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Scatterheart wanderte einen Tag um den anderen, bis sie zu einem hohen Felsen kam. Dort begegnete sie einer alten Frau, die war ganz aus Sägespänen und spielte mit einer Eichel aus Kupfer. Scatterheart fragte sie, wie sie zu ihres Vaters Haus komme.

Hannah setzte sich kerzengerade auf und stieß sich den Kopf. Sie blickte sich verwirrt um. »Immer mit der Ruhe«, sagte Long Meg und gähnte. »Es ist verdammt früh.«

Um sie herum war alles düster. Durch eine Art Luke in der Decke fiel schwaches Licht. Hannah brauchte eine Weile, bis sie begriff, dass sie sich in einem länglichen Raum mit Bretterwänden, einer niedrigen Decke und offenen Balken befanden. Wo sie hinsah, überall schliefen Frauen in Stockbetten, die die Wände entlang aufgestellt waren. Dazwischen verlief ein schmaler Gang. Am anderen Ende des Raums beleuchtete ein etwas hellerer Lichtkegel eine steile Treppe mit einem Seilhandlauf. Die Frauen lagen auf Strohsäcken mit rauen Hanfdecken. Kissen gab es nicht.

Und alle hatten das Gleiche an: schlichte Kleider aus grobem Köper. Hannah sah an sich herab und stellte fest, dass auch sie in so einem unförmigen grauen Kleid steckte. Sie merkte, dass sie weder Strümpfe noch Unterwäsche trug, und errötete.

Long Meg hatte ebenfalls so ein Kleid an, darüber aber immer noch Hannahs pelzbesetzten Mantel. Er war schmutzig und verschlissen und der Pelz stumpf und abgenutzt.

»Bin ich in der Hölle?«, fragte Hannah. Sie musste laut sprechen, um das eintönige, stetige Stampfen zu übertönen, das von allen Seiten auf sie einzudringen schien. Long Meg lachte. In dem Raum roch es nach Urin und Erbrochenem, genau wie im Gefängnis. Aber hier kamen noch andere Gerüche dazu: modriges Holz, Fisch und Salz. Hannah rümpfte die Nase. Plötzlich kippte der Raum zur Seite und sie fiel rücklings auf ihr Bett. Der Boden unter ihr rumpelte und schwankte. Hannahs Magen spielte verrückt und sie bekam fürchterliche Angst.

»Ich muss nach Hause«, sagte sie und rappelte sich auf.

»Bisschen spät für so was«, entgegnete Long Meg.

Wieder stieß Hannah mit dem Kopf an die niedrige Balkendecke über ihr. Sie bückte sich, stützte sich mit einer Hand ab und krabbelte zwischen den schlafenden Frauen hindurch zu dem weißen Licht am Fuß der Treppe.

Am oberen Ende der Stufen waren in langer Reihe schaukelnde Hängematten befestigt. In manchen schlief jemand, aber die meisten waren leer und ordentlich aufgerollt. Links von Hannah befanden sich sechs geschlossene Türen. Aus der unteren Ebene, von der sie gekommen war, wuchs ein dicker, runder Pfosten, der durch die Holzdecke nach oben verlief. Er sah wie ein Baumstamm aus. Daneben führte eine Treppe noch weiter hinauf. Hannah hielt sich am Seil fest und kletterte hoch.

Auf dieser Ebene war es viel heller. Links von ihr waren wieder sechs Türen und rechts von ihr war … etwas blendend Weißes. Sie ging darauf zu. Hannah stockte der Atem.

Sie war auf einem Schiff.

Sie stand auf einem hölzernen Deck, das zum Wasser hin offen war, darüber befanden sich noch weitere Decks.

Das Schiff war riesig. Männer rannten hin und her, kletterten an den Masten empor und sicherten die Leinen. Über ihr, auf einem der oberen Decks, standen Männer in Uniform und schrien unverständliche Kommandos. Eine schrille Pfeife trillerte.

