image

»Deines Vaters Haus?«, fragte die alte Frau achselzuckend. »Ich weiß nur, dass du zu spät oder nie dort hinfinden wirst. Aber vielleicht kann meine Nachbarin dir helfen. Und nimm diese Eichel aus Kupfer mit.«

Langsam stellte sich ein regelmäßiger Tagesablauf auf dem Schiff ein.

Kaum hatte der Assistent des Schiffsarztes Hannah für gesund erklärt, musste sie auch schon an die Arbeit. Die Frauen nähten, kochten, putzten und schrubbten. Hannahs zarte, blasse Hände waren vom heißen Wasser und rauen Leinen bald rot und voller Schwielen. Jeden Morgen wurden die Frauen vom jungen Leutnant Bracegirdle geweckt, der viermal die Glocke zum Frühstück läutete.

Nach dem Essen begann die Arbeit. Die Frauen, die sich aufs Nähen verstanden, mussten die Hemden und Hosen der Matrosen und Offiziere flicken und schneidern. An die Segel wurden sie aber nicht gelassen – diese Aufgabe war allein den Matrosen vorbehalten.

Die übrigen Frauen wurden in zwei Arbeitsgruppen eingeteilt. Hannah war zuerst entsetzt, als sie die Decks mit Klumpen von grauem Scheuerstein schrubben und die Messingbeschläge polieren sollte. Als sie protestierte, drohte ihr der Aufseher mit Prügel.

»Halt die Klappe, Hochwohlgeboren, sonst bekommen wir noch den Katzenschwanz zu spüren«, warnte sie Long Meg, die die Szene beobachtet hatte.

Alle drei Tage schleppten die Frauen ihre Strohsäcke und Decken zum Auslüften nach oben. Es gab nicht genug Frischwasser zum Waschen, aber das Lüften war besser als nichts.

Bald war Hannah froh über diese Arbeit, durch die sie viel Zeit an Deck in der Sonne verbringen konnte. Nur die anzüglichen Blicke der Matrosen waren ihr peinlich. Andere Arbeiten waren noch unangenehmer. Zum Beispiel dem Koch bei der Zubereitung der wässrigen Eintöpfe mit den zähen, gepökelten Fleischbröckchen zu helfen. Hannah wurde dabei regelmäßig übel. Die Kombüse war eng und muffig und in den Vorratsfässern fanden sich oft mehr Ratten und Käfer als richtige Lebensmittel. Außerdem ließ der Koch kaum eine Gelegenheit aus, sich in der übervollen Küche an ihr vorbeizudrücken und an sie zu pressen.

Die schlimmste Arbeit war jedoch die Herstellung von Werg. Die Sträflinge bekamen Berge von altem Takelgut, aus dem sie die einzelnen Hanffasern zwirbeln mussten. War auf diese Weise ein Haufen aus lockeren Fasern entstanden, wurde dieser mit Teer vermischt und zwischen die Schiffsplanken gestopft, um sie gegen Wasser abzudichten. Das Werg war sehr rau und Hannahs Hände waren vom vielen Wäschewaschen ohnehin schon wund. Die drahtigen Hanffasern bohrten sich unter ihre Fingernägel, was zu Schwellungen und Entzündungen führte.

Als die Kerben über Long Megs Bett auf sieben, zehn und fünfzehn anwuchsen, verstand Hannah allmählich die Sprache des Schiffs. Der vordere Teil war für sie nicht mehr vorne, sondern das Vorderdeck. Das Achterdeck war nicht hinten, sondern achtern. Der Schlaftrakt nicht auf der rechten Seite, sondern auf Steuerbord. Und sie lernte Großmast und Besanmast zu unterscheiden.

Abends saßen die Frauen auf ihren Stockbetten und spielten Karten. Sie tranken ihre Tagesration Rum und rannten dann kichernd zu den Hängematten der Matrosen hinauf. Hannah fiel meist erschöpft in ihr Bett und schlief sofort ein. Sie ließ sich dabei weder von dem kratzigen Strohsack und der rauen Decke stören noch von dem gedämpften Rumpeln und Stöhnen, das aus dem Quartier der Matrosen kam.

Hannah und Long Meg hockten mit einigen anderen Frauen auf dem Vorderdeck und nähten Leinenhemden, die Captain Gartside in New South Wales verkaufen wollte. Hannah staunte, wie flink die anderen waren – sie selbst hatte bis dahin nur zum Zeitvertreib eine Nadel in die Hand genommen. Sie hatte nie etwas flicken oder gar ein Kleid schneidern müssen.

