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Scatterheart und der weiße Bär reisten viele Tage und Nächte, bis sie schließlich zu einem Schloss kamen, das hoch oben auf einem weißen Berg lag. In Scatterhearts Zimmer stand ein Bett, das war weiß wie Schnee und hatte seidene Kissen mit goldenen Fransen daran. Der Bär sagte zu dem Mädchen, es dürfe in Schloss und Garten überall hingehen. Nur an einen Ort dürfe es nicht. Im Garten befand sich eine große weiße Mauer ganz aus Eis, in deren Mitte eine kleine Tür eingelassen war. Diese Tür dürfe das Mädchen niemals öffnen.

Hannah blieb zwölf Tage lang in der Zelle. Und jeden Tag, wenn der Wärter kam und den Eimer mit den Brotresten auf den Boden knallte, flehte Hannah ihn an, mit einem Verantwortlichen sprechen zu dürfen. Doch der Wärter beachtete sie nicht. Bis er am sechsten Tag die Leiche des Mannes entdeckte. Er schreckte zurück, wühlte in seinen Taschen und zog ein Tuch hervor, das er sich gegen Mund und Nase presste. Dann brüllte er einen Befehl, worauf zwei stämmige Männer erschienen. Sie betraten die Zelle und stießen einige der schlafenden Gefangenen mit den Füßen zur Seite.

»Eine Nummer gefällig, Mister?«, neckten einige der Frauen sie.

»Ich wette, Ihr versteht Euch auf Matratzentänze, Sir.«

»Komm, Süßer, was kosten deine Eier?«

Die Männer störten sich nicht daran. Sie bückten sich und hoben den toten Mann auf. Sein Kopf rollte zur Seite und aus seinem Mundwinkel triefte ein Speichelfaden. Dann fiel sein Kopf nach hinten und seine Augen waren starr auf Hannah gerichtet. Sie stieß einen spitzen Schrei aus.

Während die beiden Männer den Toten hochstemmten, kletterte Hannah über die schlafenden Leiber zur Zellentür.

»Bitte«, flehte sie den Wärter an, »ich gehöre nicht hierhin.«

Ihr war schwindelig vor Hunger, Angst und Erschöpfung. Sie berührte den Wärter am Arm.

»Ich heiße Hannah Cheshire«, fuhr sie fort, fast versagte ihr die Stimme. »Ich bin die Tochter eines Edelmanns. Ich bin eine Standesperson. Ich gehöre nicht hierhin. Es ist alles nur ein Missverständnis.«

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Hannah saß im Salon und arbeitete lustlos an ihrer Stickerei, da klopfte es dreimal an der Haustür. Ihr Vater war wieder da! Sie rannte in die Diele und riss die Haustür auf. Doch es war nicht ihr Vater. Thomas tauchte aus dem trüben Nebel auf, seine Schultern zum Schutz gegen die Kälte hochgezogen.

Er nahm seinen Hut ab. Dann wurde er rot und sah zur Seite, denn Hannah hatte immer noch ihr Nachthemd an. Sie hüllte sich schnell in das Schultertuch.

Thomas trug den roten Rock und die Messingknöpfe der Marineinfanteristen.

Die Uniform veränderte ihn. Er sah jünger und gleichzeitig erwachsener aus. Ein Teil von ihr wäre am liebsten in Tränen ausgebrochen und hätte ihm alles erzählt, was geschehen war, aber etwas hielt sie zurück. Das letzte Mal war er so … unverschämt gewesen. So unangemessen. Ihr Vater hätte sein Verhalten als vulgär bezeichnet. Thomas Behr war nicht wie ihresgleichen. Er war kein Herr von Stand und würde es niemals sein.

»Was wollen Sie?«, fragte sie kühl.

»Ich möchte wissen, ob du über mein Angebot nachgedacht hast.«

Hannah seufzte. »Guten Tag, MrBehr

Sie griff an die Türklinke, doch er streckte rasch seinen Arm nach ihr aus.

