SIEBEN

Symbol

Der Begriff »Halluzination«, hieß es in dem Internet-Artikel, bezieht sich auf falsche Sinneswahrnehmungen, meist der Augen oder Ohren.

Ich machte es mir auf dem Stuhl an Marks Schreibtisch bequem und las weiter. Der endlos lange, in Fachsprache verfasste Artikel beschrieb in dem Unterpunkt »Auditive Halluzinationen« sehr zutreffend das Phänomen der Stimmen, die ich in meinem Zimmer durch die Wand gehört hatte. Und obwohl die meisten Leute, die imaginäre Dinge wahrnahmen, wohl eher Menschen als Pfade heraufbeschworen, war mir klar, dass das, was ich im Wilden Wald gesehen hatte, unter die Kategorie »Visuelle Halluzinationen« fiel.

Die Ursachen, erklärte der Artikel, seien unterschiedlicher Natur. Wenn ich für mich Schizophrenie ausklammerte, blieben noch eine ganze Reihe anderer, darunter Stress, Depressionen und Erschöpfung. Außerdem gab es Arzneien, bei denen Halluzinationen als Nebenwirkung auftreten konnten, insbesondere Beruhigungsmittel.

Ich holte meine Schlaftabletten aus der Handtasche auf dem Boden neben dem Stuhl, gab den Namen in den Computer ein und überprüfte die Nebenwirkungen. Und tatsächlich, da stand es schwarz auf weiß: Halluzinationen.

Ich atmete durch. Also verlor ich doch nicht den Verstand, dachte ich erleichtert. Die Pillen waren schuld. Wenn ich sie nicht mehr nahm und somit die Ursache beseitigte, hatten auch die Halluzinationen ein Ende, behauptete der Artikel.

Ich hörte, wie die Hintertür aufging, jemand eintrat, die Stiefel abstampfte und wie die Pfoten der Hunde über den Boden klackerten. Mir blieb gerade genug Zeit, um die Schlaftabletten in meiner Handtasche verschwinden zu lassen und das Suchfenster zu schließen, bis Mark hereinkam und sich erkundigte: »Na, macht’s Spaß?«

»Ich weiß nicht so recht. Welcher Entwurf gefällt dir?«

Er hob argwöhnisch eine Augenbraue. »Ich dachte, die Website ist für Susan.«

»Ja, aber wir versuchen gerade, ein Image für Trelowarth zu kreieren, und dabei möchtest du sicher ein Wörtchen mitreden. Schließlich ist auch dein Blog betroffen.«

»Mein Blog?«

»Du bist doch der Fachmann für alte Rosensorten. Nun zieh kein solches Gesicht. Das wird dir Spaß machen. Per Internet kannst du mit all deinen Kunden ständig in Kontakt sein.«

»Das bin ich jetzt schon. Sie schicken mir ihre Aufträge per E-Mail, und ich führe sie aus.«

»Was für eine gesellige Art der Kommunikation.«

»Und worüber soll ich bloggen?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Über das, was du im Garten so treibst. Oder über die Geschichte der Rosen. Egal. Es ist dein Blog.«

»Na schön, Superhirn.« Er rückte einen Stuhl heran und setzte sich neben mich. »Ich gebe mich geschlagen.« Er überflog meine Vorschläge. »Der da ist nicht übel.«

»Gut. Der gefällt Susan auch. Nun sollten wir uns über die Farben unterhalten.«

Mark ertrug geduldig eine halbe Stunde Website-Planung mit mir, bevor er unruhig wurde.

»Genug«, sagte ich. »Ich habe ausreichend Arbeitsmaterial und kann die Website in einer Woche fertigstellen.«

»In einer Woche.« Offenbar bereitete ihm der Gedanke, dass ich so lange in seinem Büro bleiben würde, Kopfschmerzen.

»Ich muss nicht hier arbeiten, wenn das ein Problem ist«, versicherte ich ihm, »sondern kann mich mit deinem zweiten Drucker und dem Laptop an den Küchentisch setzen.«

»Nicht nötig. Weißt du was? Geh doch in das alte Arbeitszimmer meines Vaters. Da hast du deine Ruhe und stolperst nicht die ganze Zeit über meine Sachen.«

Eine gute Lösung, dachte ich. Onkel Georges Büro lag nahe bei meinem Zimmer und war ein ganzes Stück von Marks und Susans Schlafzimmern entfernt, sodass ich bis spät in die Nacht tüfteln konnte, ohne Angst haben zu müssen, dass ich sie aufweckte. Denn nur so würde ich die ersten Nächte ohne Schlaftabletten überstehen.

