NEUNZEHN

Symbol

Im Haus gab Susan keine Ruhe, bis Mark die schmutzige Keksdose mit den Schätzen seiner Kindheit holte und auf den Küchentisch stellte.

»Da wäre der Plunder«, sagte er.

Susan schüttelte die Dose neugierig. »Was ist drin?«

»Schau rein.«

Mark setzte Teewasser auf und beobachtete, wie wir seine »Beute« begutachteten: kleine abgeschliffene Glasscherben und Steine, ein Napfschneckengehäuse, ein stumpfer Metallknopf, ein Weinflaschenkorken, zwei Shilling-Münzen und ein Half Penny, ein Frauenohrring mit abgewetzten Plastikperlen, die versprochenen Musketenkugeln und ein langes, verbogenes Stück Metall. Felicity nahm es heraus und wischte es vorsichtig ab.

Der Anblick verursachte mir eine Gänsehaut.

»Was ist das?«, fragte Susan Felicity.

»Scheint eine Art Messer zu sein.«

»Das habe ich, glaube ich, hinter den Fässern gefunden«, teilte Mark uns mit einem Schulterzucken mit. »So genau weiß ich es nicht mehr.«

Es handelte sich um einen kleinen Dolch.

Susan ließ die Finger darübergleiten. »Aus was für einem Material ist der Griff?«

Felicity betrachtete ihn genauer. »Ich glaube, aus Knochen.«

Nicht aus Knochen, hätte ich sie korrigieren können, sondern aus Muschelkalk, der im Licht bunt schillerte. Leider war der Griff so stark mit Schmutz verkrustet, dass sich das nur erahnen ließ.

»Darf ich das Messer mal in die Hand nehmen?«, bat ich. Es fühlte sich kalt und rau an in meinen Fingern, nicht wie die glatte, tödliche Waffe, die ich wenige Tage zuvor in Daniels Faust gesehen hatte. Wenige Tage zuvor … Mir erschien es wie eine Ewigkeit. Und ich staunte, wie sehr mir Daniel fehlte.

»Sieht alt aus«, bemerkte Susan.

Da hatte Felicity eine Idee: »Eva, das könntest du doch Oliver zeigen. Er kennt sich aus mit Waffen und weiß bestimmt, wie alt das Ding ist, vielleicht sogar, wie viel Geld man dafür kriegen könnte.«

Mark hielt es in dem Zustand, in dem es war, nicht für sonderlich wertvoll.

»Man kann nie wissen«, widersprach Felicity. »Manchmal erzielen die merkwürdigsten Sachen die höchsten Preise.«

Meine Finger schlossen sich schützend um den verrosteten Dolch. »Du würdest das Messer doch nicht verkaufen, oder?«

»Natürlich nicht«, antwortete Mark sofort, als fände er den Gedanken absurd.

»Aber es macht dir nichts aus, wenn Oliver es sich mal anschaut, oder?«, erkundigte sich Susan.

»Wenn er möchte.«

Ich überlegte, ob ich Daniel je ohne den Dolch gesehen hatte. Soweit ich mich erinnerte, nur das eine Mal, als ich ihn im Bett überrascht hatte. Es war die Waffe, nach der er instinktiv griff, wenn er sich bedroht fühlte.

Welcher Bedrohung war er wohl in der Höhle ausgesetzt gewesen? Und warum hatte er die Waffe dort verloren?

 

Die meisten älteren Grabsteine auf dem überwucherten Friedhof waren von den Jahren und der Witterung so angegriffen, dass es mir schwerfiel, Daten oder Namen zu entziffern, und unter denen, die ich lesen konnte, fand ich keinen »Butler«.

Hier lagen sämtliche Halletts begraben: Marks Vater, sein Großvater und Urgroßvater sowie mehrere Cousins und Cousinen und andere Verwandte, denn die kleine Steinkirche St. Petroc’s stand seit Menschengedenken an dieser Stelle neben der Straße von Polgelly nach St. Non’s und Fowey, von der aus man Trelowarth sehen konnte.

