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Der Nordwind war wild und mürrisch und blies ihnen schon von Weitem kalte Böen entgegen. Scatterheart fragte ihn, ob er das Schloss kenne, das östlich der Sonne und westlich des Mondes liege. »Ja«, brauste der Nordwind, »einmal habe ich ein Espenblatt dort hingeweht. Doch danach war ich so müde, dass ich tagelang keine Böe mehr zustande brachte. Aber ich nehme dich huckepack und wehe dich dort hin.«

Hannah stieg an Deck und atmete tief durch. Es war später Vormittag, eine kühle Brise strich über ihren frisch geschorenen Schädel und leckte die Tränen auf, die sie vergossen hatte, als der Offizier ihr die Haare abrasiert hatte.

Fast alle Frauen saßen auf dem Vorderdeck. Die meisten Männer waren an Land gegangen.

Hannah betrachtete verwundert die Stadt, die sich vor ihr ausbreitete.

Die Derby Ram war in einem breit angelegten Hafenbecken vor Anker gegangen, hinter ihr war das weite Meer und neben ihr hüpften kleine und große Schiffe dicht an dicht auf dem Wasser. Die Stadt lag an einem flachen Küstenstreifen. Es gab Ansiedlungen niedriger Häuser, da und dort ragten weiße Kirchtürme hervor. Dahinter erhob sich abrupt eine Hügelkette, die in ein zerklüftetes Bergmassiv überging. Einer der Berge war oben vollständig eben und sah aus wie ein geköpftes Frühstücksei. Eine weiße Wolke hatte sich wie ein Tischtuch darübergelegt. Überall wucherte üppiges Grün, so kräftig, wie Hannah es noch nie zuvor gesehen hatte. In London wurden die Bäume in geraden Linien angepflanzt, das Gras kurz geschoren und Büsche in hübsche symmetrische Formen gestutzt. Das wilde dunkle Grün dieser Landschaft jedoch hatte etwas Gewaltiges, etwas, das die Stadt zu verschlingen drohte. Die Stadt wies die Vegetation nicht in ihre Schranken, sondern schien sich gegen den erstickenden Wildwuchs verteidigen zu müssen.

»Hannah!«

Molly stürzte auf sie zu, schlang die Arme um sie und barg den Kopf an ihrer Brust. Hannah lachte. Sie war froh Molly zu sehen.

»Deine Haare!«, schrie Molly und starrte sie mit offenem Mund an.

Hannah ging in die Hocke, sodass Molly mit ihren Händen über ihren Schädel streichen konnte.

»Du siehst jetzt aus wie Long Meg«, sagte Molly und biss sich schnell auf die Lippe.

Hannah lächelte. »Nicht wahr?«, entgegnete sie. »Es fühlt sich ganz merkwürdig an, als ob ich einen Arm verloren und dann erst festgestellt hätte, dass ich die ganze Zeit zwei gehabt habe. Aber jetzt setz dich, ich muss dir nämlich etwas sagen.«

Molly kniete sich neben sie und hielt ihre Hand. Sie hob den Kopf, ihr eines Auge glitzerte wie das Meer. Die eigenartige, wächsern wirkende Haut, die Hannah früher abstoßend gefunden hatte, kam ihr jetzt glatt und einzigartig vor.

»Ich möchte dir ein Märchen erzählen«, sagte Hannah.

»Was für ein Märchen?«, fragte Molly.

Hannah sah sich selbst, wie sie sich in den Chintzsessel in ihrem Haus in London kuschelte.

»Ein Märchen, das mir mein Hauslehrer einmal erzählt hat. Er heißt Thomas Behr und die Geschichte handelt von einem Mädchen, das alle Scatterheart nannten.«

Molly legte die Stirn in Falten. »So ein blöder Name«, sagte sie.