Die Pfeife schrillte. Hannah hielt nach James Ausschau, entdeckte aber nur den Schiffsarzt auf dem Oberdeck. Long Meg folgte ihrem Blick und schnaubte angewidert. »Kennst du ihn?«, fragte Hannah. »Das ist ja der Schiffsarzt. Ich dachte, er sei der Tod.«

Long Meg lachte laut auf. »Ist er auch«, sagte sie und rief:

»Hui! Doktor Tod!«

Dr. Ullathorne drehte sich um und glitt die Stufen zum Vorderdeck hinauf. Dann stand er vor ihnen. Hannah stockte der Atem.

Der Schiffsarzt war sehr groß und sein Gesicht war früher sicher einmal attraktiv gewesen. Nun aber war es von weißen wuchernden Pusteln übersät. Auf seiner Oberlippe blühte eine offene, nässende Entzündung und das graue Fleisch um seine Nase sah aus, als verwese es. Einer seiner Schneidezähne fehlte und sein Speichel war schwarz wie Teer.

»Du dreckige Bestie«, sagte er zu Long Meg. »Was fällt dir ein?« Seine Stimme klang vornehm und gebildet. Ganz offensichtlich war er einmal ein Herr von Stand gewesen.

Long Meg schaute dreist zu ihm hoch. »Dreckig, ich? Ich bin nicht dreckiger als Lizzy, Pam oder Katie. Aber mit denen rumzuschäkern, das hat Ihnen nichts ausgemacht! Ist doch so, Dr. Tod?«

Dr. Ullathorne zog eine wütende Grimasse, doch Meg legte ihr Nähzeug zur Seite und stand auf. Sie war groß, aber der Arzt überragte sie noch ein ganzes Stück. Sein schwarzer Speichel glitzerte.

»Wir wissen genau Bescheid, was mit Ihnen los ist«, sagte Long Meg. »Sie sind der Doktor, der nicht Medizin, sondern Sargnägel ausgibt.«

Sie trat auf ihn zu und presste sich an ihn. Hannah erstarrte, Long Megs vulgäre Geste entsetzte sie ebenso wie das verunstaltete Gesicht und das verächtliche Grinsen des Arztes.

»Rühr mich nicht an!«, sagte der Arzt und gab Long Meg einen Stoß, dass sie aufs Deck fiel. Sie hob den Kopf und grinste bitter.

»Aber warum denn nicht, Doktor?«, fragte sie. »Haben Sie etwa Schiss, dass Sie sich was holen könnten?«

Doktor Ullathorne spuckte sie an. Sein schwarzer Speichel kroch wie eine fette Schnecke an ihrer Wange herab. Mit einer barschen Geste winkte er Jemmy Griffin, einen Matrosen, herbei, der den Wortwechsel beobachtet hatte.

»Bring sie in den Bau«, befahl der Doktor und ging.

»Aye, Sir«, sagte Jemmy und packte Meg grinsend am Handgelenk. Um seinen Arm ringelten sich Schlangentätowierungen und sein Rücken war mit Buchstaben übersät. Cathy, eine robuste blonde Mitgefangene, hatte erzählt, dass er sich die Anfangsbuchstaben der Namen von jeder Frau, die er einmal geliebt hatte, eintätowieren ließe.

Long Meg beugte sich zu ihm vor. »Ahoi, Junge, willste den Lachs in die Butter stecken?«

Jemmy zwinkerte Hannah zu und legte Meg quer über seine Schulter. Hannah errötete.

Long Meg lachte und sagte zu Jemmy: »Ich merk schon, du magst die raue Tour. Mit Vergnügen.«

Es war nicht der letzte Besuch Long Megs im Bau, einem winzigen, kastenartigen Käfig auf dem Orlopdeck, der sich inmitten von Vieh, Schweinen und Hühnern befand. Irgendetwas an dem Schiffsarzt reizte sie, und sie versäumte keine Gelegenheit, ihn zu verhöhnen.

»Warum hasst du ihn so?«, fragte Hannah.

Long Meg rümpfte die Nase. »Er ist ein schlechter Mann.«

»Warum?«

»Er ist ein Hurenbock. Ansteckend. Er klappert sämtliche Edelpuffs ab und gibt den Mädchen sein Andenken.«

Hannah zog fragend die Augenbrauen hoch.

