, lachte Hannah.

»Und auch mit einem Tiger?«

»Natürlich.« Hannahs Augen hatten einen merkwürdigen Glanz. »In Indien hat er mit einem Tiger gekämpft.«

Die See wurde so rau, dass die Frauen das Oberdeck nicht mehr betreten durften, damit sie bei dem starken Seegang nicht über Bord fielen. In der Takelage heulte und kreischte der Wind, ununterbrochen spritzte die Gischt und tropfte durch die Planken bis hinunter ins Orlopdeck. Einmal am Tag durften die Frauen zum Essen heraufkommen. Sie hielten mit klammen Fingern ihren Napf und versuchten sich ein bisschen daran zu wärmen.

Die Matrosen waren gereizt und unruhig und erzählten schaurige Geschichten über Stürme und Schiffbrüche. Einmal erzählte Jemmy Griffin die Geschichte vom Fliegenden Holländer. Molly lauschte ihm mit weit aufgerissenem Auge.

»Und … alle sind gestorben?« Mollys Stimme war nur noch ein Flüstern.

Jemmy Griffin nickte. »Aber angeblich segelt der Geist des Schiffs immer noch durch diese Gewässer und die toten Matrosen verrichten ihre Arbeit Stunde um Stunde in völliger Stille.«

Molly starrte ihn mit offenem Mund an.

»Gib gut acht darauf, kleines Frollein«, sagte Jemmy. »Du erkennst das Schiff an seinen schwarzen zerrissenen Segeln und den Geistergestalten an Deck.«

Molly spähte zum Bullauge hinaus und Jemmy Griffin schmunzelte.

»Jetzt ist es zu früh«, meinte er, »der Sturm ist noch nicht stark genug. Warte mal zwei Wochen. Dann kannst du es sehen.«

Wie Jemmy vorausgesagt hatte, wurde der Sturm nach zwei Wochen noch heftiger. Haushohe Wellen krachten über die Derby Ram und das Wasser floss in Strömen durch die Ritzen in der Decke auf die Frauen im Orlopdeck herab. Die Männer arbeiteten ununterbrochen an den Pumpen, trotzdem drangen Unmengen von Wasser ein, die im Orlopdeck und im Laderaum hin und her schwappten.

Eine riesige Welle überschwemmte die Schiffsküche und riss sogar den Herd mit sich. Es gab kein trockenes Holz und keine trockene Kohle mehr, deshalb bekamen alle nur harten Zwieback und kaltes Pökelfleisch zu essen. Die Temperatur sank dramatisch. Wurde das Schiff für eine kurze Weile einmal nicht von Wellen hin und her geworfen, bildete sich an Tauen und Umläufen sofort eine Eisschicht.

Captain Gartside gab für alle Extrarationen Alkohol aus. Hannah mochte den Geschmack des Matrosenrums nicht, schluckte ihn aber hinunter und genoss die kurze Wärme, bevor die nächste Welle das Schiff überspülte und sie wieder durchnässte.

Der Sturm dauerte vierzehn Tage. Hannah saß auf ihrem Bett und kauerte sich an den Schiffsrumpf. Sie hatte sich ihre klamme Decke um die Schultern gelegt und hielt mit steifen Fingern Thomas’ Taschentuch fest.

Der nun schon vertraute Schmerz in ihrem Unterleib war wieder da, bei der Kälte war er besonders unangenehm. Hannah stand auf und ging zu der Kiste, wo die sauberen Stofffetzen aufbewahrt wurden.

Die Krämpfe wurden immer schlimmer und Hannah krümmte sich ein wenig, als sie zu ihrem Bett zurückging. Sie rollte sich unter ihrer feuchten Decke zusammen und wünschte, Long Meg wäre da und würde sich über sie lustig machen.

Du elender Faulpelz, würde sie sagen. Wenn die Frauen sich in ihren Erdbeerwochen immer ins Bett legen würden, wäre Rom niemals erbaut worden und König George hätte Löcher in seinen Socken.

Molly kratzte eine neue Kerbe in den Holzbalken über Long Megs Bett. Sie waren nun seit vier Monaten auf See und die Abfahrt aus Kapstadt lag beinah einen Monat zurück.

»Können wir nicht hinauf?«, fragte Molly und legte den Löffel beiseite.

»Nein, nicht bei diesem Wetter«, sagte Hannah. »Das ist verboten.«

»Warum denn?«

Hannah seufzte. »Wir dürfen eben nicht.«

Sie schloss die Augen und malte sich ihre Lieblingsszene aus.

Das Schiff fuhr majestätisch in Port Jackson ein. Die Sonne schien und der Hafen war voll von Schaulustigen, die ihre Taschentücher schwenkten und jubelten. Eine lange Gangway wurde herabgelassen und die Frauen verließen das Schiff.

