SIEBENUNDDREISSIG

Symbol

Auf dem Hügel brannte es.

Anfangs speicherte ich diese Beobachtung einfach nur ab wie die anderen surrealen Ereignisse der Nacht – dass Fergal bewusstlos auf dem Boden lag, dass Peter vor meinen Augen umgebracht worden war und dass ich nun mit fremden Männern das dunkle Feld zwischen Trelowarth und dem Wald überquerte … ein Feuer passte da ganz gut ins Bild.

Aber es handelte sich um ein kontrolliertes Feuer – das Leuchtfeuer.

In meiner eigenen Zeit hatte ich es nie brennen sehen. Zwar kannte ich Fotos meiner Eltern von der festlichen Entfachung anlässlich des silbernen Thronjubiläums von Queen Elizabeth vor meiner Geburt, und Claire hatte mir Bilder vom Silvesterabend der Jahrtausendwende geschickt, als alle alten Leuchtfeuer in Großbritannien entzündet worden waren, doch die Fotos hatten nur einen unvollkommenen Eindruck vermittelt.

Der Anblick war ehrfurchtgebietend, golden glänzende Flammen, die in den Sternenhimmel züngelten und Funken sprühten. Zu jedem anderen Zeitpunkt hätte ich ihn mit großen Augen bewundert, aber jetzt war ich nur in der Lage, mich auf meine eigenen Bedürfnisse und meine Angst zu konzentrieren.

Der Abstieg über die rutschigen Felsen war ein Albtraum. Ich verletzte mich an im Weg hängenden Ästen, stieß gegen scharfe Steinkanten und erreichte den Muschel-Kiesstrand mit dem Geschmack von Blut im Mund, weil ich mir vor Schmerz auf die Lippe gebissen hatte, als ich mir das Knie anschlug. Meine Lippe war so geschwollen, dass Hewitt mich neugierig beäugte, als wir in die Höhle stolperten und Creed eine Laterne auf ein großes Fass stellte. Ich zog den steifen Kragen von Peters Mantel zum Schutz gegen die alles durchdringende Feuchtigkeit enger um meinen Hals und wandte mich ab.

Der Constable beobachtete uns. Nach einem langen Blick in die Schatten der Höhle sagte er: »Ein höchst praktisches Arrangement. Benutzen die Butlers dieses Versteck schon lange?« Obwohl die Frage an Hewitt gerichtet war, antwortete der Bursche.

»Ja, schon ewig, Sir. Alle im Ort wissen Bescheid. Mein Vater hat mir die Höhle bereits vor Jahren gezeigt.«

»Tatsächlich?« Creed zog die Pistole aus seinem Gürtel und betrachtete sie scheinbar unbeteiligt. Ich spürte seine Anspannung. Er sah aus wie ein Raubtier auf dem Sprung. Die Bewohner von Polgelly würden seinen Zorn zu spüren bekommen, so viel stand fest. Mit dem Messer, mit dem er kurz zuvor Peter umgebracht hatte, justierte er das Steinschloss seiner Waffe.

Da fiel es mir ein.

Dort drüben, zwischen den Fässern zu meiner Linken, musste Daniels Dolch liegen.

Wenn ich ihn aufhob, veränderte ich die Geschehnisse der Zukunft, aber das hatte ich schon durch meine bloße Anwesenheit getan. Ein Mann war meinetwegen gestorben; daran ließ sich nichts ändern. Nun konnte ich nur noch versuchen, selbst am Leben zu bleiben, und mit einer Waffe verbesserten sich meine Chancen deutlich.

Doch wie sollte ich von der Stelle, an der ich mich aufhielt, zu der gelangen, an der ich den Dolch vermutete? Das beschäftigte mich gerade, als ich hörte, wie sich Schritte der Höhle näherten.

Creed brachte die Männer mit einer Geste zum Verstummen und zielte mit der Pistole auf den Eingang. Da erklang zu den Schritten ein fröhliches Pfeifen.

Mir sank der Mut. Jack.

Die Teile des Puzzles fügten sich zusammen. Mir wurde klar, warum das Leuchtfeuer entzündet worden war: Der Junge hatte Creed gegenüber das einjährige Jubiläum von King Georges Thronbesteigung erwähnt.