Die Website war tatsächlich innerhalb einer Woche fertig, und nach einer letzten Überprüfung schlief ich problemlos ein, ohne etwas eingenommen zu haben.

Erholt trat ich am folgenden Morgen durch die hintere Tür hinaus in einen frischen, sonnigen Tag mit einer steifen Brise vom Meer, die nach einer Woche vor dem Computer die Spinnweben aus meinem Gehirn blies.

Die Hunde stürmten heran, um mich zu begrüßen, und gesellten sich dann wieder zu Mark, der irgendwo im Garten arbeitete. Ich spielte mit dem Gedanken, ihnen zu folgen, wusste aber, dass ich ihm keine Hilfe sein, sondern ihn eher behindern würde. Außerdem wollte ich nun, da die Website stand, mit Susan die nächsten Schritte besprechen.

Sie sah mit Felicity an der Tür des Gewächshauses dem Klempner von Andrews & Son aus St. Non’s zu, der für Susan die alten Rohre inspizierte. Der junge Mann war auffallend gut gebaut, und Felicity, die ihn genauso anstarrte wie Susan und ich, stieß ihre Freundin in die Rippen und sagte: »Das hast du prima hingekriegt. Ein genaues Ebenbild der Vergangenheit.«

»Was?«, fragte Susan verständnislos.

»Du erschaffst gerade Claires Cloutie-Tree-Teestube neu, einschließlich des attraktiven Klempners. Ich hätte nichts dagegen, wenn er sein Hemd auszieht.«

»Fee!«

»Was denn? Er kann uns doch nicht hören. Mein Gott, schau dir diesen Körper an.«

Der Handwerker überprüfte soeben eine der oberen Rohrverbindungen, wobei seine muskulöse Brust bestens zur Geltung kam.

»Wie heißt er?«, erkundigte sich Felicity.

Susan schüttelte den Kopf. »Keine Ahnung. Er hat sich nicht vorgestellt.«

»Der könnte auch mal zu mir kommen.«

Ich schmunzelte über Felicitys Geplänkel, ohne ihr wirklich zu glauben, weil ich wusste, dass sie bereits hoffnungslos verliebt war.

Mark ahnte natürlich nichts davon. Mir fiel auf, wie Felicity ihn ansah und lächelte, wenn er mit ihr sprach. Männer konnten ziemlich blind sein, dachte ich, genau wie der Klempner, der sich der allgemeinen Bewunderung nicht bewusst war.

»Vielleicht sollte ich mich bei ihm erkundigen, ob er irgendwelche Fragen hat«, meinte Susan mit Unschuldsmiene, bevor sie das Treibhaus mit ausgeprägtem Hüftschwung durchquerte.

»Schön, dass sie sich nach der letzten Niete wieder für Männer zu interessieren beginnt«, sagte Felicity aufrichtig erfreut.

»War er schlimm?«

»Nein, überhaupt nicht. Aber deutlich älter als Sue, was die Sache manchmal ziemlich schwierig machte. Sie konnte nicht viel mit seinen Freunden anfangen und er nicht mit den ihren, und … na ja, sie kommen aus unterschiedlichen Generationen und Welten, und manchmal lässt sich eine solche Kluft einfach nicht überbrücken. Am Ende hat der Tod deiner Schwester den Ausschlag gegeben. Sue sagt, da habe sie realisiert, dass das Leben zu kurz ist für ständige Auseinandersetzungen, und hat sich auf den Weg nach Hause gemacht. Der Tod deiner Schwester war ein Schlag für alle hier.«

»Für mich auch.«

Zum Glück versuchte Felicity nicht, mich mit Allgemeinplätzen zu trösten. »War sie deine einzige Schwester?«

»Ja.«

»So was kann ich mir gar nicht vorstellen. Ich habe drei Schwestern und zwei Brüder. Wir vermehren uns wie die Karnickel. Jedes Mal, wenn ich heimkomme, ist ein neuer Neffe oder eine neue Nichte da.«

»Wo bist du zu Hause?«, fragte ich.

»In Somerset.«

Es wunderte mich, dass sie nicht aus Cornwall stammte, denn mit ihren dunklen Haaren und Augen und dem kleinen, zierlichen Körper, der in Jeans und einer taillierten Bluse steckte, sah sie sehr kornisch aus. Ihre Locken hatte sie mit dem Zigeunertuch zu einem schwingenden Pferdeschwanz zurückgebunden. Und sie sprach mit leichtem kornischem Akzent.