Angeblich war in ferner Urzeit ein irisches Piratenschiff an den schwarzen Felsen der Küste zerschellt. Nur ein einziger Seeman hatte überlebt, der zum Dank für seine Rettung mit eigenen Händen das kleine Gotteshaus auf dem Hügel erbaute.

Hinter mir schwang knarrend das Tor zum Friedhof auf. »Guten Morgen«, grüßte eine Männerstimme. Als ich mich umdrehte, sah ich den Küster mit einer Gartenschere in der Hand auf mich zukommen. Ich kannte diese Gartenschere mit den Holzgriffen und auch den Küster, der, obwohl inzwischen grauhaarig, immer noch kraftvoll dahinschritt. Er schien sich ebenfalls an mich zu erinnern, vielleicht, weil meine Ankunft in Trelowarth mittlerweile ausführlich in den Pubs von Polgelly besprochen worden war.

»Miss Ward, dachte ich’s mir doch, dass Sie das sind.« Sein breites Lächeln mit den verblüffend ebenmäßigen Zähnen versetzte mich in meine Kindheit zurück.

Ich kam mir vor wie eine Fünfjährige. »Mr Teague.«

»Sie sind ein wenig gewachsen seit damals, das muss ich zugeben, aber es ist ja auch … wie lange her? Zwölf Jahre?«

»Eher zwanzig.«

»Nein!« Er klang entsetzt. »Wenn Sie das sagen, fühle ich mich uralt.«

»Sie sehen aus wie immer.«

»Vielleicht sollten Sie mal einen Augenarzt aufsuchen, meine Liebe.« Aber er schien sich über mein Kompliment zu freuen. »Die Nachricht über den Tod Ihrer Schwester hat mich sehr betrübt. Es ist immer traurig, wenn die Jungen so früh von uns gehen. Es heißt, Sie hätten ihre sterblichen Überreste hierher gebracht?«

»Ja.«

»Gut. Den Toten steht ein friedlicher Ort für ihre letzte Ruhe zu. Den hätte sie in Amerika nicht gefunden«, erklärte er mit der Bestimmtheit eines Mannes, der selbst nie aus Cornwall herausgekommen war. Die Geistlichen von St. Petroc’s wechselten, doch Mr Teague war das Faktotum dieser Gemeinde, solange ich denken konnte. Er schien bei allen meinen Besuchen des Friedhofs da gewesen zu sein, mit seinem Rasenmäher oder der alten Gartenschere, und er hatte sich immer die Zeit genommen, seine Arbeit für einen Plausch zu unterbrechen.

Ich fragte Mr Teague nach den Butlers. Er überlegte stirnrunzelnd.

»Butler. Soweit ich mich erinnere, gibt es ein oder zwei Gräber von Personen dieses Namens.«

»Die habe ich nicht gefunden.«

»Das wäre auch schwierig, wenn sie wirklich so alt sind, wie Sie sagen. Ich hole mal das Verzeichnis aus der Sakristei.« Er legte die Gartenschere neben dem Seiteneingang der Kirche ab, zog den großen Schlüssel hervor und öffnete die alte Bogentür aus Eichenholz mit den schwarzen Metallbeschlägen. Wenig später kehrte er mit einem schmalen, kartongebundenen Buch zurück, wie örtliche historische Gesellschaften im ganzen Land sie für ihre Veröffentlichungen verwendeten.

Mr Teague blätterte die Seiten mit schwieligen Fingern um. »1822 wurde eine Inventur der vorhandenen Gräber durchgeführt, bei der man auch die Inschriften notierte. Ja, genau: Butler. Es gibt zwei Butler-Gräber im südwestlichen Teil. Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sie sind.«

Der südwestliche Teil des Friedhofs war der der Straße am nächsten gelegene. Hier führte Mr Teague einen verzweifelten Kampf gegen die am Rand gepflanzte Weißdornhecke, die die flachen Steine überwucherte. Die teilweise unter Moos und Gras verborgenen Grabsteine waren so verwittert, dass ich kaum noch Buchstaben erkennen konnte.

