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Scatterheart wanderte immer weiter, bis sie in das Land des Südwinds kam. Sie fragte ihn, ob er wüsste, wo das Land östlich der Sonne und westlich des Mondes sei. »Ich bin niemals dort gewesen«, sagte der Südwind, »aber ich bringe dich zu meinem Bruder, dem Nordwind. Er ist der älteste und mächtigste von uns Brüdern. Steig auf meinen Rücken.«

Als Hannah dreizehn wurde, lud ihr Vater sie in Vauxhall Gardens ein. Sie durfte eine Freundin mitnehmen, aber der Einzige, der ihr einfiel, war Thomas. Arthur Cheshire war nicht sonderlich angetan, aber da es ihr Geburtstag war, bekam sie ihren Willen.

Ihr Vater zahlte den Eintritt von drei Schilling und Sixpence pro Person, dann durften sie den Vergnügungspark betreten. Es gab breite Alleen, die von hohen grünen Hecken und mächtigen Bäumen umsäumt waren.

Hannah spürte das Knirschen der Kieselsteine durch die dünnen Schuhsohlen. Die Abendluft schwirrte von Musik und fröhlichen Stimmen. Sie lauschten einem Orchester, das auf einem hell erleuchteten Podest spielte. Thomas machte sie auf die Statue von Georg Friedrich Händel aufmerksam, aber Hannah war viel zu aufgeregt, um sich für einen längst verstorbenen Musiker zu interessieren.

Sie sahen Panoramen von der Arktis, indische Jongleure und ein Zirkuspferd, das Kunststücke aufführte. Sie aßen Schinken, der so dünn geschnitten war, dass man durch ihn hindurchsehen konnte, und Schokoladeneis. Arthur Cheshire und Thomas Behr tranken Portwein, Hannah Limonade.

Dann hörten sie einen lauten Knall. Die Menschen im Park schrien aufgeregt. Vom Himmel ergoss sich ein farbiger Funkenregen in Rosa und Blau. Hannah verschlug es den Atem. Staunend sah sie zu dem sprühenden Feuerwerk hinauf. Es war wie ein Zauberregen.

Plötzlich tauchte in der Dunkelheit ein hoher Turm auf, der von einer fauchenden blauen Flamme angestrahlt wurde. Eine zartgliedrige Dame in einem glitzernden gefiederten Paillettenkostüm tänzelte auf einem Drahtseil, das über den Park gespannt war.

Hannah schaute Thomas an. Sein Gesicht war vom Feuerwerk rosa und blau erleuchtet.

Das Knallen und Pfeifen der Raketen wurde lauter, als würde es immer näher kommen. Als es besonders laut knallte, zuckte Hannah erschrocken zusammen und schlug die Augen auf. Sie befand sich im dunklen Orlopdeck.

Sie war schon über eine Woche im Bau und hatte sich an den Gestank der Tiere gewöhnt, aber nicht an die Dunkelheit. Im Frauentrakt herrschte wenigstens ein fahles Zwielicht, das durch die Luken sickerte. Hannah ekelte sich vor ihrem verdreckten Kleid und sie hatte ständig Durst. Jeden Tag kam ein Matrose, fütterte die Tiere und setzte Hannah einen Napf Suppe vor. Aber er sprach kein Wort mit ihr.

Wieder drang ein lauter Knall von draußen an ihr Ohr, ein Säugling begann zu weinen. Und noch andere Geräusche nahm Hannah wahr, das Schlagen von Segeln, das Kreischen von Tauen und Ketten und auf einmal hatte sie das Gefühl, als würde das ganze Schiff nach vorn kippen. Der Boden unter ihr hob und senkte sich und sie wurde gegen die eisernen Gitterstäbe ihres Käfigs geschleudert. Sie hörte die Pfeife des Bootsmanns, die Rufe der Männer und das Trommeln von Füßen auf den Planken. Dann war plötzlich alles still.

Das Schiff hatte angehalten.

Hannah drückte ihr Gesicht an die Gitterstäbe und versuchte herauszufinden, was oben vor sich ging. Sie konnten doch unmöglich schon angekommen sein? In New South Wales? Vielleicht war sie schon länger, als sie gedacht hatte, im Bau gefangen. Oder waren sie wieder in eine Flaute geraten?

