»Ich kenne deinen Vater nicht«, sagte das Wachskind und kicherte. »Und es kümmert mich auch nicht. Aber höre auf meine Worte, du wirst zu spät oder nimmermehr dorthin kommen. Nimm diese goldene Eichel.«
Long Meg sprach weder mit ihr noch, wie es schien, mit den anderen. Sie blieb die meiste Zeit im Bett, zupfte gedankenverloren an ihrem Strohsack und starrte ins Leere. Nur zum Essen verließ sie das Orlopdeck. Die hässlichen Schnittwunden auf ihren Wangen entzündeten sich und schwollen an, aber sie ging nicht zu Dr. Ullathorne.
Jeden Tag kratzte sie eine neue Kerbe in das Brett über ihrem Bett. Es wurden immer mehr und eines Morgens stellte Hannah fest, dass sie schon seit zwei Monaten auf See waren. James erzählte ihr, dass sie am Kap Verde vorbeiführen, dem westlichsten Teil Afrikas.
Von Molly bekam Hannah nicht viel zu sehen, aber das kümmerte sie nicht. Tagsüber verkroch sich das Kind irgendwo und abends kam es erst zur Schlafenszeit ins Orlopdeck hinunter.
Je weiter sie nach Süden fuhren, umso wärmer wurde es. Sally erholte sich allmählich wieder und das Kind schien die meiste Zeit damit zu verbringen, an ihrer Brust zu nuckeln oder kräftige Schreie auszustoßen, die Hannah einem so kleinen Wesen nicht zugetraut hätte.
Es gab zwar Arbeiten zu erledigen – die Decks schrubben, nähen und flicken oder in der Schiffsküche helfen – aber oft konnte Hannah auch tun und lassen, was sie wollte.
Sie verbrachte viele Stunden mit James. Sie saßen in der Sonne, unterhielten sich und schwelgten in Erinnerungen an ihr Leben in London. Hannah liebte diese Unterhaltungen, aber sie fragte sich manchmal, ob es nicht noch andere Themen gäbe. Die wenigen Male, die sie das Gespräch auf Literatur, Kunst oder Geschichte lenkte, sah James sie missbilligend an und sagte: »Dieser Hauslehrer hat Ihnen lauter unschickliche Dinge beigebracht.«
Eines Morgens suchte James Hannah auf, als sie gerade das Messinggeländer putzte, das zwischen dem Oberdeck und dem Achterdeck verlief.
»Kommen Sie in meine Kajüte, ich habe eine Überraschung für Sie«, bat er.
Hannah legte den Lappen weg und wischte sich das Putzzeug von den Fingern.
»Was für eine Überraschung?«
James schwieg und nahm nur lächelnd ihre Hand.
Als er die Tür zu seiner Kajüte öffnete, blieb Hannah überrascht stehen. Die Schreibutensilien waren weggeräumt und über den Tisch war ein weißes Stück Stoff gebreitet. Darauf stand ein silberner Toastständer mit drei Scheiben Brot.
»Sie haben Toast für mich gemacht?«, fragte Hannah. Tränen der Dankbarkeit schossen ihr in die Augen.
James geleitete sie zum Stuhl und bat sie sich zu setzen.
»Nicht ganz«, sagte er, »das sind Reste vom Offiziersfrühstück. Butter oder Marmelade gibt es leider nicht, das haben wir alles aufgegessen.«
Hannah zögerte.
»Greifen Sie zu«, ermunterte sie James.
»Wollen Sie nicht auch etwas?«, fragte Hannah.
James verneinte kopfschüttelnd. »Ich habe reichlich gefrühstückt.«
Hannah nahm eine Scheibe Toast. Sie war kalt und sehr trocken und nach den ersten Bissen blieben ihr die Krümel im Hals stecken. Sie sehnte sich nach einer Tasse Tee, um sie herunterzuspülen, sagte aber nichts.