»Das ist laut Buch das Grab von Ann Butler«, teilte Mr Teague mir mit. »Sie starb am 20. Oktober 1711 im Alter von dreiundzwanzig Jahren. ›Geliebte Gattin‹, steht da. Und das da muss das Grab ihres Mannes sein.«

Er ging ein paar Schritte weiter. Ich hielt gespannt den Atem an.

»Jack Butler«, las Mr Teague aus dem Buch vor. Der Stein war in der Mitte gespalten, als wäre etwas darauf gefallen. »Merkwürdig: keine Daten, nur ein Spruch: ›Mein Gott lässt mich auferstehen. Darauf vertraue ich.‹«

Ich seufzte erleichtert auf. Jack Butler war sicher im hohen Alter gestorben, denn er hatte sein Tagebuch fast ein Vierteljahrhundert, nachdem ich ihm begegnet war, veröffentlicht. Das Zitat aus einem Gedicht von Sir Walter Raleigh, einem Seefahrerkollegen und Piraten, erschien mir sehr passend für Jack.

»Andere Butlers gibt es hier nicht?«, erkundigte ich mich.

Mr Teague ging noch einmal die Liste mit den Inschriften durch. »Nein, das sind alle. Waren das Vorfahren von Ihnen?«

»Nein. Ich recherchiere für Susans neues Unternehmen.« Davon hatte er bestimmt schon gehört. »Und ich möchte herausfinden, wer früher in Trelowarth gelebt hat.«

»Da kommt der junge Mann, den Sie zu solchen Dingen befragen sollten.« Mr Teague nickte in Richtung Straße, auf der gerade ein Radfahrer um die scharfe Kurve oben auf dem Hügel von Polgelly bog. Ich erkannte Oliver sofort, obwohl er einen Helm trug.

»Falls Sie das noch nicht getan haben«, fügte Mr Teague hinzu.

Sein vielsagender Tonfall ließ mich überlegen, was man sich so alles in den Pubs erzählte.

Als Oliver uns erreichte, begrüßte er uns mit einem strahlenden Lächeln. »Guten Morgen, Eva und Mr Teague.«

Nach der anstrengenden Fahrt den Hügel hinauf atmete er schwer, und das T-Shirt klebte verschwitzt an seiner Brust und seinen Schultern. Seine Beinmuskulatur kam in der Radlerhose bestens zur Geltung.

»Oliver.« Mit einem Blick in meine Richtung sagte Mr Teague: »Dann lasse ich Sie mal allein. Ich habe noch zu tun.«

Ich bedankte mich für seine Hilfe.

»Gern geschehen.«

Als er sich zum Gehen wandte, bat ich ihn: »Mr Teague, könnten Sie mir noch einmal sagen, wann Ann Butler gestorben ist?«

Er blätterte wieder in dem Buch.

»Am 20. Oktober 1711.«

Ich bedankte mich ein weiteres Mal, und er ging zur Kirche, um seine Gartenschere zu holen.

»Hast du einen Stift dabei?«, fragte ich Oliver.

»Seh ich so aus?« Er grinste.

Mit einem Blick auf seine enge Radlerhose und das verschwitzte T-Shirt antwortete ich: »Kein Problem.« Ich würde mir das Datum merken können, ohne es zu notieren.

»Wer ist Ann Butler?«, wollte Oliver wissen.

»Daniel Butlers Frau.«

»Du hast also mehr über deine Butler-Brüder herausgefunden.«

»Ja. Da liegt Jack.« Ich deutete auf den zerbrochenen Grabstein. »Der jüngere Bruder.«

»Und wo ist Daniel?«

»Keine Ahnung.« Vielleicht war es besser, es nicht zu wissen, dachte ich.