Sie hörte ein schabendes Geräusch an der Seite des Schiffs, dann ein Platschen. Und wieder wurden Befehle gerufen. Wurde da ein Boot zu Wasser gelassen? Jetzt, wo das Schiff hielt, fühlte sich Hannah schwindelig und unsicher auf den Beinen. Sie hatte sich an das ständige Auf und Ab gewöhnt – sogar während der Flaute hatte das Schiff stets unter ihren bloßen Füßen geschaukelt.

Nun bewegte es sich fast überhaupt nicht.

Die Luft wurde schwer und stickig. Im Stall neben ihr muhte unruhig eine Kuh.

Hannah wusste nicht, wie lange sie sich schon an die Gitterstäbe presste und lauschte, doch schließlich verebbten alle Geräusche auf dem Schiff. Nur noch das gedämpfte Schreien der Möwen war zu hören.

Um Zeit totzuschlagen, sagte sie sich die Könige von England auf. Bei Heinrich dem Dritten blieb sie stecken. Kam nach ihm Heinrich der Vierte? Oder kam erst ein Edward? Ein George oder Charles sicher nicht.

Der Tag zog sich dahin. Hannah überlegte, wie Meg ihre Zeit im Bau verbracht haben mochte.

»Ach, weißt du«, hörte sie Meg sagen, »ich gebe großartige Empfänge und Bankette. Wenn du wüsstest, wie viele vornehme Herren zu mir kommen.«

Hannah fragte sich, ob es draußen schon dunkel war. Sie dachte an den Großen Bären, der nachts funkelnd zum Leben erwachte. Aber dann fiel ihr ein, dass sie ihn in diesem eigenartigen Teil des Himmels nicht sehen konnte. Sie war kurz davor wegzudösen, als sie ein Rascheln im Stroh vernahm. Wahrscheinlich eine Ratte. Wieder raschelte es, diesmal hinter einer der Kühe. Dann ein trippelndes Geräusch, das näher und näher kam. Hannah erschrak. Das schien eine sehr große Ratte zu sein.

»Hannah!«, zischte es.

Hannah seufzte vor Erleichterung.

»Molly, du bist es. Was machst du hier? Warum hat das Schiff angehalten?«

Molly huschte nach vorn und Hannah spürte ihre kühlen kleinen Finger auf der Haut.

»Wir sind in einer Stadt mit spitzen Bergen und Häusern und Leuten, die eine braune Haut haben, und einem großen Felsen, der Tafelberg heißt und ein Tischtuch aus Wolken hat, und Damen, die oben nichts anhaben.«

Hannah zog die Stirn in Falten. »Sind wir in New South Wales?«

»Nein. Wir haben nur haltgemacht, um frisches Wasser und neue Tiere zu laden.«

Als Hannah ›frisches Wasser‹ hörte, brannte ihr ausgetrockneter Mund. Molly zappelte ein bisschen hin und her, dann legte sie etwas in Hannahs Hand.

»Das haben wir bekommen«, sagte sie. Es war ziemlich groß, ungefähr wie eine große Kartoffel, glatt und oval und hatte an einem Ende eine raue Spitze. Es fühlte sich angenehm kühl an.

»Was ist das?«, fragte Hannah.

Molly lachte. »Es ist himmlisch. Aber die Haut darfst du nicht mitessen.«

Dann war sie verschwunden.

Hannah strich über die glatte Form und wünschte, es wäre hell genug, um etwas zu sehen. Sie hielt das Ding vor ihre Nase und roch daran.

Es duftete nach Sommer, herrlich süß und fruchtig. Sie grub mit dem Fingernagel die Haut auf. Saft triefte über ihre Hand. Sie leckte ihn neugierig ab.

Molly hatte recht. Es schmeckte himmlisch. Es schmeckte nach warmen Nächten, nach Feuerwerk, nach faulen, schläfrigen Sommernachmittagen. Hannah schälte die Haut ab und leckte am Fruchtfleisch. Es war klebrig und köstlich. Sie biss ein Stück ab. Der Saft lief ihr über Kinn und Wangen. Grobe Fasern blieben zwischen ihren Zähnen stecken. Sie schmatzte und kaute genüsslich, bis nur noch die leere Schale und ein flacher, ovaler Kern übrig waren.