»Nun, sie hieß Scatterheart, weil sie so flatterhaft war. Sie verschenkte ihr Herz zu leicht und zu oft. Als würde sie es in alle Winde verstreuen.«

»Aber es ist doch schön, seine Liebe zu verschenken.«

»Ja, schon«, sagte Hannah, »aber nicht, wenn man sie Personen schenkt, die sie nicht verdient haben.«

»Wie bei Geschenken. Wenn man jedem etwas schenkt, bedeutet es eigentlich nicht mehr viel. Wenn man aber nur einer Person etwas schenkt, dann ist es etwas Besonderes.«

Hannah musste an die Ohrringe denken, die sie von ihrem Vater bekommen hatte. Molly starrte auf die Planken und fuhr mit den Fingern über die Maserung. Hannah überlegte, ob Molly je ein Geschenk erhalten, sich je als etwas Besonderes hatte fühlen dürfen.

Längsseits legte die Barkasse der Derby Ram an, im Schlepptau eine schwimmende Plattform, die mit braunen Holzfässern beladen war. Seile wurden herabgelassen, dann hievten die Matrosen die Fracht zum Oberdeck hinauf. Der Bootsmann schlug das erste Fass an. Es war voll mit frischem Wasser.

»Auf geht’s, meine Damen«, rief er augenzwinkernd, »es wird Zeit, dass Sie Ihr Gewerbe ausüben.«

Hannah blickte ihn verständnislos an, aber die meisten der anderen Frauen schienen zu wissen, was er meinte. Die wenigen Matrosen, die die Fässer gebracht hatten, verzogen sich, bis schließlich nur noch die Frauen auf dem Oberdeck waren.

Die Tür zur Messe wurde aufgemacht und die Fässer hineingerollt. Dann wurde der riesige Kupferkessel über dem Herd mit Wasser gefüllt.

Weitere Fässer wurden geöffnet und die Frauen tranken, bis sie nicht mehr konnten. Das Wasser schmeckte kühl, samtweich und süß, besser als die beste Limonade in Vauxhall. Hannah trank und trank, bis sie meinte platzen zu müssen. Und Molly war so gierig, dass ihr Bäuchlein richtig anschwoll und sie einen Schluckauf bekam.

»Und wie ging es weiter? In dem Märchen?«, fragte sie. Hannah erzählte ihr von Scatterheart und ihrem Vater. Von dem weißen Bären, der um ihre Hand angehalten hatte, und von der langen Reise zum Schloss.

Molly machte große Augen, als sie von dem prächtigen Eisschloss, den weißen Seidenlaken und dem köstlichen Festmahl hörte.

»Was hat sie gegessen?«, fragte sie eifrig.

»Ach, einfach alles«, antwortete Hannah. »Geschmortes und Gesottenes, gebratene Hühnchen, die kaum größer als Spatzen waren, junge Heringe und Pastinaken, Fasanenpasteten, eingelegten Stör, Rosinen und kandierte Orangenblüten.«

»Und Mangos auch?«, fragte Molly.

Hannah lachte.

»Bestimmt auch Mangos.«

Von den unteren Decks kamen immer mehr Frauen herauf. Sie waren mit schmutziger Wäsche, Hängematten und allen möglichen Stofffetzen beladen. Alles starrte vor Dreck, denn es war seit Monaten nur im Meerwasser ausgespült worden. Auf dem Oberdeck wuchs ein stattlicher Berg von Kleidungsstücken, der einen muffigen, säuerlichen Geruch verbreitete.

Als das Wasser kochte, wurden die Kleider in den Kessel geworfen und mit einem Schürhaken hin und her bewegt. Dann wurden sie tropfnass und dampfend herausgezogen und an wartende Frauen weitergereicht, die sie zu einer freien Fläche auf Deck brachten, wo sie sie auf die hölzernen Planken schlugen.

