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Der Nordwind hatte gerade noch genug Kraft, Scatterheart auf den verlassenen Strand einer fernen Küste fallen zu lassen.

Nachdem Hannah und Molly wieder im Orlopdeck waren, verlor Hannah ihre Selbstbeherrschung und begann vor Kälte und Entsetzen am ganzen Leib zu zittern. Jedes Mal wenn sie ihre Augen zumachte, erschien ihr das Gesicht des Arztes, als er über Bord gerissen wurde. Sie stellte sich vor, wie ihm das Wasser in Mund und Nase drang und ihn nach unten zog.

Molly war ganz still und klammerte sich an Hannah. Sie warteten darauf, dass ein Geschrei losbräche, sobald festgestellt wurde, dass der Arzt nicht mehr da war. Hatte sie jemand gesehen? Hatte auf dem Poopdeck wirklich jemand gestanden und sie beobachtet? Vielleicht würde man sie hängen, weil sie einen Offizier getötet hatte. Hannah zitterte, bis sie vor Erschöpfung in einen unruhigen Schlaf fiel.

Als sie am nächsten Morgen aufwachte, herrschte eine eigenartige Stille und das Schiff bewegte sich kaum. Die Frauen unterhielten sich leise und mit ernsten Gesichtern. Molly war auch dabei, aber als sie sah, dass Hannah wach war, kam sie zu ihr.

»Einer der Offiziere ist tot«, berichtete sie. »Der Kleine, der noch kleiner war als ich.«

»Bracegirdle?«, fragte Hannah.

Molly nickte.

»Irgendetwas war nicht richtig befestigt gewesen und ist im Sturm über Deck gerollt und hat ihn zerquetscht.«

»Und Dr. Ullathorne?«, fragte Hannah ruhig. »Hat ihn jemand erwähnt?«

Molly nickte wieder. »Jemand ist runtergegangen, um einen Verband zu holen, aber er war nicht da. Er soll über Bord gegangen sein.«

Hannah schloss die Augen. Es war vorüber. Er war fort.

»Wir müssen nach oben«, sagte Molly. »Zur Bestattung.«

Vor dem Frühstück versammelten sich alle auf dem Oberdeck. Die Offiziere hatten ihre Ausgehuniformen an und die Matrosen ihre Kappen aufgesetzt. Captain Gartside stand an der Steuerbordreling. Er hatte eine Bibel in der Hand und trug seine komplette Kapitänsuniform. Neben ihm ragten zwei Holzplanken über das Wasser hinaus, die von jeweils zwei Matrosen gehalten wurden. Auf der einen Planke lag der Leichnam von Bracegirdle, der in seine Hängematte eingenäht worden war. Hannah hörte Patty erzählen, dass der letzte Stich durch die Nase des Seemanns geführt wurde, um sicherzugehen, dass er wirklich tot war. Die Hängematte war mit zwei Kanonenkugeln beschwert, damit der Leichnam auch wirklich unterging. Über dem Bündel war eine rote Fahne drapiert.

Auf der anderen Planke befand sich ein Gebinde aus Hanfseilen, da der Leichnam von Dr. Ullathorne nicht geborgen werden konnte. Auch dieses war mit einer roten Fahne geschmückt.

Das Schiff war gestoppt worden und schaukelte leise auf dem Wasser. Die blau-roten Flaggen standen auf halbmast. Captain Gartside nickte dem Bootsmann zu, worauf dieser seine hohle Hand an den Mund legte und rief: »Alle Mann Hut ab!«

Die Offiziere und Matrosen zogen ihre Hüte. Die Frauen neigten die Köpfe und falteten die Hände.

Captain Gartside schlug die Bibel auf und las laut vor.

»Ich sagte«, begann er, »ich will auf meine Wege achten, damit ich nicht sündige mit meiner Zunge. Ich legte meinem Mund einen Zaum an. So blieb ich stumm und still. Heiß wurde mir das Herz in der Brust, bei meinem Grübeln entbrannte ein Feuer.«

James stand links vom Captain. Er schaute Hannah unverwandt an. Dann blickte er kurz auf den Hanfkranz und warf Hannah danach ein eigenartiges Lächeln zu.

Wusste er etwas? Sie sah starr auf ihre Hände und versuchte ihre Panik zu verbergen.