Am Spätnachmittag des nächsten Tages näherten sich Schritte. Im Dunkel leuchtete eine Laterne auf und dann erschien James. Seine Haare waren zerzaust, aber er war schön wie immer.

Seine Augen blickten unstet und sein Gang war unsicher. Hannah versteckte eilig Thomas’ Taschentuch sowie Kern und Schale der fremden Frucht im Stroh. James taumelte gegen die Gitterstäbe des Käfigs und rutschte zu Boden. Er stank nach Alkohol und Schweiß. Zuerst starrte er nur schweigend auf die Eisenstäbe. Dann sah er Hannah mit glasigen Augen an.

»Wir sind in Kapstadt«, sagte er.

Hannah schwieg und wünschte sich, sie hätte in Thomas’ Erdkundestunden besser aufgepasst. Kapstadt. Lag das in Afrika oder in Südamerika?

»Hier kann man sich ausgezeichnet vergnügen«, fuhr er lallend fort. »Gut essen und trinken. Und die Frauen sind freundlich.« Er musterte Hannah von oben bis unten. Sie zog die Knie an und schlang ihre Arme darum.

James lachte. »Nun spiel bloß nicht die Schüchterne, du Schlampe.«

Hannah dachte daran, dass ihr früher bei James’ Lachen ganz warm geworden war.

»Die Frauen hier haben eine dunkle Haut und sind halb nackt. Jede von denen würde mich anbetteln, dass ich sie mitnehme und zu meiner Frau mache. Alles würden sie dafür geben. Alles.«

Hannah sah zur Seite.

James seufzte.

»Was ist nur los mit dir? Ich habe mich dir gegenüber wie ein Gentleman benommen. Ich habe dir Toastbrot gebracht.« Er gab einen würgenden Laut von sich, er weinte. Sein Mund stand halb offen und seine Lippen hingen schlaff und feucht nach unten. In seinen Augen standen Tränen und aus seiner Nase triefte weißer Rotz. Er war offensichtlich stark angetrunken.

»Eigentlich müsstest du mich anflehen, dass ich dich heirate«, schluchzte er. »Du solltest auf Knien darum betteln.«

Hannah schloss die Augen und sah Thomas im Londoner Nebel verschwinden. Das Herz tat ihr weh. Wo er jetzt wohl war? Ob er auch an sie dachte? Warum nur war sie nicht mit ihm gegangen? Was für eine Närrin war sie doch gewesen.

James redete immer noch. Hannah versuchte, nicht zuzuhören.

»Ich könnte jede Frau auf diesem Schiff bekommen. Jede Frau in dieser Stadt. In jeder Stadt. Aber ich will dich. Ich hasse dich, weil du mir das antust.«

Sie stellte sich vor, wie die Reise verlaufen wäre, hätte sie Thomas’ Angebot angenommen. Sie wunderte sich, dass sie jemals eine Kutsche und ein Haus in Mayfair hatte haben wollen.

»Hier«, nuschelte James, »ich habe ein Geschenk für dich.« Er hielt ihr eine feste ovale Frucht entgegen. Ihre Schale war orangefarben mit grünen und rosa Sprenkeln.

»Das ist eine Mango«, sagte er.

Hannah nahm sie. Es war die gleiche Frucht wie die, die Molly ihr tags zuvor gegeben hatte. Sie legte sie neben sich ins Stroh.

»Bitte gehen Sie, James«, sagte sie.

James starrte sie an. Seine Unterlippe bebte und sein Gesicht war nass und fleckig.

»Du wirst deine Meinung noch ändern«, lallte er. »Du wirst mich anflehen, dass ich dich nehme.«

Hannah schwieg.

James stand auf. »Wie du willst, dann kannst du hier unten warten, bis du krepierst«, zischte er.

Kaum war er fort, tastete Hannah im Dunkeln nach der Mango. Fast automatisch kratzte sie die glatte Schale auf und biss hinein.

