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Scatterheart bedankte sich nicht bei der Glasfrau. Sie nahm die Silbereichel und wanderte weiter, bis sie wieder an einen Felsen kam. Dort, auf einem Fleckchen Gras, saß ein Kind, das war ganz aus Wachs. Es warf eine goldene Eichel in die Luft und fing sie wieder auf. Scatterheart fragte es, ob es wisse, wie sie zu ihres Vaters Haus komme.

Hannah wachte von einem Stöhnen auf. Zuerst dachte sie, es sei Long Meg, von ihrer Verbannung im Takelwerk endlich befreit. Aber Megs Bett war leer.

Hannah setzte sich auf und sah sich suchend um. Es war ein leises, eintöniges Stöhnen. Ihr Blick blieb an Sally hängen, der bleichen Schwangeren aus Newgate. Sie war die ganze Zeit über seekrank gewesen und hütete seit der Abfahrt das Bett. Ihr Bauch war mittlerweile zum Platzen dick und sie stöhnte und wimmerte. Eine wässrige Flüssigkeit sickerte in ihre Matratze.

»Was ist mit ihr los?«, fragte Hannah.

Cathy drehte sich zu ihr um und zeigte auf ihren Bauch.

»Es ist so weit.«

»Sie kriegt ihr Kind? Jetzt?«

Cathy nickte. Hannah kletterte aus ihrer Koje.

»Ich hole Dr. Ullathorne«, sagte sie.

Eine Frau zischte: »Untersteh dich, das ist Frauensache. Lass sie einfach in Ruhe.«

Sally schrie vor Schmerzen. Hannah presste die Lippen zusammen und stieg zum Oberdeck hinauf, um nach Long Meg zu sehen.

Hopping Giles war gerade dabei, sie unter Aufsicht des Arztes aus den Seilen zu schneiden. Der bärtige Matrose arbeitete langsam und sorgfältig, damit er Meg nicht aus Versehen mit dem Messer schnitt. Aber dann riss eine der Leinen und sie stürzte mit einem dumpfen Knall auf das Deck, wo sie reglos liegen blieb. Die Leinen hatten sich in ihre Handgelenke und Knöchel geschnitten, die blutunterlaufen und geschwollen waren.

»Wie geht es ihr?«, fragte Hannah den Matrosen.

»Bring sie in den Bau«, befahl Dr. Ullathorne, ohne auf Hannah zu achten.

Giles schaute Hannah kurz an. Sie bemerkte seinen traurigen Blick. Er hob Meg sacht hoch und humpelte mit ihr davon.

»Was kann ich für Sie tun?«, fragte Dr. Ullathorne.

»Meg …«, stammelte Hannah. »Müssten Sie ihr nicht helfen? Ich meine … Sie sind doch der Schiffsarzt …«

Dr. Ullathorne lächelte kalt. »Ich bin hier, um für das Wohl der Mannschaft und der Passagiere zu sorgen. Ihre Freundin ist nicht krank.«

»Aber sie ist ohnmächtig geworden … und ihre Handgelenke …«

»An Ihrer Stelle würde ich schleunigst unter Deck gehen, sonst leisten Sie ihr noch Gesellschaft.«

»Eine der Frauen … sie … sie bekommt bald ihr Kind. Sie braucht Hilfe.«

Dr. Ullathorne fauchte: »Sie glauben doch nicht im Ernst, dass es mich kümmert, ob so ein Sträflingsbastard lebt oder stirbt?«

Hannah verzog sich wieder nach unten.

Sallys Schreie machten sie nervös und unsicher. Sie tastete unter ihrer Matratze nach Thomas’ Taschentuch, um sich zu beruhigen.

Es war nicht mehr da.

Hannah kletterte vom Bett und hob den Strohsack ganz hoch. Es war nirgends zu sehen.

Sally schrie und die anderen Frauen scharten sich um sie. Plötzlich hörte Hannah eine hohe, näselnde Stimme leise singen: »Itzli pitzli Rabenfuß, rate mal, wer suchen muss! Itzli pitzli – buh, nämlich du!«

Hannah raste vor Wut. Sie machte einen Satz und stürzte sich auf Molly, die neben einer der Kojen kauerte. Beide fielen der Länge nach auf den Boden. Molly quiekte.

»Gib es her«, zischte Hannah.

»Gib was her?«, fragte Molly und wand sich ächzend unter Hannahs Gewicht.

