Scatterheart sah das Wachsmädchen finster an und nahm die goldene Eichel. Dann ging sie viele Tage lang, bis sie an ein großes Haus kam. Dort wohnte der Ostwind. Sie fragte ihn, ob er ihr helfen könne ihres Vaters Haus zu finden. »Natürlich kann ich dir helfen«, sagte der Ostwind. »Setz dich auf meinen Rücken, dann bringe ich dich hin.« Doch der Ostwind war ein durchtriebener Kerl. Er blies Scatterheart weit, weit fort, bis in das Land, wo der Westwind wohnte.
Hannah wurde mitten in der Nacht unsanft wach gerüttelt.
»Verschwinde, Molly«, murmelte sie, »das interessiert mich nicht.«
»Wach auf«, hörte sie Long Megs Stimme.
Hannah riss die Augen auf. Long Meg beugte sich über sie. Ihr Kopf war von einem zarten Flaum bedeckt. Die Wunden auf ihrem Gesicht waren immer noch rot und entzündet, aber sie nässten nicht mehr. Long Meg schwankte ein wenig. Sie stützte sich mit einer Hand an einem der Balken ab.
»Meg«, flüsterte Hannah, »wie geht es dir?«
»Ich brauche deine Hilfe«, sagte Long Meg knapp, drehte sich um und ging den Gang hinunter.
Hannah sah ihr einen Augenblick nach und versuchte die Müdigkeit abzuschütteln. Long Meg hatte so lange nicht mehr mit ihr gesprochen, dass Hannah sie bei Laune halten wollte, egal was sie im Schilde führte.
Sie krochen die Stufen hinauf und schlichen auf Zehenspitzen an den sechs Kabinentüren und den Hängematten mit den schlafenden Matrosen entlang. Sie kamen am Stumpf des Großmastes vorbei, der sich wie eine Nadel durch das Schiff bohrte. Hannah spähte in den Gang, in dem die Offizierskabinen lagen. Sie fragte sich, ob James schon schlief. Dann erreichten sie die Treppe auf der anderen Seite des Schiffs, die wieder ins Orlopdeck hinabführte.
»Wohin gehen wir?«, flüsterte Hannah.
»Er hat Molly mitgenommen«, erklärte Meg und stieg die Treppe hinunter.
»Dr. Ullathorne? Ich habe sie heute bei ihm gesehen«, sagte Hannah.
Meg blieb stehen und drehte sich zu Hannah um. »Er tut ihr weh.«
Hannah folgte Meg. Am Treppenabsatz bogen sie in den Gang ein, der zu den Räumen von Dr. Ullathorne führte. Meg legte einen Finger an die Lippen und zeigte auf die Tür des Arztzimmers.
Durch die Ritzen fiel etwas Licht. Hannah schaute Meg warnend an, doch diese schüttelte nur den Kopf und deutete wieder auf die Tür. Hannah schlich darauf zu. Ein Dielenbrett knarrte unter ihren Füßen und sie erstarrte. Long Meg fuchtelte wild mit den Armen. Hannah spähte durch den Spalt zwischen Tür und Türrahmen.
Zuerst entdeckte sie nur Dr. Ullathorne, der ihr den Rücken zuwandte. In seiner Hand glänzte ein kleines Messer. Er beugte sich vor und hantierte mit etwas, das Hannah nicht sehen konnte. Dann trat er einen Schritt zurück.
Molly saß reglos auf einem Stuhl. Beide Arme waren an die Armlehnen gefesselt, ihre Handgelenke zeigten nach oben. Auf ihren Armen befanden sich zahlreiche Schnitte in verschiedenen Stadien der Heilung. Manche hatten sich entzündet. Aus einem frischen Schnitt am rechten Arm tropfte Blut in eine Metallschale. Mollys Gesicht war totenbleich.
Dr. Ullathorne füllte einen Teil des Bluts in ein Glasfläschchen und hielt es ins Licht. Er notierte etwas auf einem Papier, dann verschwand er aus Hannahs Blickfeld. Sie hörte das Klirren von Flaschen und Tiegeln.
»Was sollen wir diesmal ausprobieren?« Dr. Ullathorne sprach mehr mit sich selbst. »Ammoniak vielleicht? Oder Schwefel? In einem Artikel habe ich gelesen, dass man die Krankheit mit dem Wasser des Opfers heilen kann …«
Er kam wieder in Sicht, in der Hand ein grünes Glasgefäß mit einer Art Pulver. Er öffnete das Gefäß, entnahm ihm eine Prise und rieb das Pulver in die Wunde. Molly schrie.
»Interessant.« Dr. Ullathorne notierte wieder etwas.
Long Meg war neben Hannah getreten.
»Was macht er da?«, flüsterte diese.