Hannah blinzelte. Überall waren Leinen gespannt, manche zogen sich bis zu den höchsten Mastspitzen hinauf, liefen über Kreuz und im Kreis wie ein kompliziertes Netz aus Spinnweben. Der Wind fuhr in Hannahs Haare und wehte den dumpfen Fischgeruch fort. Zumindest so weit, dass es nicht mehr unangenehm war.

»Nein«, flüsterte Hannah, »das ist ein Missverständnis.«

»He!«, schrie ein Matrose. »Du darfst hier nicht rauf. Bracegirdle hat noch nicht zum Frühstück geläutet.«

Er packte Hannah am Handgelenk. Seine Arme waren sehr kräftig, trotzdem konnte sie sich losreißen und über das Deck auf die andere Seite rennen, wo lauter runde Löcher den Schiffsrumpf spickten.

Das Schiff rollte über eine Woge. Hannah fiel auf alle viere und schmeckte die salzige Gischt auf ihren Lippen. Sie klammerte sich an die Reling und zog sich wieder hoch. Ihre Verzweiflung machte einem eigenartigen Staunen Platz.

Verblüfft sah sie auf das Meer hinaus.

»Sie sind also aufgewacht«, sagte jemand.

Neben ihr stand ein Mann in Offiziersuniform und mit einem Strohhut. Hannah schätzte, dass er etwas älter als Thomas, aber jünger als ihr Vater war. Um seine Ohren kräuselten sich dunkelbraune Locken, die mit einem schwarzen Samtband zu einem straffen Pferdeschwanz nach hinten gebunden waren. Er hatte eine helle Haut und volle rote Lippen. Seine Augen waren ungewöhnlich blau und von langen dunklen Wimpern eingerahmt.

Der Mann lächelte Hannah an. Sie errötete und sah wieder auf das Meer hinaus. Sie spürte ein angenehmes Kribbeln im Bauch, aber dann erinnerte sie sich, dass sie eine Gefangene war, und ihr fuhr ein Stich in den Magen. Warum sprach er sie überhaupt an?

»Anders als Sie erwartet haben?«, fragte er.

»Es ist blau!«

Der junge Mann lachte. »Was haben Sie denn gedacht?

Rot? Lila?«

Hannah schüttelte den Kopf. »Ich hätte niemals geglaubt, dass es so …« Sie sprach nicht weiter. Sie hatte sich das Meer immer grau vorgestellt, grau wie die Augen von Thomas Behr.

»… so blau ist? Haben Sie etwa noch nie das Meer gesehen?« Das Wasser hatte tatsächlich genau die gleiche Farbe wie die Augen des jungen Offiziers. Hannah blinzelte. Sie waren wirklich sehr blau.

»Nein, noch nie«, antwortete sie.

»Aber Sie kennen es doch bestimmt von Bildern?«

»Natürlich«, sagte Hannah, »aber ich habe gedacht – ich habe gedacht, das wäre nur Kunst … Auf manchen Gemälden ist auch die Themse blau.«

Der Offizier schmunzelte. »Und, wie gefällt es Ihnen?« Hannah blickte über die unendliche Weite des Meeres.

»Es ist erschreckend«, sagte sie schließlich, »und schön.

Und der Himmel ist so …«

»Blau?«, half ihr der Mann.

Hannah nickte. »Ja, sehr blau.«

»Ich heiße übrigens James«, stellte sich der Offizier vor.

»James Belforte, Leutnant zur See.«

»Hannah«, erwiderte Hannah. »Hannah Cheshire, Gefangene aus Irrtum.«

James Belforte tippte grüßend an seinen Hut und sah sie freundlich an.

»Sehr erfreut, Ihre Bekanntschaft zu machen, Hannah Cheshire.« Er verneigte sich. »Und nun verraten Sie mir bitte, was um alles in der Welt eine junge Dame von Stand in so einer schrecklichen Gesellschaft zu suchen hat.«

Hannah seufzte erleichtert.