Hannah bekam ein nasses Leinenhemd in die Hand gedrückt und machte es den anderen Frauen nach. Sie klatschte es auf die Planken, dass es herrlich knallte und ihr das heiße Wasser ins Gesicht und auf die Arme sprühte. Braunes Schmutzwasser floss in langen Bächen über das Deck und an den Seiten des Schiffs herab, und die Frauen schrubbten, kochten und droschen die Kleider, bis alles sauber war.

Während der Arbeit erzählte Hannah Molly von dem Garten und der kleinen weißen Tür, die Scatterheart niemals öffnen sollte.

»Und, hat sie sie geöffnet?«, fragte Molly und wrang ein Leinenhemd aus.

»Natürlich«, antwortete Hannah, »das ist im Märchen immer so.« Dann erzählte sie, wie Scatterheart die blaue Frucht aß und der weiße Bär daraufhin verwünscht und in das Schloss östlich der Sonne und westlich des Mondes verbannt wurde.

»Dann ist er eigentlich gar kein Bär?«, fragte Molly.

»Nein«, sagte Hannah und seufzte, »in Wirklichkeit ist er ein Prinz.«

»Und wer hat ihn verzaubert?«

»Eine Hexe.«

»Warum?« Molly wollte es ganz genau wissen.

Hannah zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich hat sie ihn nicht sehr gemocht. Vielleicht wollte er sie nicht heiraten.« Molly nickte. »Und macht sich Scatterheart auf den Weg, um ihn zu retten?«

»Nein«, sagte Hannah, »nicht gleich.«

»Warum nicht?«

»Weil sie so flatterhaft ist. Sie interessiert sich eigentlich für niemanden außer sich selbst.« Hannah schämte sich und spürte einen dicken Kloß in ihrer Kehle. Sie biss sich auf die Lippe. »Sie möchte nach Hause zu ihrem Vater, aber sie verirrt sich.«

Sie arbeiteten viele Stunden lang, nur am Nachmittag machten sie eine Pause mit frischem Brot und Käse. Das Essen wurde ihnen von einem fremdartigen, schokoladenbraunen kleinen Jungen in einem winzigen Ruderboot gebracht. Der Junge hatte nur eine kurze Hose an, seine nackten Arme und Beine waren dünn wie Streichhölzer. Als Hannah das Brot und den Käse sah, fiel ihr ein, dass sie auf halbe Ration gesetzt war. Aber der Bootsmann gab ihr ein Zeichen und sie durfte wie die anderen zulangen.

Molly lauschte gespannt, als Hannah ihr von der alten Frau aus Sägespänen mit der Kupfereichel und von der Glasfrau mit der Silbereichel erzählte. Als Hannah an die Stelle mit dem Wachskind und der goldenen Eichel kam, zappelte Molly aufgeregt.

»Das bin ich!«, rief sie stolz.

Hannah berichtete von dem durchtriebenen Ostwind und seinem Bruder, dem Westwind, und wie Scatterheart beinahe in der Wüste gestorben wäre, aber im letzten Moment ein grünes Tal entdeckte, wo sie auch das Schloss des weißen Bären fand.

»Und war der Bär da?«, fragte Molly.

»Nun«, antwortete Hannah, »im Schloss war ein Tisch mit einem Festmahl gedeckt und am Kopf des Tisches saß ein schöner Prinz.«

»Und, ist er das? Ist er endlich erlöst?«

»Nein«, fuhr Hannah fort, »Scatterheart glaubt, er sei es, aber dann merkt sie, dass alles nur Betrug ist.«

»Aber wer ist der Prinz?«, fragte Molly.

Hannah seufzte und das Herz wurde ihr schwer.

»Das ist nicht wichtig.«

Dann erzählte sie Molly vom Südwind und vom Nordwind und wie der Nordwind Scatterheart versprach, sie zum Land östlich der Sonne und westlich des Mondes zu bringen. Schließlich war die Pause um und sie machten sich wieder an die Wäsche.