James schaute zu, wie sie die erste Scheibe aufaß und sich die zweite nahm. Sie überlegte, ob sie alle drei Scheiben schaffen würde, ohne sich zu verschlucken. Sie räusperte sich.
»Alles in Ordnung?«, fragte James lächelnd.
Er sah so stolz aus. Sie hatte sich Toast gewünscht und er hatte ihn ihr beschafft.
»Alles bestens«, entgegnete Hannah und unterdrückte ein Husten.
James nickte zufrieden. Hannah schluckte krampfhaft und versuchte den trockenen Krümelklumpen aus ihrem Hals zu entfernen. Sie nahm den nächsten Bissen, ihre Augen begannen zu tränen.
James redete und redete, aber Hannah hörte nicht hin. Sie überlegte nur, wie sie flüchten und an einen Schluck Wasser kommen könnte.
»… mein Erbe …«, sagte James, dann blickte er Hannah wieder an. »Ist wirklich alles in Ordnung?«
Hannah stand auf, der Stuhl kippte um. »Verzeihung«, sagte sie und rang nach Luft, »ich muss gehen.«
Beim Verlassen der Kajüte erhaschte sie im Spiegel über dem Waschtisch einen flüchtigen Blick von sich. Ihr Gesicht war gerötet, zum Teil von der Anstrengung, das Husten zu unterdrücken, zum Teil von der Sonne. Auf ihrer Nase schälte sich die Haut. Ihre Wangen waren mit hässlichen braunen Flecken übersät und ihre Lippen rau und aufgesprungen. Die fettigen Haare hatte sie ungekämmt im Nacken zu einem unansehnlichen Pferdeschwanz zusammengebunden. Ihr unförmiges Kleid war von Putzmitteln und Essensresten schmutzig und verfleckt.
»Aber Sie haben Ihren Toast gar nicht aufgegessen«, sagte James. »Es war nicht einfach, ihn für Sie zu beschaffen.«
»Verzeihung«, stieß Hannah noch einmal hervor. Sie wollte gehen, so schnell wie möglich.
James wandte sich achselzuckend zur Seite. »Wie Sie wünschen. Wir sehen uns dann morgen zum Fest.«
Als Hannah ins Orlopdeck zurückkehrte, zitterte und schwitzte Long Meg vor Fieber. Die entzündeten Striemen waren noch stärker angeschwollen und nässten.
Hannah befühlte Megs Stirn. Sie glühte. Hannah holte ihre eigene Bettdecke und deckte Long Meg damit zu. Dann nahm sie Thomas’ Taschentuch, tauchte es in den Wassereimer, der neben ihrem Bett stand, und legte es Long Meg über die Augen.
In dem zufriedenen Gefühl, alles ihr Mögliche getan zu haben, machte sie sich auf die Suche nach Dr. Ullathorne. Seine Räume befanden sich ebenfalls im Orlopdeck, jedoch im vorderen Teil des Schiffs. Hannah musste also erst zum Unterdeck hinauf und dann über eine andere Treppe wieder hinunter zum Orlopdeck.
Von der Arztpraxis abgesehen, gab es in diesem Teil des Schiffes nur Lagerräume, deshalb herrschte hier eine eigenartige Stille. Das Pfeifen des Windes in den Segeln, das Ächzen der Spanten und das Klatschen der Wellen waren nur gedämpft zu hören. Das Geräusch von ihren nackten Füßen auf dem Boden kam Hannah ungewöhnlich laut vor.
Sie klopfte zaghaft an die Tür des Arztzimmers und zuckte zusammen, als von innen ein barsches »Herein« ertönte.
Hannah stieß die Tür auf und trat ein.
Das Arztzimmer war mit Fläschchen und Tiegelchen vollgestopft, die mit Etiketten versehen waren, auf denen Namen wie Pulvis Humani Cranium oder Hirschhornsalz vom Tausendfüßler standen. Auf einem Tisch an der Wand lag ein sorgfältig angeordnetes Sortiment von Messern und anderen Instrumenten. In einer Ecke befanden sich ein Eimer mit Wasser, eine Liege und ein Stapel Leinentücher. An der hinteren Wand stand ein kleiner metallisch glänzender Operationstisch.