»Die Franzosenkrankheit«, sagte Meg. »Die Syph. Deshalb sieht er auch so hübsch aus. Er stirbt nämlich bald und möchte so viele Huren wie möglich mit in die Hölle nehmen. Die sollen ihm dort Gesellschaft leisten.«

»Nein«, rief Hannah schockiert, »das glaube ich nicht!«

»Und nicht nur die Damen«, fuhr Meg fort. »Auch ’ne Menge Stricher haben schon seinen Wespenstachel zu spüren gekriegt. Er ist so was wie ’ne Anzeigenpostille – offen für alle Seiten.«

Hannah schwieg. War das, was Meg erzählte, wirklich wahr?

Aber Long Megs Beschimpfungen waren nicht der einzige Grund für die Strafen, die sie absitzen musste. Regelmäßig schlich sie in die verbotenen Bereiche des Schiffs, zu den Diensträumen auf dem Achterdeck und zu den Vorratslagern tief unten im Laderaum. Sie stahl Tabak und Wein und tauschte ihre Beute mit anderen Sträflingen und Matrosen gegen Gefälligkeiten ein. Nachts war sie oft nicht in ihrem Bett. Hannah hielt sich beim Einschlafen die Ohren zu, um die seltsamen Geräusche von oben nicht hören zu müssen, die sie an den Mann und die Frau denken ließen, die sie in London an der Wand hatte stehen sehen. Immer wieder wurde Long Meg erwischt und landete im Bau. Es stank dort nach Bilgewasser und Tieren und es gab keine Fenster, nicht einmal so ein spärliches Licht wie im Schlaftrakt der Frauen. Die Mischung aus stickiger Luft, quälender Enge und dem unregelmäßigen Schaukeln des Schiffs hätte auch dem härtesten Seemann zugesetzt. Nach einigen Stunden wurde Meg wieder an Deck gelassen. Mit bleichem Gesicht und leerem Magen zeigte sie dann vorübergehend Wohlverhalten.

Am Ende der dritten Woche hatte sich der blaue Himmel zugezogen und über dem Schiff hingen dunkle Wolken. Starker Wind kam auf und die Leinen schlugen knatternd gegen die Segel. An Bord herrschte eine gereizte Stimmung. Alle warteten auf den Sturm. Matrosen rannten hin und her, sicherten die Leinen und verstauten lose Gegenstände. Die Frauen mussten zur Sicherheit im Orlopdeck bleiben.

Hannah lag auf ihrem Bett. Long Meg saß mit untergeschlagenen Beinen da und riss einzelne Papierstreifen aus einer Bibel, die sie als Lockenwickler verwenden wollte. Molly hockte neben ihr und zupfte eine der Bibelseiten in winzige Fetzen.

»Jetzt ein ordentlicher Schluck, das wäre was«, murmelte Meg. »Eingesperrt wie die Hühner sind wir. Spätestens heut Abend können wir Davy Jones die Hand schütteln. Wartet nur ab, das wird ein Wahnsinnssturm. Und dann kommen die Seeungeheuer, da könnt ihr Gift drauf nehmen.«

»Wer ist das, Davy Jones?«, fragte Molly.

Long Meg setzte eine Gruselmiene auf. »Das ist der Teufel der Meere«, sagte sie unheilvoll. »Er hat riesige Feueraugen und Hörner und einen spitzen Schwanz. Und er hat ’ne Menge scharfer Zähne und aus seiner Nase kommt blauer Rauch.«

Molly bebte vor Begeisterung und Hannah verdrehte die Augen.

»Du hast wohl zu viel Zeit mit den Matrosen verbracht. So ein Unsinn.«

»Ich mag die Matrosen.« Long Meg zwinkerte Molly zu. Das Mädchen kehrte die winzigen weißen Papierschnipsel in ihre Hand und pustete sie zu Hannah hinüber. Sie wirbelten hoch und blieben schließlich auf Hannahs Schoß liegen.

»Es schneit!«, jubelte Molly.

»Verschwinde, du Scheusal!«, rief Hannah und klopfte sich das Papier vom Kleid. Molly kreischte und trippelte davon.