»Mein Vater …«, setzte sie an, doch dann schüttelte sie den Kopf. »Alles ist schiefgelaufen.«

Tränen stiegen ihr in die Augen.

Der Leutnant lächelte. »Seien Sie beruhigt«, sagte er, »ich werde dafür sorgen, dass Ihnen nichts passiert.«

Hannah errötete. Sie legte den Kopf nach hinten und sog die warmen Sonnenstrahlen auf. Der Wind war frisch und roch sauber und salzig. Hannah atmete tief ein und aus, ihre Angst war vergessen. Sie fühlte sich lebendig wie seit Wochen nicht mehr.

»Ich habe Hunger«, sagte sie über sich selbst überrascht. James lachte. »Frühstück ist in einer halben Stunde. Willkommen an Bord der Derby Ram

»Also, wenn das nicht unsere Lady höchstpersönlich ist. Geruhen Gnädigste mit uns Straßenkötern gemeinsam zu speisen?«, fragte Long Meg grinsend und kämpfte sich mit den anderen Frauen zur Essensausgabe auf dem oberen Deck vor.

Die Frauen stießen und drängelten, um möglichst weit nach vorne zu kommen. Dort stand ein schwitzender stämmiger Mann vor einem großen Kupferkessel, der sich auf einem schwarzen Gusseisenofen befand. Zwei jüngere Männer teilten eine Brühe mit Fleischbröckchen aus.

Hannah wollte sich hinten anstellen, aber Meg packte sie am Arm und zerrte sie mitten ins Getümmel.

»Na macht schon, verzieht euch!«, rief sie und rempelte die anderen Frauen an, die sich ihr wütend und schimpfend in den Weg stellten.

»So viele Menschen«, murmelte Hannah.

Long Meg sah über ihre Schulter.

»Das ist nur die Hälfte«, sagte sie und schob sich energisch an einer anderen Frau vorbei. »Wir sind zweihundertvier Frauen hier, aber nur eine Handvoll Matrosen, die uns nachts warmhalten können. Und wir haben alle einen Bärenhunger.«

Vorne angekommen drückte ihr einer der Männer eine rechteckige Holzschale in die Hand und schöpfte eine undefinierbare Flüssigkeit hinein. Long Meg schaute ihn mit großen Augen an.

»Aber nicht vergessen, Sir. Noch einen Schlag für meine arme, kranke Freundin Hannah. Sie muss immer noch das Bett hüten.«

Der Mann sah Meg misstrauisch an, dann wanderte sein Blick zu Hannah hinüber. Meg schüttelte den Kopf.

»Nein, nein, Sir. Ich weiß, was Sie denken. Aber das hier ist …«, sie zögerte unmerklich, »Mary. Meine Freundin Mary.« Sie zwinkerte Hannah zu.

»Mary«, sagte der Mann und musterte Hannah von oben bis unten. Hannah wurde es heiß und kalt vor Scham.

»Du bist aber eine Hübsche.«

Der Mann füllte noch ein Schälchen und reichte es Meg. Dann sah er Hannah anzüglich an und drückte ihr ebenfalls eins in die Hand.

»Du darfst dir jederzeit einen Nachschlag holen«, sagte er.

»Na, Mary«, grinste Long Meg, »wir hauen lieber ab und essen in Ruhe unser Frühstück.«

Long Meg ging mit ihr zur Treppe zurück. Sie hatte die beiden Schälchen übereinandergestellt und balancierte mit ihnen gekonnt die Stufen hinunter.

»Wie lange habe ich geschlafen?«, fragte Hannah und sah sich auf dem unteren Deck um. Dann folgte sie Meg in den Frauentrakt.

»Ungefähr vier Tage«, antwortete Meg.

Hannah blinzelte, um ihre Augen an das Dämmerlicht zu gewöhnen.