»Hannah«, sagte er, »bitte. Auf deinen Vater ist ein Kopfgeld ausgesetzt. Sobald er wiederkommt, wird er gehängt.«

Der Nebel waberte um sie herum. Sie zitterte vor Kälte. »Bitte, hör zu«, flehte Thomas sie an. »Ich habe nicht viel Zeit. Ich habe eine neue Arbeit als Offizier im New South Wales Corps. Übermorgen fahren wir los. Ich habe mit dem befehlshabenden Offizier gesprochen. Er hat mir erlaubt dich mitzunehmen, aber nur, wenn wir verheiratet sind.«

»Sie bilden sich doch nicht ernsthaft ein, dass ich dies in Erwägung ziehe«, stieß Hannah zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. »Wenn ich heirate, dann einen Herrn von Stand. Mein Gemahl würde nicht einmal im Traum daran denken, mir etwas so Unschickliches vorzuschlagen. Auf einem Boot zu einem Gefängnis auf der anderen Seite der Welt!«

»Es ist kein Boot, sondern ein Schiff«, erwiderte Thomas Behr lächelnd und Hannah lächelte unwillkürlich zurück.

»Komm, Hannah«, sagte er, »das wird ein richtiges Abenteuer. Wie bei Robinson Crusoe!«

Seine Augen leuchteten. Hannah stellte sich vor, mit ihm auf einem Schiff zu sein. Der Wind würde durch seine Haare wehen und seine grauen Augen würden funkeln wie der Ozean. Einen Moment lang glaubte sie ihm. Es wäre wirklich ein Abenteuer. Doch dann erinnerte sie sich wieder, wer sie war.

»Robinson Crusoe lebte achtundzwanzig Jahre lang als Schiffbrüchiger und hatte es mit Wilden, Sträflingen und Meuterern zu tun. Das ist kaum die passende Gesellschaft für eine junge Lady von Stand.«

»Passende Gesellschaft – wen kümmert das schon?«, sagte Thomas. »Denk doch an das Abenteuer! Standesgemäß – wen interessiert das denn?«

»Mich«, entgegnete Hannah, »mich kümmert das.«

»Dann bleibst du also lieber hier und heiratest den alten Harris.«

Hannah dachte an Mr Harris mit seinen Schweißflecken unter den Armen und seinen dicken, feuchten Lippen. Und sie dachte an sein großes Haus in Grosvenor Square und an seinen Vierspänner.

»Ja«, sagte sie.

Thomas trat einen Schritt zurück. Auf seinem Gesicht zeichneten sich Verwirrung und Verletztheit ab.

»Wirklich?«, fragte er und seine Stimme war plötzlich ganz ruhig.

Hannah hatte das Gefühl, als würde etwas in ihr erlöschen wie eine Kerze, deren Flamme erstickt wurde.

»Wirklich«, antwortete sie ausdruckslos.

»Hannah«, sagte Thomas, »er wird dich aber nicht mehr wollen.«

Einen Augenblick lang sagte keiner von beiden ein Wort. Hannah brachte es fast nicht fertig, ihn anzuschauen. Ihr war, als sehe er ihr mitten ins Herz hinein. Der Ausdruck auf seinem Gesicht machte ihr Angst. Er war wie eine offene Wunde. Schmerz und Wut und vieles andere, was Hannah nicht verstand, mischten sich darin. Sie wollte die Hand ausstrecken, seine rosigen Wangen berühren und seine strubbeligen strohblonden Haare zwischen ihren Fingern spüren.

»Ich möchte dir helfen«, sagte Thomas.

In strudelnden Schlieren lichtete sich der Nebel. »Ich möchte Ihre Hilfe nicht, Thomas.« Sie schloss die Tür.

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»Cheshire?« Der Wärter sah sie an. »Etwa die Tochter von Arthur Cheshire?«

Hannah weinte vor Erleichterung.

Endlich wusste jemand, wer sie war. Er konnte das Missverständnis schnell aufklären und sie käme endlich hier heraus. Aber wohin?, fragte eine nagende Stimme in ihrem Inneren. Sie beachtete sie nicht und fasste den Wärter am Ärmel.

»Ja«, sagte sie, »ich bin die Tochter von Arthur Cheshire.« Der Wärter schüttelte ihre Hand ab. »Dann gehörst du hierher, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche. Kriminalität ist nämlich erblich. Und dein Vater ist wahrhaftig ein Krimineller.«

Hannah schloss die Augen. Sogar der Gefängniswärter hielt ihren Vater für einen Verbrecher. Es stimmte also. Die beiden Männer schoben sich mit dem Leichnam an ihr vorbei und der Wärter warf die Tür hinter ihnen zu. »Cheshire?«, sagte Long Meg hinter ihr.

Hannah drehte sich um.

Long Meg sah sie eigenartig an. Beinahe respektvoll. Hannah schniefte und wischte sich die Tränen vom Gesicht.