»Teufelswerk«, murmelte Meg.
Molly wimmerte und bebte. Dr. Ullathorne zog ein neues Gefäß zu sich heran.
»Pst, meine Liebe«, sagte er abwesend. »Wir wollen niemanden aufwecken, sonst finden wir niemals das Heilmittel. Du willst doch nicht, dass ich sterbe?«
Molly biss sich auf die Lippe und schüttelte den Kopf.
Er öffnete eine Schublade und holte ein hölzernes Kästchen heraus. Er griff nach einer Pinzette und entnahm ihm eine weiße sich windende Made. Molly wimmerte.
»Sieht hungrig aus, das Kerlchen, nicht wahr, meine Liebe?«, säuselte der Doktor.
Long Meg drehte sich zu Hannah um und sagte leise: »Das muss aufhören, sofort.« Hannah nickte.
Dr. Ullathorne steckte die Made tief in Mollys Wunde. Molly biss sich so stark auf die Lippe, dass sie zu bluten begann. Dann holte der Doktor eine lange silberne Nadel und eine Garnrolle.
»Nicht, dass sie uns entkommt.«
»Ich lenke ihn ab und du bringst das Kind hier weg«, flüsterte Meg.
Bevor Hannah etwas erwidern konnte, platzte Meg durch die Tür. »Oh, Doktor!«, schrie sie. »Sie müssen mir helfen, sonst sterbe ich.«
Dr. Ullathorne fädelte gerade das Garn ein und sah auf. »Du bist das«, sagte er leise.
Meg warf sich an ihn und fasste ihn am Kragen.
»Doktor, ich leide an einem gebrochenen Herzen!«
Ihr Blick zuckte zur Tür. Hannah fuhr zusammen, dann duckte sie sich und huschte hinein. Aufgeregt nestelte sie an den Schnüren, mit denen Molly an den Stuhl gefesselt war.
»Lass mich los!«, befahl Dr. Ullathorne und versuchte Long Meg abzuwehren.
»Ja«, heulte Meg, »am gebrochenen Herzen! Wissen Sie, Doktor, ich habe mich eigentlich in Sie verliebt. Sie haben so schöne Augen, so eine freundliche Stimme und so sanfte Streichelhände.«
Hannah hatte den ersten Knoten gelöst und machte sich an den zweiten.
»Aber Sie haben mir das Herz gebrochen. Ach, Doktor«, schrie Long Meg und weinte hysterisch. »Ich habe gemerkt, dass Sie nicht der nette, liebevolle Doktor sind, für den ich Sie gehalten habe.«
Meg streckte ihre Hand aus und riss Dr. Ullathornes Messer an sich.
»Nein«, sagte sie und ihre Stimme klang mit einem Mal ruhig und drohend. »Sie sind eine ekelhafte, widerliche Made. Und ich hoffe, dass Sie für jede einzelne Sekunde, die Sie anderen Leid zugefügt haben, bezahlen müssen.«
Sie holte mit dem Messer aus und zog es über das Gesicht des Arztes. Sie brachte ihm die gleichen Schnitte bei, die sie auf ihren eigenen Wangen trug. Doch bevor sie von Neuem ausholen konnte, packte er sie am Handgelenk und versuchte das Messer an ihre Kehle zu drücken. Sie biss in seine Hand und er schrie vor Schmerz auf. Endlich hatte Hannah den zweiten Knoten gelöst.
»Meg!«, zischte sie.
»Geh«, sagte die. »Bring Molly ins Bett.«
Hannah zögerte einen Augenblick, dann zerrte sie Molly vom Stuhl. Sie schleifte und trug sie halb aus dem Zimmer und die Treppe hinauf zum Unterdeck.
Sie wollte gerade zu dem Niedergang hinüber, der zu ihrer Seite des Orlopdecks führte, als sie innehielt, sich kurz entschlossen umdrehte und die Treppe nach oben nahm. Sie eilte durch einen Gang zu den Offizierskabinen und klopfte an James’ Tür. Nichts. Sie klopfte lauter. Molly zitterte vor Angst. Dann ging die Tür auf.
James sah sie verschlafen an, aber er war vollständig angekleidet. Sein Haar war verstrubbelt und Hannah nahm einen leichten Geruch von Brandy wahr.
»Hannah«, sagte James überrascht, »was …«
»Dr. Ullathorne«, stieß Hannah atemlos hervor. »Und Long Meg. Sie braucht Hilfe.«
James runzelte die Stirn.
»Was meinen Sie? Was ist denn passiert?«
»Er … er hat Molly wehgetan«, antwortete Hannah und zeigte auf die Wunden an Mollys Armen. »Meg hat versucht ihn aufzuhalten. Sie ist noch dort.«
»Sind Sie sicher, dass Ullathorne ihr wehgetan hat?«, fragte James. »Oder wollte er ihr vielleicht helfen und das ist alles nur eine von Megs Lügengeschichten?«
Hannah schüttelte den Kopf.