Oliver war zuversichtlich, dass er es herausfinden würde, wenn ich ihm genug Zeit ließe. »Ich liebe Herausforderungen.«

»Das merke ich.« Ich zeigte auf das Fahrrad. »Strampelst du zum Spaß?«

»Heute bin ich geschäftlich unterwegs.«

»Geschäftlich?«, fragte ich erstaunt.

»In einem meiner Cottages in St. Non’s gab’s einen Wasserschaden. Ich treffe mich dort um zehn mit dem Klempner.«

»Mit Susans Klempner?«

»Hat sie einen?«

Ich nickte. »Von Andrews & Son in St. Non’s.«

»Das könnte er sein. Er hilft ihr bei der Einrichtung der Teestube, nicht?«

»Ja.«

»Felicity sagt, ich muss unbedingt vorbeikommen und mir ansehen, was ihr geschafft habt. Außerdem hättet ihr gestern ein Messer oder so was Ähnliches gefunden, das mich interessieren könnte.«

»Ach ja. Daniels, ich meine, Marks Messer.« Oliver schien meinen Versprecher nicht zu bemerken.

»Vielleicht schaue ich auf dem Heimweg vorbei. Du bist doch da, oder?«

»Ja.«

»Dann bis später.« Er schwang sich mit einem strahlenden Lächeln aufs Rad.

Ob er das fragliche Cottage an eine Frau vermietet hatte? Wenn ja, konnte sie sich auf einen angenehmen Tag freuen; Oliver und Susans attraktiver Klempner, das war ein doppelt appetitlicher Anblick.

Fast hatte ich ein schlechtes Gewissen, dass ich nicht in der Lage war, Olivers Interesse zu erwidern. Aber ich konnte es nicht ändern. Entweder es funkt, oder es funkt nicht, hatte meine Schwester einmal gesagt. Und was Oliver anging, funkte bei mir gar nichts.

Mit einem Blick auf Ann Butlers Grab fragte ich im Stillen: Du verstehst das, oder?

 

Am Friedhofstor überlegte ich kurz, ob ich den Pfad über den neu angelegten Parkplatz und die Gärten zum Haus nehmen sollte oder die Straße, auf der ich gekommen war. Am Ende wählte ich die Straße, weil sie mehr Schatten bot, und machte mich auf den Weg.

Es würde ein heißer Tag werden, das spürten die Vögel, die verhalten sangen, um ihre Kräfte zu schonen. Hier und da raschelte ein kleines Tier im hohen Gras. Alles schien vor sich hin zu dösen; nicht einmal die Hunde kamen mir zur Begrüßung entgegen …

Wahrscheinlich waren sie bei Mark in den Gärten. Doch dass das Haus so still war, fand ich seltsam.

Noch etwas anderes stimmte nicht. Erst nach einer Weile merkte ich, dass ich auf hartem Untergrund ging, nicht auf Kies. In dem Moment hörte ich fröhliches Pfeifen an der Vordertür des Gebäudes.

Es war die gleiche Melodie, die Jack Butler am Morgen seiner Heimkehr auf der Treppe gepfiffen hatte. Mich in Jeans und T-Shirt zu treffen, würde ihn vermutlich noch mehr überraschen als unsere erste Begegnung.

Ich sah mich nach einem Versteck um.

Die Bäume am Straßenrand waren zu weit weg, also schlich ich mich in den Schatten des Hauses zur hinteren Seite.

Dann hörte ich eine vertraute Stimme. Und Lachen. Daniel, dachte ich. Vermutlich Daniel und Fergal. Sie würden mich sicher ins Haus bringen, bevor Jack mich entdeckte.

Ich ging um die Ecke.

Daniel, der am anderen Ende des Hofs stand, sah mich, als ich aus den Schatten ins Licht der Sonne trat. Aber er lächelte nicht und signalisierte mir nicht, dass er mich bemerkt hatte. Mir war klar, warum.

Er befand sich nicht in Gesellschaft von Fergal.