Die Stimmung war aufgekratzt. Molly flitzte zwischen den Frauen hin und her, die ihr die sauberen Wäschestücke gaben, damit sie sie an der Reling aufhängte. Eine Frau stimmte ein Seemannslied an, die anderen fielen mit ein und schlugen die nassen Kleider im Takt der Melodie auf die Planken.

Wildes, schäumendes, brausendes Meer,
rollende Wogen, von wo kommt ihr her?
Pfeilschnelle Möwen, was sagt euer Schrei?
Endloses Meer, nur auf dir bin ich frei.
Wiegt mich, ihr Wogen, und singt mir ein Lied!
Stolz unser Schiff in die Ferne zieht
.

Hannah sang auch mit. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Sorgen mit dem Schmutzwasser über Bord flossen.

Jetzt würde alles gut werden. Sie würde sich von James fernhalten und bald würden sie in New South Wales ankommen. Und dort im Hafen würde Thomas auf sie warten. Sie stellte sich vor, wie er sie erblickte, rot wurde, seine Brille abnahm und etwas stammelte. Wie sie seine Hand ergriff und in seine Augen schaute. Sie würden sich ohne Worte verstehen. Wenn er sie an sich drückte, würde sie etwas Hartes an ihrer Brust spüren. Und dann würde sie genauer hinsehen und entdecken, dass seine Offiziersuniform mit Auszeichnungen übersät war. Thomas hatte sich im Marinedienst hervorgetan, denn er hatte unvorstellbaren Mut und Einfallsreichtum im Kampf gegen Piraten, Seeungeheuer und andere Gefahren auf See bewiesen. Er hatte eine stattliche Belohnung erhalten und er würde sie mit nach London nehmen und ihre Haare würden wieder wachsen. Sie würden zwar kein großes Haus in Mayfair beziehen, wie Hannah es sich erträumt hatte, aber sie würden ein glückliches und behagliches Leben führen. Sie wären immer noch ehrbare Leute, die auf Gartenfeste gingen und in Vauxhall Gardens das Feuerwerk ansähen.

Molly schlitterte lachend über das nasse Deck. Die Sonne ging hinter den grünen Bergen unter und der Himmel strahlte in einem tiefen Rot.

»Wir sollten den Nordwind bitten, dass er unsere Wäsche trocknet«, rief sie außer Atem.

Hannah betrachtete ihr leuchtendes Auge und ihr wächsernes Gesicht. Was würde mit Molly geschehen, wenn sie nach New South Wales kämen? Hannah versuchte ohne Erfolg, sie sich mit Thomas in einem adretten Häuschen in London oder auf diversen Gartenfesten vorzustellen. Und wenn Hannah sie zum Feuerwerk oder zu den Seiltänzern in Vauxhall mitnähme, würden die Leute wahrscheinlich denken, sie gehöre zu den Schaustellern.

»Was passiert dann?«, fragte Molly.

Hannah schaute sie abwesend an und überlegte, wo Molly einen Platz für sich finden könnte.

»Mit Scatterheart, meine ich«, sagte Molly. »Findet sie das Land?«

»Ja«, antwortete Hannah.

»Und ist der Bär auch da?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Es gibt dort einen großen See, ein Feld mit lauter Nägeln und einen Berg aus Glas …« Sie sprach nicht weiter.

»Und dann? Findet sie den Bären?«

Hannah schwieg. Sie blickte auf ihre Hände, die vom Wäschewaschen weiß und runzelig geworden waren. Dann sah sie über das Meer, das mit dem Einbruch der Nacht tintenschwarz wurde. Sie sah zu den fremden Sternen hinauf und suchte vergebens nach dem Großen Bären.

»Hannah?«, fragte Molly. »Hat sie ihn gefunden?«

Hannah schaute Molly nachdenklich an.

»Ich … ich habe es vergessen. Ich weiß nicht mehr, wie die Geschichte weitergeht.«