Scatterheart wanderte durch den glühenden Wüstensand, bis sie benommen und erschöpft zusammenbrach.
Zwei Tage nach der Äquatorüberquerung und nach drei Monaten auf See geriet die Derby Ram in eine Flaute. Das Schiff kroch dahin und blieb schließlich stehen. Kein Wind regte sich in diesem Teil des Ozeans. Es gab zwar aus verschiedenen Richtungen leichte Luftströmungen, doch die reichten nicht aus, das Schiff in Bewegung zu setzen. Die Besatzung lungerte untätig herum und wartete auf eine Brise, die sie sich zunutze machen konnte.
Es war heiß, unvorstellbar heiß. Die Hitze drückte auf das Schiff wie eine feuchte Wolldecke, die alles und jeden erstickte. Die Gesichter der Menschen wurden rot und rissig. Die Lippen sprangen auf und bekamen Brandblasen. Die Offiziere entledigten sich ihrer schweren, dunklen Wolljacken und gingen in Hemdsärmeln zum Dienst. Die Matrosen, die gewöhnlich barfuß und mit nacktem Oberkörper arbeiteten, deckten Rücken und Füße ab, um sie vor der unbarmherzigen Sonne zu schützen.
Die Segel wurden gelockert und hingen schlaff an den Masten. Kleine Wellen klatschten gegen den Rumpf und brachten das Schiff in Übelkeit erregende Schaukelbewegungen, die ganz anders waren als das gleichmäßige Rollen unter vollen Segeln.
Hannah kauerte sich auf ihrem Bett zusammen. Ihr war schwindelig, sie hatte keinen Appetit und bei jedem Versuch, etwas zu essen, rebellierte ihr Magen und sie musste erbrechen.
Molly hatte sich angewöhnt in Long Megs Bett zu schlafen. Jeden Morgen holte sie Megs Löffel und kratzte eine neue Kerbe in das Brett über dem Bett. Dann legte sie sich wieder hin, sah zu Hannah hinüber und wartete, dass diese etwas sagte.
»Warum redest du nicht über Long Meg?«, fragte sie eines Morgens.
Hannah reagierte nicht. Sie konnte nicht darüber sprechen. Sie wusste, wenn sie nur Megs Namen ausspräche, würde sich ihre Taubheit auflösen und sie würde zusammenbrechen. Molly schaute sie aus ihrem gesunden Auge groß an.
»Wieso vermisst sie niemand?«
Hannah schwieg.
Molly seufzte und ging zu einem anderen Schlafplatz, wo Cathy mit Patty, einer missgelaunten Rothaarigen, und Susan, einer pummeligen Frau mit Hasenscharte, lustlos eine Partie Rommé spielte.
»Vermisst ihr Long Meg nicht?«, hörte Hannah sie fragen. Cathy drehte sich zu Molly um.
»Halt den Mund«, fuhr sie sie giftig an. »Sie kommt nicht wieder.«
Molly runzelte die Stirn. Ihre glänzende Haut knitterte wie Papier.
»Das weiß ich«, sagte sie, »aber warum sprechen wir nicht über sie? Warum erinnern wir uns nicht an sie?«
Patty sah sie böse an und legte ihre Karten ab.
»Weil wir sonst noch genauso enden.«
Hannah dachte daran, wie Long Meg zu Beginn der Reise die Offiziere gereizt hatte. Einmal war sie mit schreckverzerrtem Gesicht zu einem hingerannt und hatte geschrien: »Sir! Oh, Sir! Helfen Sie mir! Da ist was hinter mir her! Etwas Großes, Weißes! Es folgt mir ständig, egal, wohin ich geh!«
Der Offizier verdrehte die Augen.
»Was denn, Meg?«
Und plötzlich verschwand ihr entsetzter Gesichtsausdruck und sie brüllte lachend: »Mein Arsch!«
Hannah sprach über eine Woche lang mit keiner Menschenseele.
Die wenigen Male, die sie ihr Bett verließ, um ihre karge Wasserration in Empfang zu nehmen, hielt sie ständig den Kopf gesenkt, um ja nicht James sehen zu müssen. Sie brachte es nicht fertig, an ihn zu denken, an sein hübsches Gesicht, seine sanften Hände, seine wohltönende Stimme. Dies war alles so weit entfernt von ihrem Bild von Long Meg, wie sie kalt und still im Behandlungszimmer von Dr. Ullathorne lag.