»Natürlich, ich bin mir ganz sicher«, sagte sie und begann zu weinen. »Ich war doch selber dort. Er hat sie geschnitten …«
Sie schluckte und James nickte.
»Sie bleiben hier«, befahl er. »Wecken Sie niemanden auf. Ich kümmere mich darum.«
Er eilte mit leisen Schritten davon. Hannah schleppte Molly in die Kabine und legte sie in James’ Koje. Sie zog die Kommode auf, nahm ein Leinenhemd heraus und riss einen Streifen davon ab, mit dem sie Mollys Arm verband. Molly zitterte immer noch am ganzen Leib.
»Herr Doktor Fell, ich mag Sie nicht«, flüsterte sie.
»Ich weiß«, sagte Hannah, »es tut mir leid. Leg dich nur hin. James wird alles wieder richten.«
Molly machte die Augen zu. Nach ein paar Minuten hörte das Zittern auf.
Hannah wartete, stundenlang wie ihr schien. Sie konnte nicht still sitzen und musste ständig aufstehen und im Zimmer auf und ab gehen. Sie trat an das Bullauge und spähte hinaus, das dicke Glas beschlug von ihrem Atem. Sterne glimmten am Himmel. Sie suchte den Großen Bären, aber die Sterne wurden von heraufziehenden Wolken verschluckt.
Endlich hörte sie Schritte. Die Tür ging auf und James stand auf der Schwelle.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
Er trat ein und hob das zerrissene Hemd auf.
»Es ist alles erledigt«, entgegnete er. »Bringen Sie das Kind wieder ins Orlopdeck hinunter, bevor jemand etwas merkt. Ist das mein Hemd?«
»Long Meg …«
»Es geht ihr gut«, sagte James. »Sie … sie hat sich nur am Arm verletzt. Morgen ist sie wieder da.«
Er hielt das Hemd hoch und betrachtete missbilligend die abgerissene Stelle, dann seufzte er und wischte sich die Hände an dem weißen Leinen ab. Hannah bemerkte rote Schmutzspuren. James fasste sie an der Schulter und blickte sie an. Vom Schlaf zerzaust sah er noch hübscher aus als sonst.
»Ich würde Sie niemals anlügen.«
Sie schaute in seine blauen Augen und hätte sich am liebsten in sie hineinfallen lassen und Molly, Meg, den Doktor und die Derby Ram für eine Weile vergessen. James drückte ihre Schulter und lächelte zärtlich. Er sprach die Wahrheit. Er würde sie niemals anlügen. Hannah nickte und stand auf.
Sie beugte sich über die Koje und hob das schlafende Kind hoch. Molly murmelte etwas, schlang ihre dünnen Ärmchen um Hannahs Hals und legte ihr Wachsgesicht an ihre Schulter. Hannah drehte sich zu James um.
»Vielen Dank für Ihre Hilfe«, sagte sie.
Leise ging sie durch die Gänge zurück und stieg die Treppe zum Frauentrakt hinunter. Die schlafenden Matrosen in ihren Hängematten rührten sich nicht.
Sie legte Molly auf Long Megs Bett und kroch dann in ihr eigenes. Sie war vor Angst so angespannt, dass es ihr unmöglich erschien, einschlafen zu können. Aber bevor sie sichs versah, sickerte ein dünner Strahl Morgenlicht durch die Luke.
Hannah setzte sich auf und schaute zu Long Megs Koje hinüber. Molly wurde wach und blinzelte verschlafen. Meg war nirgends zu entdecken. Als Molly Hannahs suchenden Blick bemerkte, kletterte sie aus dem Bett und schlüpfte zu ihr unter die Decke.
»Schon gut«, sagte Hannah. »Du bist jetzt in Sicherheit. Er wird dir nichts mehr tun.«
Molly blickte sie fragend an. »Wo ist Long Meg?«
»Ich weiß nicht genau. James hat gesagt, sie hätte sich am Arm verletzt. Vielleicht sehen wir sie beim Frühstück.«
»Ich will zu Long Meg.«
Hannah seufzte. Am liebsten hätte sie Molly jetzt einfach den Rücken zugedreht. Aber sie war ja noch ein Kind. Hannah lächelte sie an.
»Komm, wir gehen nach oben und suchen sie.«
Molly schniefte etwas, doch dann nahm sie Hannahs Hand und gemeinsam gingen sie durch den Gang in Richtung Treppe. Die anderen Frauen lagen immer noch in ihren Betten. Schweigend beobachteten sie Hannah und Molly. Sally presste ihr Kind an sich und bekreuzigte sich.