»So weit ist das nicht weg«, meinte sie. »Auch wenn mir Cornwall anfangs wie eine andere Welt erschien, als hätte ich eine bedeutende Grenze überschritten.«

»Das hast du, den Tamar.« Ich erzählte ihr, was meine Mutter über den Fluss gesagt hatte, darüber, welche Wirkung er auf Menschen mit kornischem Blut ausübte.

»Tja, dann gibt’s in meiner Familie wohl irgendwelche Vorfahren aus Cornwall, denn diese Wirkung habe ich definitiv gespürt. In meinem letzten Jahr an der Uni war ich mit Freunden in den Sommerferien hier. Danach habe ich die ganze Zeit nach einem Grund gesucht, wieder herzukommen. Und am Ende habe ich meine Siebensachen gepackt und bin hergefahren. Ohne genaueren Plan. Meine Eltern dachten, ich hätte den Verstand verloren. Das glauben sie übrigens immer noch, aber inzwischen versuchen sie nicht mehr, mich zu bekehren. Ich habe ihnen gesagt, dass man sich gegen Cornwall nicht wehren kann.«

Ich wusste, was sie meinte. Dieser westliche Zipfel Großbritanniens packte die Seele und ließ sie nicht wieder los. In den Mooren und den schwarzen Klippen und in der Stimme der See steckte etwas Altes, Wildes, das von unsichtbaren, magischen Dingen kündete.

»In Cornwall«, sagte Felicity, »hat man das Gefühl, dass etwas Magisches geschehen könnte.«

 

An diese Worte musste ich denken, als ich nach dem Mittagessen auf dem Weg zur Bank in Polgelly den Hügel hinunterging. Ich war ganz allein auf der Straße unterwegs, auf der ein Auto nur mühsam an mir vorbeigekommen wäre. Als ich den dunklen grünen Baldachin der Bäume erreichte, die graue, taillenhohe Steinmauer auf der einen und die grobe Hecke auf der anderen Seite, brachte der Wind die Blätter über mir zum Rascheln, und mir fiel ein, wie zauberhaft ich diese Gegend als Kind gefunden hatte.

Damals war ich sicher gewesen, dass sich zwischen den sanft wippenden Glockenblumen am Straßenrand Feen verbargen, und ich hatte vorsichtig einen Fuß vor den anderen gesetzt, um sie nicht zu stören. Jeder Windstoß hatte für meine kindlichen Ohren eine beschwingte Melodie erzeugt, die Erwachsene nicht hören konnten. Ich hatte mir den Baumtunnel als Eingang zum Land der Feen vorgestellt und war mir sicher gewesen, dass ich auf der anderen Seite an einem wunderschönen Ort herauskommen würde.

Beim ersten Anblick der verwinkelten Straßen und weiß getünchten Läden und Häuser, die sich wie Bauklötze die Anhöhe über dem Hafen hinaufzogen, fühlte ich mich erneut in meine Kindheit zurückversetzt.

Es war Ebbe. Die kleineren Boote lagen wie beschwipst schräg im Matsch und warteten auf die Rückkehr des Meeres.

Der Hafen mit den gezackten Felsen rundherum hatte Schmugglern früher ein ideales Versteck geboten. Ohne die Häuser hätte man nicht geahnt, dass sich hinter diesen Felsen ein Hafen verbarg. Segelboot-Touristen sahen sich bei der Einfahrt oft vor Probleme gestellt.

Die Straße entlang der Kaimauer war im Grunde genau so, wie ich sie in Erinnerung hatte. Die Bank trug einen anderen Namen, befand sich jedoch an der gewohnten Stelle, und im Innern begrüßte mich wie eh und je der Geruch von Bohnerwachs und Papier. Mein neuer Kundenberater Mr Rowe war ein gründlicher Mensch, der mir alle auszufüllenden Formulare geduldig erläuterte. Da ich meinen britischen Pass behalten hatte und somit noch immer britische Staatsbürgerin war, gestalteten sich die Dinge nicht allzu schwierig.

»Sie wohnen momentan in Trelowarth?«

»Ja.«

»Dann trage ich Ihre hiesige Adresse ein. Und wie viel Geld möchten Sie von Ihrer kalifornischen Bank hierher überweisen?«

»Alles«, antwortete ich und reichte ihm Auszüge meiner beiden amerikanischen Konten. Er hob eine Augenbraue angesichts des Betrags, sagte aber nichts.

»Gut«, meinte er. »Ich lasse alles abzeichnen und gebe Ihnen Bescheid, wenn Ihr Geld da ist.«

»Danke.« Ich verabschiedete mich mit einem Händedruck und überquerte die Straße zum Fudge-Laden.