Meg schnaubte aufgebracht. »Aber, aber, was regen Euer Gnaden sich auf?«

»Ich verstehe wirklich nicht, warum du sie immer an deinem Rockzipfel hängen lässt.«

Long Meg sah Hannah überrascht an. »Wieso bist du so sauer auf sie? Sie ist doch noch ein Kind. Hat keine Mama und keinen Papa, die Kleine.«

»Als sie mich in London bestohlen hat, kam sie mir nicht so klein und harmlos vor.«

»Hab ein bisschen Mitleid mit ihr. Nicht alle sind im Luxus groß geworden wie du.« Meg deutete mit dem Kopf auf Molly. »Und mit so einer Visage bleibt ihr doch gar nichts anderes übrig, als zu stehlen. Die findet keinen Herrn, der für eine Nacht mit ihr was springen lässt.«

Hannah schwieg und rollte sich auf den Bauch. Meg legte kurz die Bibel beiseite, holte ihren Löffel und kratzte die einundzwanzigste Kerbe in den Balken über ihrem Bett. »Wie lang wird es dauern, Meg?«, fragte Hannah mit einem Blick auf die Kerben.

Long Meg zuckte die Achseln. »Der Wind spielt nicht mit«, antwortete sie. »Einer der Burschen hat gesagt, wir kämen ziemlich langsam voran. Wir sind noch nicht einmal an Spanien vorbei.«

Hannah erinnerte sich an das Puzzle mit der Weltkarte, mit dem sie und Thomas Behr immer gespielt hatten. Dann fiel ihr etwas ein, das ihr schon lange auf der Seele lag. Sie hatte erfolglos versucht es zu verdrängen.

»Was geschieht, wenn wir dort ankommen?«

Meg machte sich wieder über die Bibel her.

»Keine Ahnung«, sagte sie. »Wahrscheinlich Dienstmädchen bei reichen Leuten. Oder wir werden als Sklaven an die Eingeborenen verkauft.«

Sie schauderte.

Hannah versuchte sich vorzustellen, wie es in New South Wales sein würde. Sie dachte an das seltsame Tier, das Thomas Behr aus Schnee gebaut hatte. Ein Känguru. Ob es dort auch Häuser gab? Oder lebten die Menschen in Zelten? Sie hatte zwar seit ihren Kindertagen immer wieder von der Kolonie gehört, hatte aber keine Ahnung, wie zivilisiert die Menschen dort waren.

»Ich hab mal von einem Ort gehört, der Fabrik heißen soll«, fuhr Long Meg fort.

»Fabrik?«, fragte Hannah. »Was für eine Fabrik?«

»Weiß nich’. Aber da kommen angeblich die schlechten Frauen hin.«

Hannah hatte in den Zeitungen ihres Vaters über Fabriken gelesen. Das waren Häuser, in denen viele Sachen auf einmal produziert wurden. Sie fragte sich, was in der Fabrik in New South Wales hergestellt wurde und was die Frauen damit zu tun hatten.

Aus einem der Nachbarbetten war ein Stöhnen zu hören. Sally war wieder seekrank und in Schweiß gebadet.

»Sollen wir Dr. Ullathorne rufen?«, fragte Hannah.

»Der schlitzt ihr höchstens die Kehle auf, aber untersuchen tut er sie nicht«, entgegnete Meg. »Und ihr ungeborenes Baby frisst er womöglich noch.«

Meg zog die Augenbrauen hoch, als sie Hannahs angewiderten Gesichtsausdruck sah.

»Er ist eine Schlange«, erklärte sie. »Dem müsste man seine widerliche schwarze Zunge rausschneiden.«

»Du solltest ihn nicht immer so reizen«, sagte Hannah.

»Er ist ein Offizier. Du bist ein Sträfling. Du weißt doch, dass du gegen ihn nicht ankommst.«

Long Meg verdrehte die Augen. »Er ist ein Offizier!«, äffte sie Hannah nach. »Du hast wohl einen Goldschleier vorm Gesicht, Frollein. Ein Offizier ist doch nicht automatisch ein Gentleman. Die sind alle gleich. Schlangen und Tiere sind das. Ja, auch dein kostbarer James Belforte.« Meg warf einen forschenden Blick in Hannahs Gesicht. »Tiere. Die bearbeiten dich, bis du weich bist, und dann machen sie dich fertig. Dein Leutnant will auch nur das eine. Eine, die ihn am Schwanz kitzelt.«

»Das glaube ich dir nicht«, sagte Hannah. Long Meg war eindeutig eine Lügnerin. Wahrscheinlich hatte sie auch das Gräuelmärchen über den Arzt erfunden.