»Nur wie ein Schatten geht der Mensch einher, um ein Nichts macht er Lärm. Er rafft zusammen und weiß nicht, wer es einheimst.«

Hannah schloss die Augen und wünschte, sie wäre bei Thomas. Sie dachte daran, wie schlecht sie ihn behandelt hatte. Keinen Deut besser als James war sie gewesen. Sie schaute wieder zu ihm hinauf. Er sah sie immer noch unentwegt an.

»Wie im Anfang, so auch jetzt und alle Zeit und in Ewigkeit. Amen.«

Captain Gartside klappte die Bibel zu und blickte über das Meer. Alle warteten, dass er etwas sagen würde.

Hannah stiegen Tränen in die Augen. Warum hatte Long Meg keine Seebestattung erhalten? Warum hatten die Matrosen nicht vor ihr den Hut gezogen und sich verneigt? Hannah fragte sich, was mit ihrem Leichnam geschehen sein mochte, und stellte sich vor, wie Dr. Ullathorne und James ihn mitten in der Nacht über die Reling geworfen hatten.

Captain Gartside seufzte und wandte sich an die Versammelten. »Somit übergeben wir ihre Leiber der Tiefe und der Verwesung anheim, auf dass sie wieder auferstehen mögen, wenn die See ihre Toten entlässt. Asche zu Asche, Staub zu Staub. Der Herr segne sie und behüte sie.«

»Amen«, murmelten die Männer und Frauen.

»Amen«, sagte Hannah bitter und dachte an Long Meg. Die vier Seeleute, die die Planken festhielten, kippten sie hinten hoch und hielten gleichzeitig die Enden der Flaggen fest. Der eingenähte Leichnam und der Hanfkranz rutschten nach unten und schlugen platschend auf den Wellen auf. Der Kranz hüpfte auf der Wasseroberfläche, der Leichnam aber wurde sofort in die Tiefe gezogen.

Drei Tage waren vergangen, als Hannah eines Morgens von Rufen geweckt wurde. Sie kamen von den Männern an Deck. Über sich hörte sie Fußgetrappel.

Sie lauschte angestrengt, konnte aber nichts verstehen. Auch die anderen Frauen waren aufgewacht und spitzten die Ohren. Susan, die der Treppe zum Kanonendeck am nächsten lag, stieß einen heiseren Schrei aus.

»Land ahoi«, sagte sie aufgeregt. »Sie rufen ›Land ahoi‹.«

Da kannten die Frauen kein Halten mehr und drängten hinauf an Deck. Hannah schlängelte sich zwischen den Frauen und Seeleuten durch und kletterte, Molly immer im Schlepptau, zum Vorderdeck hinauf. Sie vermied es, die Stelle anzusehen, wo der Arzt über Bord gegangen war, und beugte sich, so weit sie konnte, über die Reling. Am Horizont zeichnete sich ein dunkler Schatten ab. Hannah brach in Tränen aus.

Der Fleck am Horizont war nicht Port Jackson, sondern Van-Diemens-Land, das den südlichsten Punkt des neuen Kontinents bildete. Bis Port Jackson würde es noch einmal drei Wochen dauern, erklärte ihnen Dollard, der Steuermann. Trotzdem, der Fleck bedeutete, dass sie den Atlantik und den südlichen Ozean überquert hatten. Sie befanden sich nun im Land hinter den Meeren.

Das weiße Gesicht von Dr. Ullathorne verfolgte Hannah bis in ihre Träume. Sie versuchte, nicht daran zu denken, und konzentrierte sich auf ihr Traumbild von der Ankunft in Port Jackson und der Wiedervereinigung mit Thomas. Ihre Erzählungen von Mr Bärs Abenteuern wurden immer fantastischer. Manchmal stellte sie sich sogar vor, dass Thomas sie auf dem Rücken eines weißen Elefanten empfinge. Sein Kopf war mit Blumenkränzen geschmückt, die ihm von dankbaren Eingeborenen geschenkt worden waren, nachdem er ihr Dorf vor plündernden Banditen gerettet hatte.

»Und was hat Mr Bär gemacht, nachdem er im Eingeborenendorf war?«, fragte Molly. Sie saßen spätabends noch auf ihren Betten und plauderten.