»Kommt ihr nicht zum Frühstück?«, fragte Hannah.
Sally sah zur Seite und schüttelte den Kopf. »Heute nicht«, sagte sie. »Wir dürfen nicht hinauf.«
»Wieso? Was ist da oben los?«, fragte Hannah.
Sally zuckte die Achseln. Das Baby begann zu quengeln und Sally schaukelte es hin und her.
»Wir dürfen halt nicht. Da drüben im Fass ist Zwieback.« Molly fasste Hannahs Hand fester. »Warum dürfen wir nicht rauf?«, piepste sie kläglich.
»Keine Ahnung«, erwiderte Hannah finster. Hatte das etwas mit Long Megs Verschwinden zu tun? Vielleicht wurde Dr. Ullathorne jetzt bestraft, nachdem herausgekommen war, was er angestellt hatte. »Ich glaube, wir bleiben einfach eine Weile hier unten.«
»Ist Long Meg da oben?«, fragte Molly.
Hannah versuchte zu lächeln.
»Sie wird bestimmt gleich hier sein. Komm, wir spielen mit deiner Puppe. Du darfst mein Taschentuch nehmen und ihr ein Bettchen machen.«
Molly ließ sich willig in ihre Koje zurückbringen.
Die Verletzung auf ihrem Arm sah rot und entzündet aus und Hannah machte sich Sorgen, dass die Entzündung in der abgestandenen Luft unter Deck schlimmer werden könnte. Sie tauschte ihren Zwieback gegen einen Fingerhut voll Gin und säuberte die Wunde. Molly jaulte kurz auf, als der Alkohol in den Schnitt eindrang, aber dann biss sie die Zähne zusammen und gab keinen Ton mehr von sich. Hannah riss einen Streifen Stoff vom Saum ihres Kleides ab und verband Mollys Arm.
Dann und wann waren von oben Geräusche zu hören, das Krachen von Holz, das Klatschen des Wassers und einmal ein seltsamer schriller Schrei, der nichts Menschliches an sich hatte. Hannah versuchte sich so normal wie möglich zu verhalten, denn sie wollte nicht, dass Molly sich fürchtete.
Im Lauf des Tages wurde es immer heißer und stickiger im Schlafsaal. Die Frauen dösten vor sich hin oder spielten Karten. Der Mittag ging vorüber. Molly kuschelte sich in Hannahs Bett und schlief ein. Hannah kämpfte gegen ihre Müdigkeit an, fiel aber bald in einen unruhigen Schlaf.
Hannah wurde von einem markerschütternden Kreischen geweckt.
Etwas Riesiges schrammte an der Schiffswand entlang und schlug klatschend auf dem Wasser auf. Ein paar Sekunden später ertönte ein gedämpftes Dröhnen. Das Kreischen erstarb und das Schiff neigte sich auf einmal so stark zur Seite, dass einige Frauen aus ihren Betten fielen. Dann kam das Schiff unter ächzenden Spanten und strudelndem Wasser vollständig zum Stehen.
Die plötzliche Stille mutete seltsam an nach den vielen Wochen des Schlingerns und Schwankens von einer Seite zur anderen. Hannah kam es vor, als würde jede ihrer Bewegungen hundertfach verstärkt werden.
Die Frauen rappelten sich auf und kletterten wieder in ihre Betten.
Molly sah verwirrt unter der Decke hervor. Es war fast dunkel. Hannah hatte einen trockenen Mund und ihr schwindelte. Sie war ein wenig durcheinander, weil sie tagsüber geschlafen hatte, und wusste nicht recht, wie spät es war. War es Abend oder Morgen?
Eine Glocke läutete. Von oben drangen seltsame Geräusche herab, ein Singen und Stampfen. Molly tastete zaghaft nach Hannahs Hand.
»Was ist das?«, fragte sie. »Ist das Davy Jones?«
»Unsinn«, versuchte Hannah sie zu beruhigen, »das ist bestimmt nur … das sind nur die Matrosen. Sie singen, glaube ich.«
»Ich will jetzt Long Meg suchen«, sagte Molly.
»Ich weiß nicht, ob wir dort hinaufsollten«, überlegte Hannah.
Molly achtete nicht auf ihre Worte, sondern kletterte aus dem Bett.
»Komm«, sagte sie und trippelte den Gang hinunter.
Hannah zögerte einen Moment. Als sie in die Gesichter der anderen Frauen blickte, nahm sie Beunruhigung und Unsicherheit wahr. Aber keine von ihnen machte auch nur Anstalten, sich zu erheben, um nachzusehen, was da oben passierte. Sie gab sich einen Ruck und kletterte hinter Molly die Treppe hinauf.