»Gibt es hier keine Fenster?«, fragte sie.

Meg zwängte sich durch den schmalen Gang zu ihrem Schlafplatz und sagte, ohne sich dabei umzusehen: »Das hier ist das Orlopdeck. Ist unter dem Meer.«

Hannah hatte plötzlich die Vorstellung, von allen Seiten würde Wasser in das Deck dringen. Sie schauderte.

Sie setzten sich und Meg stellte die eine Holzschale vorsichtig auf dem Boden ab, die andere platzierte sie auf ihrem Schoß. Dann tastete sie in der Ablage über ihrem Kopf und fischte zwei Löffel hervor. Hannah bemerkte vier gerade Striche, die in das Brett über Megs Schlafplatz geritzt waren.

»Danke, Meg«, sagte Hannah. Meg zog ihre Augenbrauen hoch.

»Wofür?« Sie gab Hannah einen Löffel.

»Dass Sie mir Essen gebracht haben. Als ich krank war.«

Long Meg sah zur Seite.

Hannah schaute sie misstrauisch an. »Sie haben mir doch das Essen gebracht, oder? Das haben Sie jedenfalls dem Mann mit der Kelle gesagt. Dass Sie das Essen für mich holen.«

Long Meg starrte auf ihre Schale.

»Stimmt mehr oder weniger«, entgegnete sie und begann zu essen. Dann setzte sie den Löffel ab und wühlte in ihrem Strohsack.

»Hier«, sagte sie barsch und reichte Hannah ein zerlumptes graues Stück Stoff.

Es war das Taschentuch von Thomas Behr. Hannah schloss ihre Finger darum.

»Dachte, du magst es vielleicht«, murmelte Meg und löffelte weiter.

Hannah war fast zum Weinen zumute.

»Danke«, sagte sie und steckte das Taschentuch ein.

»Was ist eigentlich mit Black Jack geschehen?«, fragte Hannah.

Meg zuckte die Achseln. »Der baumelt wahrscheinlich«, sagte sie mit vollem Mund.

»Sind Sie nicht traurig?«

»Traurig nein. Hungrig ja. Halt endlich deinen Schnabel.«

Hannah musterte den Inhalt ihrer Schale. Die Brühe war dünn und wässrig und sie konnte nicht erkennen, was für eine Art Fleisch darin schwamm.

»Gibt es noch etwas anderes?«, fragte sie zaghaft.

Long Meg verdrehte die Augen und schlürfte schweigend ihre Suppe.

Hannah schnupperte an dem Fleisch, dann tauchte sie den Löffel in die Brühe und führte ihn zum Mund. Sie probierte vorsichtig und spuckte gleich wieder aus.

»Pfui, das kann ich nicht essen!«, stieß sie hustend hervor.

»Das schmeckt ja widerlich!«

Meg hatte die erste Schale leer und machte sich über die zweite her.

Hannah beobachtete sie. Ihr Magen knurrte. Seufzend hielt sie sich mit einer Hand die Nase zu, mit der anderen löffelte sie die Suppe.

Das Schiff neigte sich mit einem Mal zur Seite. Die heiße Flüssigkeit schwappte über Hannahs Kleid und ein Fleischbröckchen purzelte auf den Boden. Sie hörte ein spitzes Kichern und drehte sich um. Aus einem der Stockbetten lugte ein einzelnes braunes Auge hervor.

»Du!«, rief Hannah.

Das kleine verkrüppelte Mädchen mit dem Wachsgesicht kletterte von seinem Lager.

»Noch ’n paar Sechser, Frollein?«

Hannah war wütend.

»Du hast mich bestohlen! Du bist schuld, dass ich überhaupt hier bin!«

Das Mädchen grinste. Hannah ballte die Fäuste.

»Zieht eure Krallen lieber ein«, sagte Long Meg belustigt.