Hannah gähnte. »Ach, das hat etwas mit einem Vulkan zu tun.«

»Was?«

»Er … äh … er hatte eine Schatzkarte, die ihn zu einem unermesslichen Schatz in einem Vulkan geführt hat.«

»Und ist ihm was passiert?«

»Aber nein«, erwiderte Hannah. »Ihm wurde nicht mal ein Haar gekrümmt.«

»Und wann hat er die Hexe getroffen?«, fragte Molly weiter.

»Welche Hexe?«

»Na, die Hexe, die ihn in einen Bären verwandelt und ihn in das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes verbannt hat.«

Hannah schüttelte den Kopf. »Aber das ist doch eine ganz andere Geschichte. Und ein anderer Bär.«

»Nein«, protestierte Molly, »es ist immer derselbe Mr Bär. In beiden Geschichten.«

Es dauerte drei Wochen, bis aus dem Fleck am Horizont wirklich Land wurde. Hannah zählte die Kerben über Megs Bett – sie waren fünf Monate auf See gewesen.

Die gefangenen Frauen standen auf den oberen Decks und beugten sich über die Reling oder spähten durch die Geschützpforten. Alle hatten Bündel unter den Armen, die ihre Decken und wenigen Habseligkeiten enthielten. Hannah hatte ihre Decke im Orlopdeck zurückgelassen. Sie brauchte sie nicht, denn Thomas würde ein anständiges Bett für sie haben.

Ihr einziger Besitz war sein sauber zusammengefaltetes Taschentuch, ein schmuddeliges, ausgefranstes Stück Stoff, das Hannah jedoch behutsam und zärtlich in ihrer Hand behielt.

Die Sonne schien hell und warm, auch wenn der Wind immer noch kühl war. Der salzige, frische Seegeruch vermischte sich mit einem anderen, würzig, scharf und stechend. Die gefangenen Frauen jubelten und weinten zugleich. Hannah presste Mollys Hand so fest, dass diese sich jammernd wand.

Hannahs Augen schmerzten von der gleißenden Sonne auf dem blauen Wasser. Sanfte Hügel wellten sich bis zum Ufer hinab, ein graugrünes Pflanzendickicht, das Hannah an eine undurchdringliche Dornröschenhecke erinnerte. Darüber ragten seltsame Bäume mit spiralartigen Ästen und glatter, fleischfarbener Rinde auf, deren Stämme Ausbuchtungen und Vertiefungen hatten, die wie menschliche Gliedmaßen aussahen. Manche machten den Anschein, als würden sie grüßend ihre Arme ausstrecken. Andere waren wie Liebende ineinander verschlungen.

Befehle ertönten und Matrosen drängten sich durch die wartenden Frauen. Die Pfeife des Bootsmanns schrillte, die Leinen wurden gelockert und das Steuerrad so lange gedreht, bis sich die Derby Ram langsam auf die graugrünen Hügel zubewegte.

Das Meer drückte gegen das Ufer, schob sich ins Land hinein und wurde zu einem Fluss, der sich wie eine Schlange um jede weiße Strandkrümmung und grüne Einbuchtung wand, bevor er weiterzog und sich immer tiefer zu den blaugrauen Bergen im Westen hin grub.

Molly beugte sich waghalsig über die Reling, hinter ihr auf dem Deck lag das Bündel mit ihrer Decke.

»Sieh nur, Hannah!«, schrie sie. »Das ist wie im Paradies.« Auf den gewundenen Zweigen hockten Hunderte von rosa und grauen Vögeln. Als das Schiff näher kam, erhoben sie sich und flogen heiser krächzend in geschlossener Formation davon.

Hannah lachte.

»Ich glaube nicht, dass Paradiesvögel so einen Lärm machen würden«, sagte sie.

Molly kicherte.

Hannah empfand ein überwältigendes Gefühl von Frieden in ihrem Herzen. Endlich. Thomas würde sie erwarten und alles würde gut werden.

Molly lächelte versonnen. »Hannah, wir haben es geschafft«, flüsterte sie, »östlich der Sonne und westlich des Mondes.«

Hannah schaute neugierig hierhin und dorthin. Sie wollte die Bucht von Sydney sehen, wo Thomas in seiner Uniform auf sie wartete. Sie würde ihn unter den vielen jubelnden Schaulustigen sofort erkennen. Und er würde das Missverständnis um ihre Verhaftung aufklären. Sie würde freikommen.

