NEUNUNDDREISSIG
Der Regen hatte aufgehört. Hin und wieder ließ ein Windstoß die Blätter an den Bäumen um Claires kleinen Garten erzittern und im Sonnenlicht glitzernde Tropfen auf den Boden fallen.
Claire trat mit zwei großen Tassen Tee aus dem Haus, reichte mir eine und richtete ihren Stuhl wie ich den meinen auf die kleine Sonnenuhr und den Bronzeschmetterling darauf aus.
Wir lauschten eine Weile schweigend dem Gesang eines Vogels im Wald.
»Dann hast du also geahnt, wer er war«, stellte ich fest.
»Paul? Ja, von Anfang an. Und meine Großmutter habe ich auch gleich erkannt. Natürlich wusste ich nicht, ob ich den Moment ihrer ersten Begegnung miterleben würde, aber ich hatte es gehofft …« Sie sah mich an. »Tut mir leid, Liebes, dass ich dir diesen Sommer keine größere Hilfe war. Ich dachte, es wäre das Beste, wenn du dich allein zurechtfindest.«
»Dir war bewusst, was geschah.«
»Natürlich. Mir erging es ähnlich, mit dem Unterschied, dass du von dieser Zeit in die Vergangenheit reist, während dein Jetzt für mich die Vergangenheit ist.« Auf die Sonnenuhr schauend, redete sie weiter, als diskutierten wir ein ganz alltägliches Thema. »Als ich das erste Mal hierher zurückkam, war ich jung und allein wie du. Meine Eltern hatten sich scheiden lassen, das Haus verkauft und beide neue Partner gefunden. Plötzlich hatte ich Stiefbrüder und -schwestern, aber kein Zuhause mehr und sehnte mich nach meinen Kindertagen bei meinen Großeltern in St. Non’s.« Sie streckte die Beine aus und nahm einen Schluck Tee. »Ich schlug mich ohne enge Bindungen an Personen oder Orte als Künstlerin durch. Irgendwann bin ich in den Ferien hergefahren und habe zwei Wochen damit verbracht, Cornwall neu zu entdecken, Besuch im »Cloutie Tree« mit Cream Tea inklusive.
Ohne meine Großeltern war es anders im »Cloutie Tree«, doch die Sonne schien, und die Rosen standen in voller Blüte. Hinterher bin ich durch die Gärten geschlendert wie früher. Weil meine Großmutter den Ruhigen Garten immer am liebsten gemocht hatte, bin ich rauf und habe mir einen besinnlichen Moment im Gedenken an sie gegönnt. Als ich gehen wollte, konnte ich den Weg nicht mehr finden.«
Claires Schilderung nach hatte sie eher verdutzt als panisch reagiert. Wie konnte sie sich in dieser Umgebung, die sie so gut kannte, verlaufen haben? Am Ende hatte sie den Pfad entdeckt – wenn auch nicht dort, wo sie ihn vermutete. Und auch die Teestube war nicht mehr dort, wo sie hätte sein sollen.
»Es gab nicht mal ein Gewächshaus. Ich dachte, ich verliere den Verstand«, erklärte Claire. »Das kannst du sicher nachvollziehen.«
»Ja. Und was hast du gemacht?«
»Ich bin in Panik zum Haus gelaufen und habe gegen die Tür gehämmert, bis jemand öffnete. Das war meine erste Begegnung mit deinem Onkel George.« Er hatte Claire hereingebeten, sich ihre Geschichte angehört und ihr Tee gekocht.
»Keine Ahnung, wo die Kinder waren. Mark muss in der Schule gewesen sein, und Susan machte wahrscheinlich gerade ihr Mittagsschläfchen.«
George war zu dem Zeitpunkt seit einem Jahr Witwer, was sie nicht wusste.
»Dann hat jemand angerufen – das Telefon war, glaube ich, im Flur. George ist hingegangen, und …« Sie schwieg kurz, als fiele es ihr schwer, die weiteren Geschehnisse zu beschreiben. »Und plötzlich war ich wieder im Ruhigen Garten.«
Alles war an seinem Platz. Zur Beruhigung hatte sie in der Teestube ein Kännchen Tee bestellt. Nach einer Stunde im normalen Betrieb des »Cloutie Tree« war es ihr schließlich gelungen, sich einzureden, dass das soeben Erlebte ein Tagtraum gewesen sein musste.