Hannah kam ganz zum Schluss. Ihre Haare waren zu einer modischen Kurzhaarfrisur nachgewachsen und sie trug ein selbst geschneidertes neues Kleid und einen Mantel. Sie war erschöpft, aber ihre Wangen leuchteten rosig und ihre Augen funkelten. Dann teilte sich die Menge und sie sah Thomas hinten stehen.

Sie schlug die Augen auf. Molly war verschwunden. Auch in einem der anderen Betten war sie nicht. War sie bei diesem Wetter etwa nach oben gegangen?

Seufzend kletterte Hannah aus ihrer Koje und stakste durch den Gang zur Treppe. Das Wasser schwappte um ihre Füße. Ihre Beine waren steif vor Kälte und schmerzten. Sie zog sich die Stufen zum Unterdeck hinauf.

Das Schiff, von Wind, Regen und Wellen gebeutelt, ächzte und kreischte in seinen Spanten. Hannah ließ sich auf alle viere nieder und erklomm die Treppe zum Oberdeck. Die Falltür war geschlossen und sie musste erst eine Weile mit dem Riegel kämpfen, bis sie endlich aufging. Wind und Regen schlugen ihr von allen Seiten entgegen. Molly konnte unmöglich dort oben sein.

Kein einziger Matrose war an Deck. Die Segel waren aufgerollt und sämtliche Taue und Stücke gesichert.

Hannah konnte Molly nirgendwo sehen. Sie war gerade im Begriff, den Riegel wieder vorzulegen, als sie einen Schrei hörte. Sie spähte durch den Regen und nahm auf dem Vorderdeck eine dunkle Gestalt wahr.

Nun kroch sie vollends durch die Luke und krabbelte auf Händen und Füßen zu der Treppe, die auf das Vorderdeck führte. In der Takelage heulte und kreischte der Wind. Als sie hochsah, bemerkte sie zwischen den Kanonen eine schwarz gekleidete Gestalt. Sie war viel zu groß und zu kräftig, als dass es Molly hätte sein können. Dann hörte sie ein Dröhnen.

Sie drehte sich um und schrie. Eine riesige Welle, größer als sie sich je hätte vorstellen können, baute sich über dem Schiff auf. Sie schwoll brodelnd an und hing einen Moment lang wie in der Schwebe.

Die Gestalt auf dem Deck hatte sich bei Hannahs Schrei umgedreht und just in dem Moment, als die Welle auf sie hereinbrach, sah Hannah ihr Gesicht.

Es war Dr. Ullathorne.

Hannah wurde auf das Deck geschleudert. Der Aufprall presste die Luft aus ihrer Lunge und ihr Kopf schlug hart auf die Planken. Salzwasser drang ihr in Mund und Nase und sie wurde von der Strömung des zurückfließenden Wassers zum Ozean hingezogen. Irgendwie gelang es ihr, sich mit tauben Fingern an ein Geländer zu klammern. Sie rang nach Luft.

Dr. Ullathorne beugte sich über die Reling und schrie etwas in den Wind. Hannah blinzelte das Wasser aus ihren Augen fort und erkannte ein zweites Gesicht.

Es war Molly, die sich mit schreckverzerrter Miene im Takelwerk des Bugspriets festkrallte. Hannah zog sich hoch und stieg die Stufen hinauf.

Und dann fielen sie. Die Derby Ram stürzte bugwärts in ein mörderisch tiefes Wellental. Das Schiff kippte bedrohlich nach vorn und die Stufen, die Hannah gerade noch erklommen hatte, neigten sich plötzlich nach unten.

Molly schrie wieder, es war ein hoher, durchdringender Laut. Hannah schlitterte über das Vorderdeck, das auf der Höllenfahrt des Schiffs beinahe senkrecht nach unten zeigte. Sie erhaschte einen flüchtigen Blick auf Molly, die kreischend an einem Seil baumelte.

Mit einem ohrenbetäubenden Knall schlug das Schiff am Boden des Wellentals auf. Die Spanten quietschten und bebten, als würden sie auseinanderbrechen. Hannah spürte, wie sich die Planken unter ihren Füßen bewegten, und dachte einen Moment lang, die Derby Ram würde zertrümmert werden. Doch das Schiff richtete sich sofort wieder auf und das Deck war wieder horizontal. Hannah zog sich weiter hoch. Der Doktor achtete nicht auf sie, sondern schaute ausdruckslos zu Molly.

Die hing am Bugspriet, unter ihr kochte der Ozean.

Hannah beugte sich über die Reling und schrie: »Molly! Pack meine Hand!« Aber Molly war zu weit weg.

Hannah drehte sich zu Dr. Ullathorne um.