Sie näherten sich einer Landspitze mit einem gepflegten Rasen und ordentlich gestutzten Büschen und Bäumen. Auf einer Steinbank saß eine Frau, die sich mit einem Schirm vor der Sonne schützte. Sie hatte ein vornehmes, wenn auch ein wenig altmodisches Kleid mit Umhang an. Hannahs Herz klopfte so laut, dass sie meinte, die Frau müsste es hören.

Sie umrundeten die Landspitze und dann sah Hannah die Bucht von Sydney in ihrer ganzen Größe. Die Stadt war eigentlich keine richtige Stadt, nur ein paar gelbe, von Äckern umgebene Steinhäuser waren zu erkennen, und dahinter lag der Wald. Das Städtchen wurde von einem Fluss in zwei Hälften geteilt.

Hannah konnte kaum stillhalten. Sie strich ihr graues Leinenkleid glatt und kniff sich in die Wangen. Ihre Haare waren schon wieder mehrere Zentimeter lang gewachsen. Sie versuchte sie hinter ihre Ohren zu stecken und wünschte, sie hätte einen richtigen Spiegel und ein paar Bänder gehabt, um sich schön zu machen.

Als das Schiff schließlich am Kai anlegte, hielt Hannah nach Thomas Ausschau. Die jubelnde Menge aus ihrem Traum war nicht da. Nur ein paar gelangweilt blickende Offiziere und eine Handvoll Hafenarbeiter, die beim Ausladen helfen sollten.

Thomas war nirgends zu entdecken.

Rufe ertönten, dann ein Kreischen und Platschen, als der Anker ins Wasser fiel. Ein Landungssteg wurde auf den Kai gelassen und Captain Gartside ging, von einigen Offizieren begleitet, von Bord. Sie wechselten ein paar Worte mit den wartenden Männern, dann drehte sich der Captain um und gab den Offizieren, die auf der Derby Ram geblieben waren, ein Zeichen.

»Meine Damen«, rief der Bootsmann, »in einer Reihe aufstellen. Nicht drängeln.«

Die Frauen schoben sich den Laufsteg hinab. Hannah und Molly waren am hinteren Ende der Schlange. Dann stand Hannah am Kai und wandte sich suchend um.

Er war nicht da.

Ihr war, als würden die Holzbohlen des Kais unter ihr schwanken und wegrutschen. Ihr wurde schwindelig und schummerig vor den Augen. Sie hatte sich alles so genau ausgemalt. Sie und Thomas, die sich in die Arme fielen, die vor Freude weinten und lachten. Wie zum Hohn sah sie wieder und immer wieder diese Szene vor sich.

Er war nicht da.

Molly zog sie am Arm.

»Vielleicht hat er sich verspätet«, sagte sie.

Hannah nickte und schluckte. Sie knetete das Taschentuch in ihrer Hand. Panisch versuchte sie sich ihr letztes Gespräch mit Thomas in Erinnerung zu rufen. Hatte er wirklich gesagt, er führe nach New South Wales? Und wenn er gar nicht da war? Wenn er in London geblieben war? Wenn er in Frankreich gegen Napoleon kämpfte? Oder wenn man ihn nach Afrika oder China geschickt hatte?

»Komm endlich«, sagte Molly noch einmal und zog wieder an ihrem Arm.

Hannah machte einen Schritt, dann wurde ihr schwarz vor Augen. Der Kai schien unter ihr wegzurutschen und ihr Fuß trat ins blanke Nichts. Sie stolperte und fiel der Länge nach auf den Boden.

Starke Hände fassten sie von hinten und hoben sie hoch. »Du musst deine Beine wieder an festen Boden gewöhnen«, sagte eine Stimme. Hannah erinnerte sich, dass diese Arme sie auf die Derby Ram getragen, dass diese Stimme mit ihr gesprochen hatte. Sie drehte sich um. Es war James, der sie liebevoll anlächelte, als sei niemals ein böses Wort zwischen ihnen gefallen. Hannah bemerkte die frische weiße Narbe an seinem Finger, wo sie ihn gebissen hatte. Heiße Tränen brannten in ihren Augen, sie kniff sie schnell zusammen. Ihre Kehle war vor Kummer und Enttäuschung wie zugeschnürt. Er war nicht da. Er war nicht gekommen.

Sie taumelte vorwärts. James’ Hand lag auf ihrer Schulter. Der Boden unter ihren Füßen schaukelte und schwankte unaufhörlich. Das Licht war so grell, dass Hannahs Kopf heftig schmerzte.