Trotzdem hatte sie hastig ihre Sachen gepackt, das Hotel verlassen und war übers Moor nach Norden gefahren, um sich auf der anderen Seite Cornwalls in der Nähe von Boscastle neue Anregungen für ihre Bilder zu suchen.
Drei Monate vergingen, bis sie den Mut aufbrachte, nach Trelowarth zurückzukehren.
»Ich konnte nicht aufhören, daran zu denken«, gestand Claire. »Und an ihn. Ich hatte Träume …«
Inzwischen war es Herbst geworden. Die meisten Touristen waren abgereist, in den Straßen von Polgelly herrschte Ruhe, und oben in Trelowarth wurden die Gärten winterfest gemacht.
Sie hatte an die Tür geklopft. »Ich war zu dem Schluss gekommen, dass ich die Sache nur loswerden würde, wenn ich mir selbst bewies, dass sie nicht geschehen sein konnte.« Wie erwartet, war die Tür von einem anderen Mann geöffnet worden, der George zwar ähnelte, aber rötliche Haare hatte und schlanker war. »Er war sehr nett. Ich habe ihn nach George gefragt, und er hat mir geantwortet, der einzige George Hallett, den er kenne, sei sein Großvater gewesen, der sei allerdings schon lange tot.«
Ich machte große Augen. »Sein Großvater? Dann war er also …«
»Marks ältester Sohn«, führte Claire den Satz für mich zu Ende. »Stephen. Ein reizender junger Mann, ein richtiger Gartenkünstler. Obwohl alle Kinder von Mark künstlerisch veranlagt waren. Das hatten sie wohl von ihrer Mutter.«
»Felicity.«
»Ja.«
Claire nahm einen weiteren Schluck Tee. »Nach dem Gespräch mit Stephen wusste ich nicht mehr, was ich denken sollte. Ich merkte nur, dass etwas mich anzog … nein, das Wort ist vielleicht zu stark. Etwas lud mich ein hierzubleiben. Ich bin runter in den Pub in Polgelly, zum Lunch und zum Nachdenken. Zwei Tische weiter saß ein alter Mann, der mich einige Zeit musterte, bevor er mit seinem Bier herüberkam, sich zu mir setzte und sich vorstellte.«
Er war entwaffned in seiner lockeren Art, und sie hatten sich über ihre Malerei, ihre Großeltern und alles, woran sie sich im Zusammenhang mit St. Non’s erinnerte, unterhalten.
»Dann kamen wir auf Trelowarth und die Gärten zu sprechen, und er erzählte mir, seine Frau sei eine Hallett gewesen. Durch sie habe er ein Cottage auf dem Grundstück geerbt. Wenn ich wolle, könne ich es den Winter über mieten, zum Malen. Also …«
Sie breitete die Hände aus.
»Dieses Cottage?«
»Ja.«
»Dann war es in deiner eigenen Zeit ebenfalls dein Zuhause.«
Claire nickte. »Ist es immer noch. Ich reise nach wie vor zwischen den Zeiten hin und her, wenn auch nicht mehr ganz so oft wie früher. Mit dem Alter wird es seltener, aber es lässt sich nach wie vor nicht kontrollieren.«
Mir fiel ein, was Mark mir erzählt hatte: dass Claire in seiner Kindheit tage-, manchmal sogar wochenlang zum Malen verschwunden sei und dies immer noch ab und an tue …
»Leicht kann es nicht für dich sein, jetzt, da es Onkel George nicht mehr gibt«, bemerkte ich.
»Es war nie leicht.«
In den ersten Wochen im Cottage war nichts Außergewöhnliches passiert. Dann hatte sie eines Tages bei einem Spaziergang in den Gärten Stimmen gehört und durch die halb offene Tür in der hohen Mauer gesehen, wie Mark und George die Rosen stutzten.
George hatte sie angelächelt und gesagt: »Hallo. Du bist wieder da.«
Da war es um sie geschehen gewesen.
Doch es hatte sich nicht leicht gestaltet.
»Das Leben war ganz anders als mein gewohntes. Wenn du glaubst, wir Frauen hätten eine Menge erreicht, dann warte mal ab, was noch kommt. Außerdem musste ich natürlich auf die Kinder Rücksicht nehmen, und je mehr ich George liebte, desto komplizierter wurde es.«
Der Vogel hatte aufgehört zu singen. Im Gras raschelte ein Tier, und dann war nur noch das Rauschen des Windes zu hören und in der Ferne der Schrei einer Möwe.