»Jetzt spiel nur nicht den Trottel, du Ungeheuer. Wo ist es?«

Molly kicherte. »Du hast ja wohl einen Knacks in der Birne.«

Hannah zog sie an den Haaren. Molly jaulte auf, holte aus und zerkratzte Hannah das Gesicht. Hannah hielt sie noch fester.

»Wo ist mein Taschentuch?«

Molly strampelte. »Ein Taschentuch? Ein Schnupftuch? Ein Nastuch wollte größer sein, da legte man ’ne Leich’ hinein.«

Hannah schüttelte Molly mit aller Kraft.

»Sag, wo es ist!«

Molly prustete verächtlich.

»Ich bring dich um!«, schrie Hannah drohend. »Ich weiß, dass du kein Idiot bist. Gib es sofort her, sonst schüttele ich dich, bis du den Verstand verlierst.«

Mit Tränen in den Augen krabbelte Molly davon und verschwand die Treppe hinauf.

Hannah rappelte sich hoch und riss Mollys Bettdecke beiseite.

Auf der Matratze lag eine kleine Puppe aus geflochtenen Strohhalmen und Taustückchen. Sie war bis zu den Ohren mit Thomas’ Taschentuch zugedeckt, an den Seiten war es ordentlich eingeschlagen. Im ersten Moment empfand Hannah Mitleid. Molly war noch ein Kind, das mit Puppen spielte. Aber dann schob sie ihre Gefühle beiseite und riss das Taschentuch an sich.

Sallys Schreie kamen in immer kürzeren Abständen. Sie keuchte und rang hechelnd nach Luft. Hannah nahm einen intensiven, süßlichen Geruch wahr, der ihr vollkommen unbekannt war. Ihr wurde übel. Sie fühlte sich in dem kleinen, niedrigen Verlies gefangen. Sallys Schreie kamen jetzt ununterbrochen. Das Schiff stampfte und rollte heftig. Hannah flüchtete nach oben zum Vorderdeck.

Draußen war die Luft rein und das Wasser tiefblau. Weiße Wölkchen tanzten am Himmel und es ging ein frischer Wind. Die Segel waren gespannt und trieben das Schiff rasch voran. Hannah ging zur Reling hinüber. Ihre Hände zitterten und sie musste die ganze Zeit an Mollys kleines Puppenbett denken. Aber da kam James auf sie zu. Sie atmete tief durch und strich ihre Haare glatt. James stützte sich an der Reling auf.

»Guten Morgen«, sagte er. »Schauen Sie mal.« Er deutete auf das Meer unter ihnen.

Dunkle Schemen glitten neben dem Schiff her. Auf einmal stieß etwas durch die Wasseroberfläche und Hannah erkannte eine glänzende graue Flosse.

»Delfine«, sagte James. »Sie bedeuten Glück.«

Hannah beobachtete, wie die Tiere aus dem Wasser sprangen und wieder eintauchten und sich dabei genau dem Tempo des Schiffs anpassten.

»Wie wunderschön sie sind«, flüsterte Hannah.

James lächelte. Die Kuppe seines kleinen Fingers strich an Hannahs kleinem Finger entlang. Sie erschrak und ihr wurde seltsam warm.

Als Hannah abends wieder in den Schlaftrakt hinunterkam, war alles still. Sie rümpfte die Nase, denn es roch unangenehm süßlich nach Blut und auch nach etwas anderem, es war ein säuerlicher, fremdartiger Geruch.

Sally lag auf ihrem Bett, die Decke und die Matratze waren blutgetränkt. Sie war sehr bleich, aber sie lebte. Neben ihr lag ein seltsames, runzliges, bläuliches Etwas, das leise wimmerte. Hannah verzog das Gesicht. Es war das Hässlichste, was sie je gesehen hatte. Sally schaute es an und lächelte. Dann schloss sie erschöpft die Augen.

Hannah warf sich auf ihr Lager, streckte sich und gähnte. Eine kleine Gestalt huschte an ihr vorbei, es war Molly. Hannah beachtete sie nicht.

Sie dämmerte gerade in den Schlaf hinüber, als das Bett neben ihr knarrte. Long Meg.

Ihr Kopf war geschoren. Zwei große rote Striemen, aus denen Blut sickerte, zogen sich quer über ihre Wangen. Ein Auge war schwarz und zugeschwollen und ihre Lippe aufgeplatzt.

»Meg!«, rief Hannah. »Wer hat das getan?«

Long Meg schwieg. Sie legte sich hin und drehte Hannah den Rücken zu.