»Mein Vater ist ein Gentleman«, stieß sie mit bebender Stimme hervor. »Er ist ein guter Mann.« Sie war sich nicht mehr sicher, ob sie das wirklich glaubte.

»Na ja«, sagte Long Meg, »ich weiß zwar nicht, ob er ein guter Mann ist, aber er ist mit Sicherheit ein guter …«, sie unterbrach sich und schaute in Hannahs tränenverschmiertes Gesicht, »Zocker.«

Hannah richtete sich auf. »Sie kennen meinen Vater doch gar nicht.«

»Süße, deinen Papi kennt in London jedes Mädchen«, kicherte Meg, »standesgemäß oder nicht.«

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»Arthur Cheshire – der ist in London bekannt wie ein bunter Hund.«

Hannah erstarrte. Sie lag noch im Bett. Unten im Haus waren Leute. Aus der Diele tönten fremde Stimmen zu ihr herauf. Satzfetzen drangen an ihr Ohr.

»… ihn fasst, wird er die Welt von oben ansehen können.«

»… seine Henkersmahlzeit …«

»… erst rot, dann tot …«

Hannah konnte sich keinen Reim darauf machen. Sie hörte, wie die Leute von einem Zimmer ins andere gingen und die Dielen unter ihren Füßen knarrten. Sie wunderte sich, dass sie vergessen hatte die Haustür abzuschließen. Dann fiel ihr ein, dass sie gar nicht wusste, wo der Schlüssel war.

Erst als sie Schritte auf der Treppe hörte, schaute sie sich nach einem Versteck um. Die Stimmen wurden lauter und deutlicher.

»Na ja, wenn Newgate ihn nicht kriegt, ist es nur eine Frage der Zeit, bis einer seiner Gläubiger ihn erwischt«, sagte einer mit derber, rauer Stimme.

»Angeblich lebt er seit fast fünf Jahren auf Pump. Fünf Jahre und keine Kröten in der Tasche.« Die andere Stimme klang etwas gebildeter, aber dennoch nicht sehr vornehm.

Der erste Mann lachte. »Kröten? Der arme Kerl hat nicht mal ein paar Läuse übrig, der ist arm wie eine Kirchenmaus.«

Sie hatten den oberen Treppenabsatz erreicht. Hannah ließ sich zu Boden gleiten und kroch unter das Bett. Der Gestank ihres Nachttopfs, der seit Tagen nicht mehr geleert worden war, war kaum auszuhalten. Ihr wurde speiübel, aber sie biss sich mit aller Macht auf die Lippen. Sollte sie um Hilfe rufen? Aber wer hätte sie gehört? Die Nachbarn waren alle aufs Land gereist und würden erst im Frühjahr wieder in die Stadt zurückkehren.

»Ein richtiger Wüstling«, sagte die zweite Stimme, als sie das Zimmer betraten. »Sieh mal an, ein Mädchenzimmer. Es heißt, er hätte eine Tochter, aber das konnte ich einfach nicht glauben.«

Hannahs Herz schlug so laut, dass sie meinte, die Männer müssten es hören. Was würde geschehen, wenn sie sie entdeckten?

Der erste Mann fluchte. »Und bei seinem Schlamassel lässt er eine junge Dame hier wohnen? Wo ist eigentlich ihre Mutter?«

»Gestorben«, erwiderte der andere knapp. »Vielleicht besser so. Angeblich hat er sie nur des Geldes wegen geheiratet. Noch bevor sie richtig kalt war, hat er mit seinem Geld um sich geschmissen und ist jedem Flittchen nachgejagt. Jetzt ersäuft er in Schuldscheinen. Wenn er zurückkommt …«

»Wer’s glaubt, wird selig«, sagte der andere verdrießlich.

»Das Mädchen tut mir jedenfalls leid.«

Der andere Mann spuckte aus. Die Spucke landete keine zwei Fuß vor Hannahs Gesicht und glitzerte feucht.

»Also, sie ist nicht da. Komm, wir haben genug gesehen. Wir sagen Jones Bescheid, sonst haben wir die Schulden an der Backe.«

Die Männer gingen hinaus. Hannah horchte ihren leiser werdenden Schritten nach. Erst als die Haustür zuknallte, traute sie sich wieder zu atmen. Er hat sie nur des Geldes wegen geheiratet, hatten sie gesagt. Ihr Vater hatte ihre Mutter nur selten erwähnt und Hannah war davon ausgegangen, dass er ihren Tod noch immer nicht verwunden hatte. Einmal hatte er ihr beschrieben, wie schön sie gewesen war. Bedeutete das nicht, dass er sie aufrichtig geliebt hatte?