»Helfen Sie!«, rief sie. »Holen Sie Hilfe!«

Doch Dr. Ullathorne wandte seinen Blick nicht von Molly. Hannah sah in das brodelnde Wasser hinunter und biss die Zähne zusammen. Sie schwang erst das eine, dann das andere Bein über die Reling des Vorderdecks. Mit der einen Hand hielt sie sich hinten am Geländer fest, mit der anderen angelte sie nach einem Seil. Dann beugte sie sich vor, ließ das Geländer los und streckte die nun freie Hand Molly hin.

Eine neue Welle schlug krachend gegen das Schiff. Das Wasser traf Hannah mit solcher Gewalt, dass sie den Halt verlor und auf den weiter unten liegenden Teil des Vorderdecks stürzte. Dort bekam sie den Vorsteven zu fassen, was sie daran hinderte, über Bord gespült zu werden. Sie schaute zu Molly hoch, die sich immer noch an dem gefährlich auf und ab kippenden Bugspriet festklammerte.

»Molly!«, schrie Hannah. »Kannst du bis zu mir herüberklettern?«

Molly blickte sie mit ihrem angsterfüllten Auge an.

»Schon gut«, schrie Hannah, »ich fange dich auf, wenn du fällst. Du musst nur bis zum Vorsteven klettern, nur weg vom Wasser!«

Molly kniff ihr Auge zu und erst nach einer Weile, die Hannah wie eine Ewigkeit vorkam, setzte sie sich in Bewegung. Zentimeter um Zentimeter kroch sie am Bugspriet entlang, das Auge die ganze Zeit fest geschlossen. Mit einem plötzlichen Ruck stürzte das Schiff in das nächste Wellental hinab und Molly verlor den Halt. Sie schlitterte und purzelte über den Bugspriet, krachte gegen den Bug und fiel dann mit einem Knall auf das untere Vorderdeck.

Hannah eilte zu ihr und half ihr auf die Füße. Sie war bei Bewusstsein, sah jedoch sehr benommen aus. Rasch schleppte Hannah sie zu der niedrigen Tür, die zu den Kabinen des Oberdecks führte. Die Tür hatte aber keine Klinke, denn sie konnte nur von innen geöffnet werden. Hannah hämmerte, trat gegen das vor Nässe glänzende Holz und schrie, doch ihre Stimme wurde vom Tosen des Sturms verschluckt.

Von überall her stürzte Wasser auf sie ein, als wollte das Meer sie und Molly verschlingen und in das Grab von Davy Jones zerren. Ihre Glieder wurden lahm und ihr nasses Kleid zog schwer an ihr, während Molly vor Angst und Kälte zitternd an ihrem Arm hing.

Der Doktor stand immer noch an der Reling des Vorderdecks und starrte auf sie hinab.

»Helfen Sie uns, verdammt noch mal!«, schrie Hannah. Er rührte sich nicht, sondern blickte sie nur weiter an. Hannah meinte, die Spur eines Lächelns in seinem zerstörten Gesicht wahrzunehmen. Er sah schrecklich aus. Seine Nase war vollständig zusammengefallen und seine eingesunkenen Wangen waren an den Stellen, wo Meg ihn mit dem Messer getroffen hatte, von dicken schwarzen Striemen verunziert. Das eine Auge war gerötet und tränte, das andere war von einem schwarzen Film überzogen. Die von weißen Pusteln übersäten Lippen waren zum Fünffachen ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen und gaben den Blick auf verfaulte Zähne und schwarze Speichelfäden frei.

Hannah schaute ihm direkt in die Augen.

»Ich werde dafür bezahlen, das verspreche ich. Alles, was Sie wollen.«

Molly packte Hannah an der Hand.

»Er ist mir nachgegangen, Hannah. Ich wollte nur ein bisschen an die Luft und die Sterne angucken und nach dem Geisterschiff Ausschau halten. Aber dann ist er hinter mir her und ich bin gerannt, bis es nicht mehr weiterging, schließlich bin ich geklettert.«

Hannah sah ihn immer noch an.

»Alles.«

Einen Augenblick lang dachte Hannah, er wollte fortgehen. Aber dann legte er sich bäuchlings auf das Vorderdeck, schob sich mit dem Oberkörper über den Rand und streckte seine Hand nach ihnen aus.

Hannah reckte ihrerseits den Arm in die Höhe, schlang den anderen um Molly und hüpfte hoch. Dr. Ullathorne bekam sie zu fassen und zog.

In diesem Moment stürzte wieder eine Riesenwelle auf sie herab. Aber der Doktor ließ nicht locker und hievte sie auf das Vorderdeck hinauf.