Mit einem Mal war die schwankende Laterne wieder da. Ein Arm stieß durch die Gitterstäbe, packte sie und riss sie grob nach oben. Die Mango fiel ins Stroh.

»So lasse ich mich nicht behandeln«, schrie James. »Wage es ja nicht, mich noch einmal abzuweisen.« Er zerrte an Hannahs Kleid und zog sie zu sich heran. Sie prallte gegen die klirrenden Eisenstäbe.

»Gut genug, meine Geschenke anzunehmen, aber nicht gut genug, mich zu heiraten, so ist das also?«, schimpfte er. Seine Alkoholfahne drehte Hannah den Magen um und sie musste würgen. James stieß ihr einen Finger in den Mund. »So einfach bekommst du meine Geschenke nicht. Spuck es aus!«

Sein Finger tastete zwischen Hannahs Zähnen nach den Mangostückchen. Hannah schmeckte Rum, Sandelholz und Tabak.

Sie biss mit aller Kraft zu.

Ihr Mund füllte sich mit etwas Warmem, Feuchtem, das wie ein angelaufener Silberlöffel schmeckte. James schrie, er zog seinen Finger aus ihrem Mund und torkelte nach hinten. Etwas Rotes triefte über seine Hand. Sie spuckte sein Blut aus und erbrach sich.

Von oben waren Rufe zu hören, Schritte näherten sich. »Was ist hier los?«, rief jemand.

Hannah spähte in die Dunkelheit. Es war Captain Gartside in Begleitung von zwei Offizieren.

»Schauen Sie nur, was sie mir angetan hat«, brüllte James und wedelte mit seiner blutigen Hand.

Der Captain gab einem der Offiziere ein Zeichen.

»Bringen Sie ihn auf die Krankenstation.« Dann drehte er sich zu Hannah um und musterte sie mit hochgezogenen Augenbrauen.

Hannah konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie aussah. Schmutzig und ungekämmt und das Kinn von James’ Blut und dem Mangosaft verschmiert.

»Ich dachte, Sie und Belforte seien ein Pärchen«, sagte der Captain. »Jedenfalls hat er mir diesen Eindruck vermittelt.«

Hannah wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab.

»Nein, sind wir nicht.«

Captain Gartside zog die Stirn in Falten.

»Warum hat er mich dann gebeten, mit Ihnen in New South Wales bleiben zu dürfen?«

»Er sagt, dass er mich liebt, Sir.«

»Er behauptet, Sie seien eine Dame von Stand, aber diesen Eindruck habe ich nicht.«

Hannah schwieg.

»Ich meine, wenn Sie eine junge Dame aus gutem Hause wären, würde er sich nicht so für Sie interessieren«, sagte Captain Gartside und lächelte leise. Er verschränkte seine Hände auf dem Rücken. »Ich habe gehört, dass Leutnant Belforte bei den Damen gut ankommt. Etwas, das ich nicht recht verstehe – ich komme aus einer Welt, in der der Wert eines Mannes an seinen Taten gemessen wird, nicht an der Qualität seines Mantels.«

»Ja, Sir.«

»Mir scheint, Sie haben entdeckt, dass der Leutnant vielleicht doch nicht so verlockend ist.«

»Ja, Sir.«

»Ich glaube, Sie gehen Mr Belforte in Zukunft besser aus dem Weg«, fuhr Captain Gartside fort. »Ich kann nicht zulassen, dass meine Offiziere von Sträflingen angefallen werden. Das geht einfach nicht. Ich müsste Sie eigentlich auspeitschen lassen.«

»Ja, Sir.« Hannah wusste nicht, was sie sonst hätte antworten sollen.

»Das war in der Tat eine sehr üble Geschichte mit Ihrer Freundin.«

Hannah schluckte, sie schmeckte immer noch das Blut, das sich mit der Süße der Mango vermischte.

Captain Gartside nickte.

»Ich werde Belforte sagen, dass er sich von Ihnen fernhalten soll, und ich rate Ihnen, das ebenfalls zu tun.« Er drehte sich zu dem anderen Offizier um. »Veranlassen Sie, dass ihr der Kopf geschoren und sie auf halbe Ration gesetzt wird.«

Er machte kehrt und ging.