Sie lag auf dem staubigen Fußboden und wartete, dass ihr Herz sich wieder beruhigte und ihre Hände nicht mehr zitterten. Er muss sie geliebt haben. Er liebte doch auch sie, Hannah.

Hannah kroch unter dem Bett hervor und klopfte den Staub von ihrem Nachthemd. Ihr Blick fiel in den Spiegel. Ein bleiches, furchtsames Gesicht sah ihr entgegen. Essen. Sie musste essen.

Sie suchte das Zimmer ihres Vaters noch einmal nach Geld ab, fand aber auch diesmal nichts. Schließlich nahm sie von ihrem Toilettentisch eine Halskette, die sie nicht besonders mochte, und wickelte sie in ein Seidentüchlein. Sie musste sie verkaufen.

Hannah kleidete sich umständlich an – bislang hatte sie dabei immer Hilfe gehabt. Sie fand ein sauberes Leinenmieder und schnürte es unbeholfen hinten zu. Dann zog sie fleischfarbene Pantalons an, die ihr bis zu den Knöcheln reichten, darüber warme Wollstrümpfe und einen Flanellunterrock. Als Nächstes suchte sie das wärmste Kleid aus, das sie besaß – ein feines blassrosa Wollkleid mit Spitzenbesatz. Sie kämpfte mit den Knöpfen, weil ihre Finger vor Kälte ganz steif waren.

Zum Schluss legte sie noch einen bodenlangen dunkelgrünen Mantel mit Pelzbesatz um die Schultern und schlüpfte in ein Paar knöchelhohe Stiefel aus Ziegenleder.

Sie fuhr sich mit einer Bürste durch ihre unordentlichen Haare und blieb stecken. Also versuchte sie es mit einem Ruck, aber das tat so weh, dass sie kurz aufschrie und ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie legte die Bürste beiseite und betrachtete sich im Spiegel. Ihre langen braunen Haare, die sonst so seidig glänzten, waren stumpf und spröde. Ihre eigentlich strahlend blauen Augen wirkten leblos und lagen hinter dunklen Schatten. Die Lippen schienen blasser und sogar schmaler geworden zu sein.

Hannah überlegte, ob sie den Knoten einfach mit einer Schere abschneiden sollte, entschied sich aber dagegen. Sie wollte sich ihre Haare nicht vollständig ruinieren. Ihr Vater liebte ihre Haarpracht.

Doch schließlich hatte sie den Knoten gelöst und versuchte ihre Haare aufzustecken. Aber die Nadeln sprangen ihr immer wieder aus der Hand und ihre spitzen Enden stachen ihr in die Finger. Als sie es endlich geschafft hatte, bluteten ihre Hände, der Kopf tat ihr weh und der Kiefer schmerzte, weil sie die Zähne so fest aufeinanderbiss, um nicht loszuweinen.

Hannah tupfte sich ein Tröpfchen Parfüm hinter die Ohren und streifte sich ihre warmen Handschuhe über.

Zum Schluss legte sie die Saphirohrringe an, die der Vater ihr gekauft hatte, und bewunderte sich im Spiegel. Ihre Frisur war zwar ein wenig schief und auch der Mantel saß nicht perfekt, aber alles in allem sah sie doch wie eine junge Lady aus.

Sie ließ die Halskette in einen rosafarbenen Pompadour gleiten, ein mit grünen Stickereien und Perlen verziertes Satinbeutelchen. Dann nahm sie eine Samthaube vom Hutständer und band sie unter dem Kinn fest. Das Beutelchen klemmte sie sich unter den Arm und steckte in einem plötzlichen Impuls noch das Taschentuch von Thomas Behr in den Mantel. Schließlich verließ sie das Zimmer, lief die Treppe hinunter und zur Haustür hinaus.

Auf der Vortreppe blieb sie kurz stehen. Es war das erste Mal seit beinahe zwei Monaten, dass sie hinausging – richtig hinaus, nicht nur in den Garten. Dicht und schwer hing der Nebel über der verlassenen Straße, die genauso kalt und leer war wie das Haus hinter ihr. Ihre Wangen und ihre Nase brannten vor Kälte. Sie zog die Tür zu und machte zaghaft einen Schritt nach vorn.

Sie dachte an Scatterheart und den weißen Bären. Hast du Angst?, hatte der Bär gefragt.

Hannah tauchte in den Nebel ein.