Hannah sah nach unten. Die kleine Plattform, auf der sie eben noch gestanden hatten, war jetzt vom Wasser überspült, das gierig ins Meer zurückströmte. Hannah erschauderte bei der Vorstellung, dass sie und Molly beinahe mit hinausgespült und auf dem Grund des Meeres gelandet wären.

Nach Luft ringend blieb sie eine Weile auf dem Deck liegen und versuchte ihre Tränen zu unterdrücken. Dann rappelte sie sich auf und trat vor den Doktor. Sogar durch den Sturm hindurch konnte sie sein stinkendes Fleisch riechen. Er hatte Molly bereits auf die Beine gestellt und hielt sie an der Schulter fest.

»Danke«, sagte Hannah.

Der Doktor lächelte. Seine Lippen waren so aufgedunsen, dass er seinen Mund nicht mehr schließen konnte.

»Keine Ursache«, sagte er und wandte sich an Molly.

»Komm, meine Kleine.«

Molly drehte sich entsetzt zu Hannah um. Wind und Regen peitschten ihr dicke Haarsträhnen ins Gesicht.

Hannah streckte die Hand nach ihr aus. »Molly, komm jetzt.«

»Das glaube ich kaum«, sagte Dr. Ullathorne.

Hannah starrte ihn verständnislos an. »Wieso, was meinen Sie?«

»Du hast gesagt: Alles, was ich will. Ich will sie. Und keine weiteren Einmischungen mehr. Keine nächtlichen Besuche von deinen Freundinnen. Ich kann Gartside nicht ständig Märchen erzählen.«

Molly versuchte sich loszureißen, aber Dr. Ullathorne hielt sie eisern fest.

»Warum?«, fragte Hannah. »Was wollen Sie denn von ihr?«

»Sie untersuchen«, sagte der Schiffsarzt. »Wenn ich ihre Missbildung beheben kann, kann ich vielleicht auch ein Mittel gegen meine Krankheit finden.«

Hannah wurde übel.

»Aber Sie werden sie umbringen«, rief sie.

»Das ist es mir wert«, entgegnete Dr. Ullathorne ruhig. Dann schlug eine neue Riesenwelle auf das Schiff ein.

Alle drei wurden umgerissen und versuchten sich irgendwo festzukrallen. Als Hannah endlich auf die Füße kam, gelang es ihr, sich zwischen Molly und Dr. Ullathorne zu stellen. Auch der Doktor machte Anstalten aufzustehen, rutschte auf dem nassen Deck aber immer wieder aus.

Das Schiff erklomm einen neuen Wellenkamm und einen Augenblick lang schien es, als schwebe es in der Luft. Dr. Ullathorne hechtete mit klauenartig ausgestreckten Fingern auf Hannah und Molly zu. Hannah holte aus und stieß ihn von sich. Er stolperte und stürzte gegen die Reling.

Das Schiff kippte auf einer rasanten Talfahrt wieder nach vorn und erreichte die Talsohle mit solcher Gewalt, dass Hannah fürchtete, sie würden alle in die Tiefe stürzen und müssten am Meeresgrund zerschellen.

Dr. Ullathorne wurde gegen die Reling zurückgeworfen, die von der Wucht des Aufpralls zerbrach. Er taumelte, verlor das Gleichgewicht und suchte nach etwas, woran er sich festhalten konnte.

Hannah zögerte. Er streckte die Hand nach ihr aus.

»Ich habe dich gerettet«, flehte er.

In diesem Moment wünschte sich Hannah, dass Thomas bei ihr wäre und ihr sagen könnte, was sie tun sollte. Oder Long Meg. Meg hätte gewollt, dass er stirbt. Schick ihn zum Teufel, den Widerling!, hätte sie geschrien.

Aber Long Meg war nicht hier. Niemand war hier außer Hannah. Sie reckte ihr Gesicht dem Sturm entgegen. Der Regen biss ihr in die Augen.

»Verzeih mir, Meg«, sagte sie.

Der Doktor ließ erleichtert los und streckte nun beide Hände nach ihr aus. Hannah machte einen Schritt auf ihn zu und sah ihm in die Augen. Sie packte ihn an den Handgelenken. Das Schiff kippte wieder nach vorn.

»Verzeih mir, dass ich das nicht schon früher getan habe.« Sie gab dem Doktor einen Stoß.

Dr. Ullathorne schrie, aber sein Schrei wurde vom Sturm fortgerissen. Dann war er weg. Der Sturm hatte ihn mit einem Donnergrollen und einem krachenden Blitz verschlungen.

Beim Aufleuchten des Blitzes meinte Hannah auf dem Poopdeck eine Gestalt zu sehen, deren Umrisse sich gegen den tosenden Sturm abzeichneten. Aber als der Blitz verloschen war, war die Gestalt verschwunden.