Natürlich hatte James nichts damit zu tun. Bestimmt nicht. Er war ein Gentleman.
Aber dann dachte sie an den James, der beim Tanzen lachend Megs Mantel getragen hatte, und an seine vom Alkohol geröteten Wangen.
Hannah erinnerte sich, wie ihr Vater ihr den Mantel geschenkt hatte. Er hatte in einer weißen Schachtel gelegen, in blassrosa Seidenpapier eingeschlagen und mit Rosenwasser besprenkelt.
Nach einer Woche waren die Wasservorräte fast aufgebraucht. Hannahs Mund trocknete aus und sie hatte einen fauligen Geschmack auf der geschwollenen Zunge. Das Zahnfleisch war schmerzhaft entzündet. Bei jeder Bewegung floss der Schweiß in Strömen.
Alles – Stoffe, Leder und Lebensmittel – wurde feucht und überzog sich mit einer weißgrünen Schimmelschicht. Die Matratzen und Decken waren klamm, die Blechnäpfe und Löffel rosteten und nach zehn Tagen waren den Männern lange Bärte gewachsen, da ihre Rasiermesser unbrauchbar geworden waren.
Das Schiff trieb träge im stillen Ozean, umgeben von einer Abwasserlache. Und über allem hing der Gestank von Jauche und vergammeltem Essen. In dem fauligen Wasser gediehen seltsame, milchig grüne Algen, die sich immer weiter ausbreiteten und bald am Rumpf des Schiffs hinaufwucherten.
Das Orlopdeck erstickte in Moder. Durch Risse im Schiffsbauch, der in der Hitze aufgequollen war, drang allerlei Unrat in den Laderaum. Alles war in einen ekelerregenden Gestank nach Verwesung und Blut gehüllt.
Hannahs Knie und Handgelenke schmerzten Tag und Nacht, auf ihrer Haut bildeten sich schwarze und blaue Stellen. Sally sagte ihr, es sei Skorbut und sie müsse Dr. Ullathorne aufsuchen, doch Hannah schüttelte nur matt den Kopf.
Von den Deckenbalken tropfte geschmolzener Teer auf die Frauen. Hannahs Gesicht und Arme waren bald von schwarzen Brandmalen übersät.
Molly hatte schon fünfzehn Kerben in das Brett über Long Megs Bett gekratzt, als James zu Besuch kam.
Hannah drehte ihm den Rücken zu, aber er berührte sie sanft an der Schulter. Sie freute sich insgeheim ein bisschen darüber, fragte sich jedoch, warum er nicht schon früher gekommen war.
»Hannah«, sagte er, »erlauben Sie, dass ich Ihnen helfe. Sonst sterben Sie.«
Sie war zu schwach, um sich zu wehren.
Er hob sie vom Bett und trug sie die Treppe zum Oberdeck hoch. Obwohl alles andere um sie herum nach verdorbenem Essen und Fäkalien stank, duftete er nach Veilchen und Sandelholz. Als sie oben angelangten, war Hannah von der auf dem Wasser gleißenden Sonne so geblendet, dass sie zuerst nichts sehen konnte. Auf den sengend heißen Planken brodelte der Teer.
Fürsorglich wickelte James ein paar Stofffetzen um ihre Füße, damit sie sich auf dem glühenden Holz nicht verbrannte. Dann führte er sie unter ein behelfsmäßig errichtetes Sonnensegel und ließ sie Platz nehmen.
Im Gegensatz zu allen anderen Männern auf dem Schiff war James immer noch glatt rasiert. Er hielt Hannah einen Blechbecher hin.
»Trinken Sie. Sie müssen doch wieder gesund werden.« Hannah hatte einen unerträglichen Durst. Sie griff nach dem Becher, nahm gierig einen Schluck und spuckte sofort wieder aus. Die Flüssigkeit verdampfte zischend auf dem Deck. Ihr Gaumen und ihre Zunge brannten.
»Das ist Essig«, sagte James. »Das wird Ihnen helfen.«
Dort, wo sie den Essig hingespuckt hatte, waren blutige Schlieren. Ihr Zahnfleisch fühlte sich aufgequollen an wie ein Schwamm. Sie fuhr mit ihrer geschwollenen Zunge über ihre Zähne und spürte, dass sich etwas gelockert hatte. Sie spuckte noch einmal aus. Ein weißer Zahn fiel auf das Deck und von Hannahs Unterlippe löste sich ein langer blutiger Speichelfaden.