»Dann lass es bleiben«, sagte Long Meg. »Komm doch nachts mal hoch und sieh selbst.«

Hannah zitterte. »Warum machst du das überhaupt? Wenn du sie so verabscheust, warum gehst du denn da hinauf?«

»Geschäft ist Geschäft«, sagte Meg. »Ich geb ihnen, was sie wollen, und sie geben mir, was ich will.«

Hannah schwieg.

»Schockiert, Gnädigste?« Meg kicherte, sie wickelte eine Haarsträhne auf einen Papierstreifen und steckte sie fest.

»Findest du das richtig, was du da tust?«, fragte Hannah mit einem Blick auf die malträtierte Bibel.

»Was meinst du? Dass ich mit Jemmy Griffin oben Bananenkuchen backe? Oder dass ich meine Haare eindrehe?« Hannah sah sie böse an. »Du weißt genau, was ich meine.«

»Ich mag Locken«, erwiderte Long Meg gleichgültig.

»Aber mit einer Bibel!«

»Warum nicht? Anderes Papier hab ich nicht und lesen kann ich auch nicht. Das Ding nützt mir doch gar nichts außer als Lockenwickler.« Sie blickte nachdenklich auf das Buch. »Ich glaube, ich hätte jetzt nichts gegen ein Kartenspiel …«

Hannah rollte sich auf die Seite und drehte Long Meg den Rücken zu.

Plötzlich brach ein Getöse aus, die Frauen pfiffen und buhten. Hannah stützte sich auf die Ellbogen und spähte durch den Gang. James kam direkt auf sie zu. Er lächelte, als ihm einige Frauen ihre Dienste anboten, und blieb vor Hannahs Bett stehen. Hannah starrte ihn an, sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte.

»Möchten Sie mit mir an Deck kommen?«, fragte er. »Bis jetzt regnet es nicht.«

»Aber gern«, erwiderte Hannah.

»Abergern«, spottete Long Meg und wandte sich James zu.

»Hallo, Sir. Sie wollen die Gnädigste wohl flachlegen?«

Hannah sah Long Meg wütend an. James half ihr aus der Koje und ging ihr voraus.

»Ich glaube, Sie wären einem Tänzchen mit einem leichten Mädchen nicht abgeneigt, Mister!«, rief Long Meg hinter ihnen her.

Hannah wurde rot, doch James drehte sich grinsend um.

»Vielen Dank, Meg, aber heute bin ich nicht in Tanzstimmung.« Spöttisch grüßend legte er seinen Finger an die Stirn.

Auf dem Vorderdeck herrschte eine unheimliche Stille. Die Matrosen hatten alle erdenklichen Vorbereitungen für den Sturm getroffen und nun war nichts mehr zu tun. Die meisten befanden sich bereits unter Deck, um ein paar kostbare Minuten zu schlafen oder sich mit einem kräftigen Schluck für die lange Nacht zu wappnen. Einige waren an Deck geblieben und legten Taurollen zusammen. Auf dem Achterdeck standen ein paar Offiziere. Einer von ihnen war Dr. Ullathorne, der sich mit Captain Gartside unterhielt.

Am Himmel hingen schwere dunkle Wolken. Hannah löste ihren Zopf. Der Wind peitschte ihr die Haare ins Gesicht. James ließ sich auf dem Deck nieder und Hannah nahm neben ihm Platz.

Im abendlichen Zwielicht schimmerte James’ Haut beinahe bläulich und seine roten Lippen waren fast schwarz. Eine dunkle Haarlocke hatte sich aus seinem Pferdeschwanz gelöst und hing ihm ins Auge. Er sah zart und schön aus wie ein Prinz aus einem der Märchen, die Thomas ihr erzählt hatte, als sie kleiner war.

»Ich dachte mir, Sie haben von den anderen Frauen vielleicht genug«, sagte er.

»Da unten stinkt es!«

James nickte. »Das ist das Ballastwasser.«

»Das ist im Schiffsbauch, nicht wahr?«

James nickte wieder. »Es drückt das Schiff nach unten und stabilisiert es.«

»Warum stinkt es so fürchterlich?«

»Das liegt an der Mischung aus Sand und Kies. Sie schwappt jahrelang in der Bilge hin und her und man kann sie nicht reinigen. Da sammeln sich mit der Zeit reichlich Kompost, tote Ratten und allerlei Unrat an.« Hannah verzog das Gesicht.