»Über verschüttete Suppe jammern, das bringt nix.«

Sie sah das Mädchen an und verzog das Gesicht. »Was ist denn mit dir passiert? Du siehst ja aus wie ein Stück Scheiße.«

Das Mädchen zuckte die Achseln und antwortete leise: »Polly hat Wasser aufgesetzt und Molly hat’s wieder runtergeschmissen.«

Long Meg nickte. »Also verbrüht. Armes Ding. Und du bist Molly?«

Das kleine Mädchen zuckte wieder die Achseln. Dann trippelte es kichernd den Gang hinunter.

Hannah suchte auf allen vieren den Boden nach dem Fleischbröckchen ab. Es war verschwunden.

»Diese Missgeburt! Sie hat mein Frühstück geklaut.« Long Meg brüllte vor Lachen.

Molly war nicht das einzige bekannte Gesicht an Bord der Derby Ram. Hannah traf auch eine Reihe von Frauen aus ihrer Gefängniszelle in Newgate wieder. Eine von ihnen war Tabby, die verrückte alte Schottin, eine andere die schwangere Sally, die fürchterlich unter Seekrankheit litt und kaum ihr Lager verließ.

Nach dem Frühstück stieg Hannah wieder auf das obere Deck, um sich das Meer anzuschauen. Ein Matrose pfiff hinter ihr her, als sie an ihm vorüberging, worauf sie sich nach einer weniger belebten Stelle umsah.

Am hinteren Ende des Schiffs gab es noch zwei weitere Deckaufbauten, aber dort wimmelte es von wichtig dreinschauenden Offizieren in blauen Uniformmänteln. Also lief Hannah zum vorderen Teil des Schiffs, wo ebenfalls ein kleinerer Deckaufbau war. Sie kletterte die Treppe empor und kam an der Glocke vorbei, die zu den Mahlzeiten geläutet wurde.

Vor ihr erhob sich einer der drei Masten. Er war so hoch, dass er den Himmel zu berühren schien.

Auf beiden Seiten des Decks befanden sich je zwei Kanonen. Hannah stellte sich zwischen sie und schaute auf das weite, offene Meer hinaus. Das Schiff schnitt sauber durch das Wasser und der Wind blies kräftig. Fast fühlte sich Hannah ein wenig beschwingt.

Sie drehte dem Meer den Rücken zu und beobachtete die Männer bei der Arbeit. Auf dem oberen Deck erblickte sie einige Frauen. Es sah aus, als wären sie über einen Haufen von Tauenden gebückt. Leutnant James Belforte stand auf dem obersten Deck am hinteren Ende des Schiffs und sprach mit einem schwarz gekleideten Mann. Der Mann hatte Hannah den Rücken zugekehrt und so konnte sie sein Gesicht nicht sehen. Als James Hannah entdeckte, fasste er grüßend an seinen Strohhut.

Sie setzte sich, lehnte sich an die sonnenwarmen Planken und beobachtete ihn. Aus einem Kamin in der Mitte des Decks wehten verführerische Düfte. Hannah saß direkt über der Messe und konnte die Kochdünste riechen. Sie dachte an die knorpeligen Fleischstückchen, die es zum Frühstück gegeben hatte. Bekamen die Offiziere etwas anderes zu essen als die Sträflinge?

Nach einer Weile hob ein Mann in Offiziersuniform eine silberne Pfeife an die Lippen und stieß eine Reihe schriller Töne aus. Die Matrosen ließen alles stehen und liegen und verteilten sich über das Schiff. Manche verschwanden unter Deck, einige setzten sich in die Sonne und spielten mit Karten oder Würfeln. Dann strömten aus verschiedenen Teilen des Schiffs andere Männer herbei und nahmen ihre Plätze ein. Ein Mann, der an seinen schwarzen Kniehosen und seinem gestärkten weißen Hemd als Offizier zu erkennen war, aber weder Jacke noch Hut trug, trat aus den hinteren Räumen des zweithöchsten Decks. Sein graues Haar war zu einem ordentlichen Pferdeschwanz gebunden.