Aus den Augenwinkeln sah sie, wie James zusammenzuckte. Sie machte verlegen die Augen zu.
»Trinken Sie den Essig, Hannah«, sagte er. »Bitte.«
Sie hob den Becher an die Lippen und trank. Der Essig brannte wie Feuer und sie konnte kaum schlucken. Sie ließ den Becher fallen, beugte sich vor und erbrach. James hielt ihr die Haare nach hinten und streichelte sanft ihre Stirn.
»Schsch, jetzt wird alles wieder gut. Ich werde mich um Sie kümmern.«
Hannah erinnerte sich undeutlich an sein Gesicht, als er sie nach der Äquatortaufe über das Deck gewirbelt hatte. Vorsichtig fuhr sie mit der Zunge über ihr wundes Zahnfleisch und ertastete in der oberen Zahnreihe hinten links eine Lücke. Dann betrachtete sie den weißen Zahn auf den Planken, der in einer Pfütze aus Blut und Speichel lag. Sie war in der Hitze schon fast wieder getrocknet.
»Sie haben mich angelogen«, krächzte sie heiser. »Wegen Long Meg.«
»Zugegeben. Und ich entschuldige mich dafür. Ich wollte sie retten, aber sie war schon tot, als ich hinkam. Ich konnte nichts mehr tun. Ich wollte es Ihnen nicht sagen, weil … ich wollte Sie nicht aufregen.«
Er nahm zärtlich ihre Hände.
»Ich würde niemals etwas tun, das Sie verletzt, Hannah.« Hannah blinzelte. Die gleißende Helligkeit tat ihren Augen weh. Der Essig blubberte in ihrem leeren Magen.
»Sie haben es gewusst«, keuchte sie. »Sie wussten, dass ich es irgendwann erfahren würde. Alle wissen es.«
James streichelte mit seinem Daumen ihre Hand. »Es heißt, sie sei an einer Infektion gestorben.«
Die Hitze schlug wie ein Hammer auf Hannah ein. Sie bekam Platzangst, als würde sie von einem schrecklichen Gewicht niedergedrückt werden.
»Dr. Ullathorne …«, setzte sie an.
James seufzte. »Es war falsch, was er getan hat. Aber wir brauchen ihn. Er ist unser Schiffsarzt. Auf der Krankenstation sind zurzeit über sechzig Personen: Sträflinge, Matrosen und Offiziere. Ohne ihn werden wir diese Reise nicht überleben.«
Hannah versuchte ihre Lippen mit der Zunge ein wenig zu befeuchten.
»Hannah«, sagte James, dann unterbrach er sich und drückte ihre Hand. »Ich möchte mich um Sie kümmern.«
»Warum?«, fragte Hannah. »Warum wollen Sie sich um mich kümmern?«
»Weil ich Sie liebe.«
Hannah fragte sich, ob jemand, der so grausam war, Long Meg so etwas anzutun, wirklich lieben konnte. Was hatte sie getan, dass er solche Gefühle für sie hegte?
»Warum? Warum lieben Sie mich?«
»Ich weiß, wer Sie sind, Hannah«, sagte James. »Ich weiß, wer Ihr Vater war.«
Hannah runzelte die Stirn.
»Mein Vater war ein Halunke«, erwiderte sie. »Er hat das Geld meiner Mutter verspielt.«
»Er war ein Edelmann«, entgegnete James. Er drückte wieder ihre Hand. »Ich weiß, dass ich Sie glücklich machen kann.«
Hannah wurde schwindelig, sie dachte plötzlich daran, dass Thomas Behr genau dasselbe zu ihr gesagt hatte. Es kam ihr vor, als sei das in einem anderen Leben gewesen. Sie spürte, wie die Taubheit von ihr wich und ein Gefühl von Traurigkeit ihr Herz beschlich. Sie wehrte sich dagegen, wollte die Erstarrung der vergangenen Tage nicht verlieren.
»Bitte, Hannah«, sagte James. »Kommen Sie mit in meine Kabine. Ich werde mich um Sie kümmern, wenn wir nach New South Wales kommen. Ich werde Sie heiraten. Wir können nach London zurückkehren und ich werde uns ein Haus in May fair mit vierzig Dienern und sechs Kutschen kaufen.«
Hannah gab keinen Ton von sich. Von oben war ein Grollen zu hören. Sie hob den Kopf und sah James an. Seine Uniform war frisch und makellos. Kein Schweißtröpfchen glitzerte in seinen Augenbrauen. Er war wie ein Engel, der über dem Schiff schwebte, während die anderen schwitzten, verbrannten und verfaulten.