»Ich habe mich abgesetzt«, gestand sie mit leiser Stimme. »Weil mir alles zu viel wurde. Ich verließ das Cottage in meiner eigenen Zeit und ging nach London.«
Sie war fast ein ganzes Jahr weggeblieben.
»Was hat dich zurückgelockt?«, fragte ich.
»Die Liebe.«
Wir saßen eine Weile schweigend da.
»Meinst du, du kannst schon darüber reden, Liebes? Ich könnte mir vorstellen, dass deine Geschichte aufregender ist als meine.«
»Wieso das?«
Sie berührte meinen Finger. »Dein Ring steckt an der anderen Hand. So, wie ich dich kenne, ist das kein Zufall. Du hast dich in letzter Zeit sehr für die Schmuggler von Polgelly interessiert. Und der Mantel, den du gestern getragen hast, war voller Blut.« Sie strich mir das Haar aus dem Gesicht. »Das war nicht er, oder?«
»Wer?«
»Der Mann, den du geheiratet hast.«
Ich hatte mich oft gefragt, warum Claire immer gelassen blieb. Nun kannte ich den Grund. Nach allem, was sie erlebt hatte, würde sie so schnell nichts mehr überraschen.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Er würde mich nie schlagen.«
Dann erzählte ich ihr die Geschichte. Das dauerte seine Zeit, und wir hatten eine weitere Kanne Tee ganz und einen Teller mit Sandwiches halb geleert, als ich bei dem Mord an Creed anlangte.
»Gott sei Dank ist er tot«, lautete Claires Kommentar. »Was für ein Mistkerl.«
»Hoffentlich war ihm in der Zukunft keine wichtige Rolle zugedacht.«
Claire hielt das für unwahrscheinlich. »Dein Tun kann die Geschichte nicht verändern, hast du gesagt.«
»Das ist Daniels Theorie. Seiner Meinung nach ist die Geschichte festgeschrieben. Deshalb war ich nicht in der Lage, Jack vor dem Tod zu bewahren. Seine Zeit war gekommen.« Es fiel mir nicht leicht, das auszusprechen.
Claires ruhiger Blick tröstete mich. »Er scheint ein sehr kluger Mann zu sein, dein Daniel.«
»Ja.« Was mich an eine andere Theorie erinnerte. »Claire?«
»Ja, Liebes?«
»Als du damals so lange in London warst … was ist da passiert? Bist du in dieser Zeit in die Vergangenheit gereist?«
»Nein. Wenn ich mich außerhalb von Trelowarth aufhielt, geschah nichts.«
»Und wenn du in Polgelly oder St. Non’s warst? Bist du von dort je in die Vergangenheit verschwunden?«
»Nein, nur von hier aus.«
Hoffnung stieg in mir auf. »Dann ist dieses Phänomen also tatsächlich an Trelowarth gekoppelt.«
Claire pflichtete mir bei. »Vielleicht hat es etwas mit Felicitys Wasseradern zu tun.«
Ich runzelte die Stirn. »Aber warum nur wir beide? Warum nicht Susan oder Felicity oder …«
»Liebes, das ist ein Rätsel, das wir wahrscheinlich nie lösen können. Keine Ahnung, was deinen Onkel George und mich zusammengebracht hat. Irgendwie hat er mich gerufen, das ist das Einzige, was ich weiß. Oder ich habe ihn gerufen.« Die Sonne ging allmählich unter, und die Schatten wurden länger. »Ich glaube, weil wir uns beide verloren fühlten, haben wir einander gefunden. Wie finden sich Menschen?«
Die Antwort darauf kannte ich nicht. Daniel war nach dem Verlust von Ann einsam gewesen, und ich hatte Katrina vermisst. Wer von uns hatte wohl als Erster über die Jahrhunderte hinweg nach dem anderen gerufen?
Ich blickte seufzend auf die Sonnenuhr. »Es ist so schwierig. Was, wenn ich nie mehr in seine Zeit zurückkehre? Was, wenn alles einfach aufhört oder …«
Ich musste an Fergal denken, der gemeint hatte, er wolle nichts über seine Zukunft erfahren und auch andere Menschen sollten sich nicht dafür interessieren, weil dieses Wissen eine Last sei. Wäre er hier gewesen, hätte ich ihm sagen können, dass es manchmal eine ebenso große Last war, die Zukunft nicht zu kennen.
Das erklärte ich Claire. »Es ist so schwierig, nicht zu wissen, was geschehen wird.«
»Soll ich es dir verraten?«, fragte sie.