»Sie sollten sich glücklich schätzen«, sagte James. »Ich bin schon auf Schiffen gewesen, die viel schlimmer gestunken haben. Bei einem war die Luft aus der Bilge so schlecht, dass unsere Knöpfe schwarz anliefen.«

Hannah drehte ihren Kopf in den Wind und ließ ihre Haare flattern. James’ Blick wanderte über das Meer.

»Das vermisse ich am meisten«, seufzte er. »Reine Luft. Saubere Wäsche. Eine frisch gestärkte Halsbinde.«

»Toast«, ergänzte Hannah. »Ich vermisse Toastbrot. In einem silbernen Toastständer. Butter in einer weißen Porzellandose.«

»Ein anständiger Schneider. Und Handschuhe aus Ziegenleder.«

»Meine Abigail, die mir jeden Morgen die Haare richtet.«

»Ein Glas Portwein, eine gute Zigarre und eine Partie Pikett im White’s.«

Eine Pfeife schrillte und wie aus dem Nichts tauchten Matrosen auf und kletterten wie die Affen auf die Masten und Rahen. Leinen wurden losgemacht und die Luft war von Segelknattern und Kommandorufen erfüllt.

Hannah beobachtete die Männer.

»Woher wissen sie, wohin wir fahren? Es ist kein Land in Sicht.«

James lächelte und antwortete: »Wir werden kaum Land zu sehen bekommen. Frühestens in Kapstadt, wenn wir unsere Vorräte aufstocken, und dann erst wieder in New South Wales.«

»Und wie lange wird das dauern?«

»Schwer zu sagen«, erwiderte James. »Die Reise kann zwei Monate, aber auch sieben Monate dauern. Jetzt ist nicht die günstigste Jahreszeit, deshalb schätze ich, dass wir sechs Wochen bis zum Äquator brauchen und dann noch einmal zwei bis nach Kapstadt. Von dort aus sind wir vielleicht zwei weitere Monate bis New South Wales unterwegs. Also vor September werden wir kaum da sein.«

»September?«, rief Hannah. »Aber jetzt ist es erst April.«

»New South Wales ist weit weg. Ich weiß nicht, ob es etwas gibt, das weiter weg ist.«

»Meinen Sie, wir könnten uns verfahren?« Hannah zitterte.

»Nein«, schmunzelte James. »Mr Dollard ist einer der besten Navigatoren, die es gibt. Auch wenn er wie ein Trunkenbold aussieht, er folgt einer Route von Portsmouth bis zum anderen Ende der Welt wie einer unsichtbaren Schnur. Dreizehntausend Meilen, die für uns nichts als Salzwasser sind. Aber er kann die Straße darunter so deutlich erkennen wie ich Sie.«

»Das Land hinter den Meeren«, murmelte Hannah. »Wie macht er das?«

James zuckte die Achseln. »Berechnungen, Karten, Kompass. Und die Sterne.«

»Die Sterne?«

»Man kann mithilfe der Sterne navigieren. Wenn Sie einmal nachts hier heraufkämen, könnte ich es Ihnen zeigen.« Er schaute Hannah an und sie blickte errötend zur Seite.

»Also …«, sagte sie eilig, »der Wind ist doch dafür verantwortlich, dass das Schiff vorwärtskommt. Aber wenn der Wind sich dreht, fahren wir dann nicht in die verkehrte Richtung?«

James lachte laut auf. »Es ist egal, aus welcher Richtung der Wind weht«, erklärte er. »Wir können ihn so steuern, dass er uns trägt, wohin wir wollen.«

»Aber woher wissen Sie, wann er sich dreht?«

»Sehen Sie diesen Mann dort oben?« James zeigte zum Achterdeck, wo ein Offizier zu den Segeln hinaufblickte.

»Er beobachtet den Wind.«

»Beobachtet den Wind?«

James nickte. »Zu jeder Tages- und Nachtzeit kontrolliert ein Offizier den Wind. Sobald eine Veränderung eintritt, informiert er den Maat. Der Maat informiert den Midshipman und der wiederum den Bootsmann. Der Bootsmann bläst auf seiner Pfeife einen Befehl und die Matrosen trimmen die Segel.«

Hannah beobachtete wieder die Männer, die sich über das ganze Schiff und bis in die höchste Mastspitze verteilten. Sie erinnerten sie an die Hochseilartisten, denen sie einmal mit ihrem Vater in Vauxhall Gardens zugeschaut hatte.