Durch einen Tränenschleier hindurch nahm sie breite, unbefestigte Straßen wahr, die rechts und links von sandfarbenen Häusern gesäumt waren und auf denen Pferdekarren und leichte Kutschen rumpelten. Am Rand der kleinen Stadt standen armselige Hütten aus Flechtwerk und Lehm. Hannah bemerkte auch ein paar primitive Schuppen, die sich unter die grauen Felsüberhänge der Hügel duckten. Zwischen den Felsen und Hütten rannten barfüßige Kinder umher. Sie machten einen wilden und ungepflegten Eindruck und Hannah erinnerte sich an die zerlumpten spielenden Jungen und Mädchen, die sie in London gesehen hatte und die ihr nun im Vergleich zu diesen finsteren Gestalten wie wohlerzogene Kinder aus gutem Hause vorkamen.

Vor einer Hütte stand ein Mann, der bis auf einen Lendenschurz und eine Art Fellumhang nichts anhatte. Seine Haut war kohlrabenschwarz. Er beobachtete Hannah und sie erschrak, weil das Weiß seiner Augen so stark hervortrat. Der Mann grinste. Es war ein herausforderndes, bedrohliches Grinsen. Und seine Zähne blitzten so weiß, wie Hannah es noch nie gesehen hatte.

Die Stadt war von sanft ansteigenden Hügeln umgeben, die von einem wolligen graugrünen Bewuchs bedeckt waren, der wie ein Schafsfell aussah. In der Luft hing ein intensiver erdiger Geruch.

Irgendwo in ihrem Herzen wartete Hannah immer noch darauf, dass Thomas plötzlich hinter einem der Häuser auftauchen oder auf einem nass geschwitzten Pferd herbeigaloppieren würde. Aber ihr Verstand sagte ihr, dass er nicht käme. Sie blieb stehen, denn es war ihr unmöglich, weiterzugehen.

Der Boden unter ihr drehte sich. Der Kloß in ihrem Hals schwoll an und raubte ihr die Luft zum Atmen.

»Es ist gut, Hannah«, beruhigte James sie. »Ich bin bei dir. Du bist einfach landkrank.«

Hannah wandte sich zu ihm um. Er sah blendend aus wie immer. Seine Augen waren groß und sanft, seine Haut weiß wie Schnee.

James lächelte sie an. »Hannah?«, sagte er zärtlich.

Der Kloß in ihrem Hals wurde riesengroß. Sie rang nach Luft, hustete krampfhaft und erbrach bittere Galle auf den staubigen Erdboden. Ein säuerlicher Geruch stieg auf, der sie beinahe überwältigte.

Sie stolperte hinter den anderen Frauen her, die am Ende des Kais auf mehrere flache Kähne verteilt wurden.

»Wohin bringt man uns?«, flüsterte Molly ängstlich. »Sind wir denn noch nicht da?«

»Nein«, erwiderte James, »ihr werdet flussaufwärts zu einer Stadt gebracht, die Parramatta heißt. Dort kommen alle unverheirateten Frauen hin.« Erfasste Hannah am Arm. »Hannah, das muss nicht sein. Es ist noch nicht zu spät.«

Sie wand sich schweigend aus seinem Griff und kletterte auf den Kahn. Anschließend beugte sie sich vor und half Molly hinein.

»Ich werde dich holen, Hannah«, sagte James. »Keine Sorge.«

Hannah blickte nicht zurück, als der Kahn ablegte und Sydney langsam hinter sich ließ.

Der Fluss glänzte silbrig und in seinem Wasser spiegelte sich das Dickicht aus Grau, Grün und Braun wider, das sich gierig an seinen Ufern ausbreitete. Braungoldene Felder, auf denen wie helle Tupfer vereinzelte Schafe standen, zogen sich weit in das Land hinein. Dahinter erhoben sich sanfte Hügel, die in ein imposantes Gebirge übergingen. Von den Bäumen stiegen kreischende Vogelschwärme in die Luft, die wie flügelschlagende, bunt schillernde Wolken aussahen, wenn sie auf der Suche nach einem friedlichen Platz über den Himmel glitten. Hannah jedoch kam alles düster und leer vor. Der gallige Geschmack in ihrem Rachen wollte nicht weichen.