James stieg die Treppe hinunter und blieb bei dem Mann mit dem grauen Pferdeschwanz stehen. Neugierig beobachtete Hannah die beiden.

Obwohl der Mann nicht wie ein hochrangiger Offizier gekleidet war, schien James ihm ehrerbietig gegenüberzutreten. Und als er sich zum Gehen wandte, salutierte er sogar.

Hannah sah noch einmal zu dem schwarzen Mann hoch. Er drehte sich gerade in ihre Richtung um. Sein Gesicht war grau und von Pusteln übersät. Es war der Tod.

Hannah erinnerte sich an seine eiskalten Hände, die ihre Stirn berührt hatten, bevor sie auf die Derby Ram gebracht worden war. Obwohl die Sonne schien, wurde ihr kalt. Der Tod kam genau auf sie zu. Es schien, als würde er gleiten. Schlittern. Hannah blinzelte und versuchte sein Gesicht zu erkennen. Das war nicht der Tod. Das konnte nicht der Tod sein.

»Hallo.«

Hannah hob den Kopf. James lächelte sie an. Sie blickte sich um, aber der schwarze Mann war verschwunden.

»Alles in Ordnung?«, fragte James.

»Sie haben mich nur erschreckt.« Hannah fasste sich wieder und erwiderte sein Lächeln. »Wer war dieser Mann?«

»Der Schiffsarzt«, sagte James. »Er heißt Ullathorne.«

Er setzte sich neben sie. Der Geruch von Zedernholz und Veilchen stieg ihr in die Nase. Der Duft erinnerte sie an ihren Vater.

»Nun, haben Sie ein nettes Plätzchen gefunden?«

Hannah nickte. »Es ist herrlich hier oben. So hell und so frisch.«

»Ja, nicht schlecht«, meinte James und räkelte sich gähnend in der Sonne. »Aber ich wäre lieber im White’s und würde Hasard spielen.«

Das White’s war auch der Lieblingsklub ihres Vaters gewesen.

Hannah wurde von einer Welle der Zuneigung für James Belforte ergriffen. Er war für sie wie ein Stückchen Zuhause.

James nahm den Strohhut ab und massierte seinen Kopf. Hannah wagte einen Seitenblick. Seine Haut war hell wie Alabaster und seine Wangen so gleichmäßig gerötet, dass Hannah meinte, er müsste Rouge aufgetragen haben. Er bemerkte ihren Blick und sie schaute schnell weg.

»Mit wem haben Sie vorhin auf dem Offiziersdeck gesprochen?«, fragte sie.

James sah nach hinten, wo der Mann mit dem grauen Pferdeschwanz gerade auf einen Offizier einredete.

»Das ist Captain Gartside«, sagte er.

»Das ist der Captain?«, wunderte sich Hannah. »Er sieht nicht sehr kapitänsmäßig aus.«

»Er findet die komplette Uniform zu beengend.« James beugte sich vor und senkte seine Stimme. »Er ist ein Gemeiner. Hat sich mal im Krieg hervorgetan und ist zum Captain befördert worden. Aber er ist kein Mann von Stand. Kommt sich immer noch wie ein Matrose vor. Er schläft sogar in einer Hängematte.«

»Oh«, sagte Hannah überrascht.

»Nur Matrosen schlafen in Hängematten«, erklärte der Leutnant. »Sie behaupten, das helfe gegen Seekrankheit.« »Dann schlafen Sie nicht in einer Hängematte?«, fragte Hannah und hielt erschrocken inne. Sie hatte tatsächlich einen Herrn über seine Schlafgewohnheiten ausgefragt.

James schüttelte den Kopf. »Offiziere haben richtige Betten. Das ist kultivierter.«

Es entstand eine Pause und Hannah überlegte, was sie noch sagen könnte.

»Warum sind Sie jetzt nicht auf dem Offiziersdeck?«, fragte sie weiter.