Hannah wunderte sich, dass Dr. Ullathorne nicht allein war. Auch Molly war da. Sie hielt mit der einen Hand ein braunes Glas mit der Aufschrift Quecksilberamalgam umklammert und in der anderen einen Löffel. Sie schaute Hannah ein wenig ängstlich entgegen.
Dr. Ullathorne blickte Hannah fragend an.
Die schluckte. »Ich komme wegen Long Meg, Sir. Sie hat Fieber – ich glaube, die Schnitte auf ihren Wangen haben sich entzündet.«
Dr. Ullathorne zog eine Augenbraue hoch und Hannah dachte wieder, dass er einst ein sehr gut aussehender Mann gewesen sein musste.
»Und was soll ich Ihrer Meinung nach tun?«, fragte er.
»Kommen und nach ihr schauen«, antwortete Hannah.
Sie sah Molly unbehaglich an. Diese stand stocksteif und mit weit aufgerissenem Auge da. Dr. Ullathorne warf einen kurzen Blick auf sie, dann wieder auf Hannah.
»Ich bin gerade sehr beschäftigt«, sagte er lächelnd, wobei seine Zahnlücke und die schwarz verfärbte Zungenspitze zum Vorschein kamen. »Wie Sie vielleicht wissen, muss ich das Fest vorbereiten.«
Hannah runzelte die Stirn. »Dann könnten Sie mir vielleicht etwas mitgeben – eine Salbe oder eine Medizin, die ich ihr bringen kann.«
Dr. Ullathorne blickte sich im Zimmer um.
»Ich fürchte, gegen Boshaftigkeit gibt es keine Medizin«, seufzte er.
»Aber es muss doch etwas gegen das Fieber geben …«, sagte Hannah.
»Ich glaube nicht, dass ich etwas habe«, entgegnete der Doktor kalt.
Hannah wollte gerade wieder gehen, da schlich Molly auf sie zu und streckte Hannah den braunen Krug entgegen. Dr. Ullathorne sah es, packte ihn mit einer Hand und schlug ihr mit der anderen Hand quer über das Gesicht.
»Eine Frechheit!«, brüllte er. »Sie wollen ein Mittel für Ihre Freundin? Hier, nehmen Sie das!« Er schleuderte den Krug in Hannahs Richtung. Die duckte sich und der Krug zerschellte am Türrahmen. Eine silberne Flüssigkeit tropfte auf den Boden.
Hannah flüchtete auf das Deck hinauf. Sie lehnte sich an die Reling und versuchte schwer atmend ihr Zittern zu unterdrücken.
In dieser Nacht wachte Hannah auf, als kalte, kleine Finger nach ihr tasteten. Sie setzte sich kerzengerade hin und stieß mit dem Kopf an die Holzdecke.
Es war Molly. Ihr Wachsgesicht erschien ihr im Zwielicht noch bleicher als sonst. Hannah warf einen Blick zu Long Meg hinüber. Sie schlief. Ihre Wunden sahen ein bisschen besser aus und ihr Atem ging gleichmäßig.
»Was willst du?«, fragte Hannah und schaute Molly böse an.
Molly schwieg, nur ihr Atem ging stoßweise, als wäre sie gerannt.
Hannah schob ihre Hände weg und legte sich wieder hin. Ihr Kopf dröhnte von dem Stoß.
Mollys Finger streiften wieder Hannahs Gesicht.
»Was ist?«, fragte Hannah.
»Ich sag es Ihnen ins Gesicht, Herr Doktor Fell, ich mag Sie nicht.« Molly sprach leise die Zeilen eines Kinderreims.
Hannah verdrehte die Augen. »Verschwinde jetzt und lass mich schlafen.«