Als ich eintrat, klingelte das Glöckchen wie früher, und, überwältigt vom Geruch der Süßigkeiten, fühlte ich mich wie zehn. Ich erwarb ein halbes Pfund meiner Lieblingssorte Schoko-Minze und ging hinaus, um mich zwischen den Touristen auf der sonnenerwärmten Kaimauer darüber herzumachen. Da fiel mein Blick auf das grüne Apotheken-Schild ein paar Meter weiter. Felicity hatte gesagt, ihr Geschäft befinde sich neben der Apotheke. Ich verstaute die knisternde Papiertüte mit dem Fudge in meiner Tasche.

Eigentlich erwartete ich, dass der Laden geschlossen war, weil Felicity mittwochs frei hatte und sie Susan nach wie vor im Gewächshaus half, doch an der Tür hing ein Schild mit der Aufschrift »geöffnet«. Ich trat ein.

Das Geschäft war hübsch, wenn auch ein wenig chaotisch wie seine Inhaberin. Ich entdeckte darin Postkarten mit zarten Tintenzeichnungen von Hafenszenen und Glockenspiele aus Glas, in denen sich die Sonne spiegelte. Ein Regenbogen aus Seidentüchern und keltischem Silber- und Goldschmuck hatte Mühe, sich gegen allerlei gerahmte Bilder zu behaupten. Einige waren von Claire. Ich kannte ihren sicheren Pinselstrich, die kräftigen Farben sowie ihre Art, die Gemälde durch Licht zum Leben zu erwecken.

Auch Felicitys Bronzeskulpturen befanden sich hier; sie verrieten die gleiche Meisterschaft wie der Schmetterling auf der Sonnenuhr. Besonders gefielen mir die kleinen piskies, kornische Feen und Elfen – unterschiedliche Versionen der immer gleichen Figur, die aussahen, als wären sie mitten im Tanz erstarrt.

Hinter mir hörte ich einen Hocker scharren, dann Schritte, die sich mir näherten, und schließlich die freundliche Stimme eines jungen Mannes. »Kann ich Ihnen helfen?«

Ich schüttelte den Kopf. »Ich schau mich nur um.«

»Haben Sie schon was Interessantes gefunden?«, fragte er lächelnd. Er war ungefähr so alt wie ich, attraktiv, hatte goldblondes Haar und blaue Augen, die mir irgendwie bekannt vorkamen.

Ich musterte ihn genauer.

»Du erinnerst dich nicht?«

Ich war mir nicht sicher. »Oliver?«

Konnte das Oliver sein, der Sohn der Frau, die nach dem Tod ihrer Mutter auf Susan und Mark aufgepasst hatte? Da er jeden Tag mit seiner Mum in Trelowarth gewesen war, kannte er Gebäude und Anwesen genauso gut wie wir. Auch nach Claires Heirat mit Onkel George hatte seine Mutter noch hin und wieder bei ihnen ausgeholfen, und Oliver war unser Spielkamerad gewesen.

Er verschränkte die Arme vor der Brust. »Du erinnerst dich also doch.«

»Tja, Jungs, die mit Steinen nach einem werfen, vergisst man nicht so leicht.«

»Ein einziges Mal«, wehrte er sich. »Mit einem Kieselstein. Soweit ich mich erinnere, hast du ihn aufgehoben und zurückgeworfen. Und anders als ich getroffen.«

Das stimmte. Ich hatte ihn an der Stirn erwischt, und er war umgefallen. »Du bist ganz schön erwachsen geworden.«

»Du auch. Mark hat gar nicht erwähnt, dass du zu Besuch da bist. Bleibst du länger hier?«

»Möglich. Du arbeitest für Felicity?«

»Nur am Mittwoch, weil da bei mir geschlossen ist.« Als er meinen fragenden Blick sah, fügte er hinzu: »Ich führe ein Schmugglermuseum.«

»Ach. Wo?«

»Unten am Hafen, zwischen Pub und Teestube.« Oliver legte den Kopf ein wenig schräg. »Was riecht denn hier nach Schokolade?«

»Mein Fudge.« Ich holte die Tüte aus der Tasche. »Energienahrung für den Hügel«, erklärte ich.

»Dann lass uns was davon essen.«

Ich hielt ihm die Tüte hin, und er nahm sich ein Stück heraus.

»Und wofür brauchst du die Energie?«, erkundigte ich mich. »Du wohnst doch hier unten.«

»Stimmt.« Er grinste. »Aber ich könnte mir vorstellen, dass ich in nächster Zeit ziemlich oft den Hügel hinaufgehen werde.«