James lächelte. »Ich kümmere mich um das Wohlergehen unserer Fracht. Das heißt übrigens nicht Offiziersdeck. Das heißt Achterdeck. Und das darüber ist das Poopdeck. Und das, auf dem wir jetzt sitzen, das Vorderdeck.« »Oh«, machte Hannah wieder und versuchte den Eindruck zu erwecken, als ob sie verstünde.

James schmunzelte. Dann schrillte die Pfeife.

»An die Arbeit.« Er seufzte.

Hannah blickte ihm nach. Er bewegte sich elegant im Rhythmus des Schiffs.

»Was nicht am Vogel ist, das ist an den Federn«, tönte es hinter ihr. Hannah sprang auf und schaute sich um.

Es war Tabby. Die Alte hatte sich hinter dem Mast versteckt und kam nun zu Hannah herüber. Sie ging so gekrümmt, dass sie nur halb so groß wie Hannah aussah.

Hannah erinnerte sich an den Traum, in dem sich Tabby in eine Krähe verwandelt und sie aus dem Himmel geworfen hatte.

»Sie haben mich erschreckt«, sagte Hannah.

Tabby leckte über ihren zahnlosen Kiefer. »Gut Ding will Weile haben.«

»Sie sind verrückt«, stieß Hannah wütend aus, weil sie sich plötzlich angegriffen fühlte. »Auf diesem Schiff sind alle verrückt.«

Tabby blinzelte gegen die Sonne. »Verrückt? Verrückt wie Hans im Glück? Oder wie einer, der nur so tut? Nee, nicht verrückt. Aber ein Narr fragt mehr, als zehn Weise beantworten können.«

Hannah stemmte die Hände in die Seiten. »Wirklich? Was wollen Sie denn fragen?«

»Nicht fragen. Warnen will ich dich.« Die Alte schielte zu einer Fliege hinüber, die auf der Reling saß.

»Also«, fragte Hannah, »wovor wollen Sie mich warnen?«

Tabby sah sie aus glitzernden schwarzen Äuglein an.

»Feiner Wind, vorne Locken, hinten Grind.«

Hannah zog die Augenbrauen hoch und schüttelte den Kopf. »Ich verstehe kein Wort.«

Tabbys Hand schoss so schnell vor, dass Hannah sie kaum wahrnahm. Aber sie beobachtete, wie die schrumpeligen, knorrigen Finger die krabbelnde Fliege packten, und hörte das Schmatzen der Alten. Angeekelt wandte sie sich ab.

»Die Vergangenheit etwa schon vergessen?«, fragte Tabby.

»Bären haben ein langes Gedächtnis. Länger als jeder Elefant.«

Tabby schlurfte davon und Hannah dachte an den weißen Bären.

Sie hörte Schritte hinter sich und drehte sich um. Ein Junge, der kaum älter als zwölf Jahre alt sein mochte, stieg die Stufen zum Vorderdeck hinauf und ging an ihr vorbei, ohne sie zu beachten. Als er vorne an der Spitze des Schiffs angekommen war, setzte er ein Fernglas ans Auge. Er trug eine Offiziersuniform, die an ihm viel zu groß aussah. Sein Kopf verschwand beinahe unter dem Zweispitz.

»Hallo, du«, rief Hannah freundlich, »bist du mit deinem Vater hier? Willst du auch einmal Seemann werden, wenn du groß bist?«

Der Junge ließ das Fernglas sinken und wandte sich zu Hannah um. Seine Miene war eisig.

»Ich bin zweiter Leutnant zu See, Robert Bracegirdle«, sagte er mit hoher, näselnder Stimme. »Bitte begeben Sie sich wieder in den Sträflingstrakt.«

Hannah schluckte und starrte den Jungen an.

»Los, Frau!«, schrie er mit sich überschlagender Stimme.

»Oder wollen Sie disziplinarisch belangt werden?«