Sie dachte an Thomas Behr und an seine Ärmel, die immer zu kurz für seine langen Arme gewesen waren. Sie dachte an den großen weißen Bären und sah, wie ein Schatten
über James’ Gesicht wanderte, als könnte er ihre Gedanken lesen.
Sie wusste, dass er sie belog.
Er war genau wie ihr Vater. Hannah erinnerte sich daran, wie aufgebracht Thomas Behr gewesen war, als Hannah ihm erzählt hatte, dass Arthur Cheshire eine Dienerin gefeuert hatte, weil sie beim Servieren mit der Tasse geklappert hatte. Hannah hatte sich Thomas’ Aufregung nicht erklären können. Jetzt verstand sie.
Ihr Vater hatte sich nicht für sie interessiert. Er hatte sie geliebt, ja, aber das war nicht dasselbe. Auch James interessierte sich nicht für sie, trotzdem würde er alles tun, damit sie bei ihm bliebe, selbst wenn er dafür sämtliche Sträflinge auf dem Schiff ermorden müsste.
Hannah hatte gedacht, James sei ein Gentleman wie ihr Vater. Ein Herr von Stand. Long Meg hatte recht gehabt. James war kein Gentleman, aber nicht deshalb, weil sein Vater Knöpfe verkaufte.
Doch was blieb ihr anderes übrig? James bot ihr Wohlstand und Sicherheit an. Was sollte sonst aus ihr werden? Eine Dienerin in Sydney Town vielleicht? Eine Fabrikarbeiterin? Hannah erschauderte bei dieser Vorstellung. James würde sich um sie kümmern. Hannah biss sich auf die Lippe und bat Long Meg in Gedanken um Vergebung. Plötzlich wurde es dunkel, als hätte jemand einen Vorhang vor die Sonne gezogen.
Hannah holte tief Luft.
Dann öffnete der Himmel seine Schleusen und schleuderte solche Mengen von Wasser herab, dass Hannah im ersten Moment nicht wusste, wo das Meer aufhörte und der Regen begann. Es war ein warmer tropischer Platzregen und Hannahs Kleid klebte bald unangenehm an ihrem Körper. Die Planken zischten und knisterten, als das Wasser auf sie einprasselte.
»Belforte!«, rief jemand.
Hannah blickte auf und sah Captain Gartside, der mit nacktem Oberkörper und nassem, strähnigem Haar auf dem Achterdeck stand. Sein Gesicht war rot und rissig, die Haut auf seiner Nase pellte sich. Das Wasser lief in Bächen über sein Gesicht.
»Gleich, Sir«, sagte James, ohne seinen Blick von Hannah zu lösen.
»Nicht gleich, jetzt sofort!«, schrie der Captain. »Das Kreuzholz!«
James hielt noch einen Moment lang inne und schaute Hannah forschend an, dann stand er auf und rannte durch den Regen davon.
Der Regenguss dauerte nur eine Minute und schon bald hatte die sengende Sonne jedes Wassertröpfchen aufgeleckt und das Deck glühte wieder wie ein Backofen.
James war noch auf dem Achterdeck und gab den hin und her rennenden Matrosen Anweisungen. Er sah immer noch makellos aus, als hätte der Regen ihm nichts anhaben können.
Captain Gartside kniete vor dem Großmast und zog mit aller Kraft an einem Seil. Der Schweiß rann in Strömen über seine Stirn.
Hannah seufzte. Sie würde auf James warten. Er würde sie in seine Kabine bringen und ihr Wasser und richtiges Essen geben. Doch der Regen hatte irgendwie reinigend auf Hannahs Seele gewirkt. Vielleicht geschah es ihr auch recht, als Dienerin oder Fabrikarbeiterin in Sydney Town zu enden.
Mit einem Mal war ihr alles zu schwierig, zu viel. Sie wollte nicht mit James sprechen. Sie wollte auch nicht an Long Meg denken oder irgendwelche Entscheidungen treffen. Sie wollte sich nur auf ihrem Bett zusammenrollen und schlafen, für immer und ewig schlafen.