»Und Sie?«, fragte Hannah. »Was genau ist Ihre Aufgabe auf diesem Schiff?«

»Ich bin Leutnant zur See. Oberleutnant, um genau zu sein.«

»Was heißt das?«, fragte Hannah.

»Ich kümmere mich darum, dass die Befehle von Captain Gartside ausgeführt werden. Er sagt mir, was zu tun ist, und ich sorge dafür, dass es geschieht.«

Hannah war beeindruckt. »Dann kommen Sie also gleich nach dem Captain?«

James nickte.

»Werden Sie eines Tages auch Captain? Wie Captain Gartside?«

»Ich werde nie wie Captain Gartside sein.« James rückte seine Manschetten gerade. »Er mag Captain sein, aber ich bin ein Herr. Ich bin nur hier, weil mein Idiot von Vater in seinem Testament angeordnet hat, dass ich erst drei Jahre lang dienen muss, bevor ich mein Erbe antreten kann. Meine Zeit ist in einem Jahr um und danach sieht mich dieser Rostkasten nie wieder. Dann geht es zurück in die Zivilisation.«

»Ihr Vater ist tot? Das tut mir leid.«

»Braucht es nicht«, entgegnete James und sein Blick wurde hart und kalt. »Er war ein Narr. Hatte lauter verrückte Vorstellungen über Arbeit und Lebensunterhalt verdienen im Kopf. Sein Geld war ihm immer unangenehm.«

»Sie erinnern mich an meinen Vater«, sagte Hannah, obgleich ihre Erinnerung von dem letzten Zusammentreffen ihres Vaters mit Thomas überschattet war.

»Alles in Ordnung?« James betrachtete sie froschend.

»Ich musste nur an meinen Hauslehrer denken. Er hat das auch nicht verstanden. Was das heißt.«

»Was es heißt, eine Person von Stand zu sein?«, fragte James.

Hannah nickte.

»Sie gehören hier wirklich nicht hin, Hannah Cheshire«, sagte James sanft.

»Der Schleimbeutel raspelt Süßholz!«, ertönte eine knarrende Stimme. Es war Tabby, die sich wieder einmal hinter dem Fockmast versteckt hatte. »Lügenbeutel, Schleimbeutel«, schimpfte sie und sah Hannah scharf an. »Es ist nicht alles Gold, was glänzt.«

Plötzlich neigte sich das Schiff und Tabby fiel der Länge nach hin. Ächzend versuchte sie aufzustehen, aber ihre alten Knochen waren zu schwach. Dr. Ullathorne hatte ihren Sturz bemerkt.

James hielt ihr die Hand hin, aber sie wich zurück.

»Von einem falschen Fuffziger lass ich mich nicht anfassen«, murmelte sie.

James schüttelte den Kopf. »Ich möchte Ihnen aufhelfen, Mütterchen.«

Tabby spuckte auf seine Hand. »Lügner, elender. Aus einem faulen Ei wird kein guter Brei.«

James erbleichte. »Etwas mehr Respekt, wenn ich bitten darf.«

Dr. Ullathorne stieg die Treppe zum Vorderdeck hinunter und kam auf sie zu. James ging ihm ein paar Schritte entgegen.

Hannah hörte nicht, was sie miteinander sprachen. Sie half Tabby auf die Füße.

»Was ist denn in dich gefahren?«, fragte sie.

»Auf der Zunge Honig, unter der Zunge Essig«, zischte Tabby.

Der Arzt trat auf sie zu und packte Tabby am Arm. Sie beschimpfte ihn wüst.

»Du widerliches Geschmeiß«, sagte er. »Deine Ration ist für den Rest der Woche gestrichen.«

»Das dürfen Sie nicht«, rief Hannah. »Sie ist alt – sie wird verhungern. Es ist doch schon jetzt kaum genug.«

Dr. Ullathorne blickte sie kalt an. »Das ist die Strafe, wenn man einen Offizier beleidigt.«

»Aber sie hat es nicht so gemeint. Sie ist doch bloß ein bisschen verrückt!«

Dr. Ullathornes Augen verengten sich zu Schlitzen.

»Regeln sind Regeln«, blaffte er und zerrte Tabby fort. Hannah sah zu James hinüber und bemerkte, dass er sie beobachtete. Er nickte ihr knapp zu und ging dann zum Achterdeck, wohin sie ihm nicht folgen konnte.