Ja, das musste der Grund sein. Wenn die Leute in meiner Zeit ein Thronjubiläum mit der Entfachung des Leuchtfeuers feierten, taten es die Menschen wohl auch in dieser Zeit. Das Schicksal hatte mich am ersten Jahrestag von King Georges Thronbesteigung hergeführt, an dem Tag also, an dem Jack laut Aussage des Herausgebers seiner unvollendeten Memoiren durch einen Schuss des Constable sein Ende finden sollte.

Das hatte ich in einem Buch gelesen, und gedruckte Seiten änderten sich nicht. Wie in dem Gedicht, das ich auf dem Schiff für Daniel zitiert hatte, war bereits durch den Finger geschrieben, was geschehen musste.

Aber ich konnte nicht tatenlos zusehen, wie ein weiterer Mann in meiner Gegenwart gewaltsam sein Leben verlor.

Als Jack die Höhle betrat, stürzte ich mich auf den Constable und rief: »Jack, verschwinden Sie! Warnen Sie Daniel! Laufen Sie weg!«

Der Schuss war so laut, dass ich nicht wusste, ob er mich gehört hatte, und durch den Rauch, der die Höhle erfüllte, konnte ich nichts mehr sehen. Als der Rauch sich verzogen hatte, war die Stelle, an der Jack gestanden hatte, leer.

Der Constable hatte einen anderen getroffen. Der Bursche schaute mich mit großen Augen an, machte einen unsicheren Schritt und legte schließlich eine Hand auf den größer werdenden roten Fleck auf seiner Brust, bevor er stolperte und stürzte.

Creed reagierte erst einmal verblüfft, dann nahm sein Gesicht einen furchteinflößenden Ausdruck an. Die Waffe in der Hand, holte er aus und schlug zu. Ich spürte den Schmerz an meiner Wange und wie Blut über meine Schläfe lief. Auch ich geriet ins Stolpern, aber ich fiel nicht hin.

Als Hewitt Anstalten machte, mir zu helfen, warnte Creed ihn: »Halten Sie sich da raus. Und Sie genauso«, fügte er, an den Mann hinter sich gewandt, hinzu. »Verschwinden Sie, beide, und bringen Sie mir Jack Butler.«

Als die Männer zögerten, wiederholte er: »Verschwinden Sie!«

Die beiden gingen. Ich hörte ihre Schritte auf dem Muschel-Kiesstrand, zuerst noch langsam, dann immer schneller werdend.

Obwohl Creed mir nicht näher kam, hatte ich das Gefühl, dass der Abstand zwischen uns geringer wurde.

»Soso«, bemerkte er. »Sie können also sprechen.«

Ich überlegte. Viel hatte ich nicht gesagt, und der Schuss war so laut gewesen, dass er mich vermutlich nicht richtig hatte verstehen können. Vielleicht wusste er noch nicht, dass ich keine Irin war. Deshalb war es das Beste, weiter den Mund zu halten.

»Ein kluger Schachzug von Butler und Ihrem Bruder«, bemerkte Creed. »Ich bin gar nicht auf die Idee gekommen, Ihnen Fragen zu stellen.«

Dass er mich nach wie vor für Fergals Schwester hielt, hätte mich mehr beruhigt, wenn er die Pistole nicht nachgeladen hätte.

»Aber jetzt, da ich Sie habe sprechen hören, würde ich gern erfahren, wie gut Sie singen.«

Er richtete die Waffe auf mich.

»Sie können doch singen, Mistress O’Cleary? Sie werden feststellen, dass das eine nützliche Fähigkeit ist, wenn man nicht mit dem Kopf in der Schlinge des Henkers landen möchte. Verraten Sie mir, was Butler heute Nacht von hier wegbringen möchte und wohin.«

Ich schüttelte den Kopf und trat einen Schritt zurück. Mir war klar, dass er mir nur Angst einjagen wollte. Denn ich war für den Constable ein Druckmittel.

Er würde mich noch nicht umbringen; an diese Hoffnung klammerte ich mich, als ich einen weiteren Schritt nach hinten tat, um näher an Daniels Dolch heranzukommen.

»Sie wissen, welches Schicksal einer Frau wie Ihnen in Newgate beschieden ist?«, fragte Creed. »Das Gesetz äußert sich eindeutig zu denen, die Verrätern Schutz gewähren. Am Ende werden Sie sagen müssen, was Sie wissen, und man wird ihn trotzdem hängen. Ihr Leid wird gänzlich umsonst gewesen sein. Wenn Sie reden, kann ich das Gericht vielleicht davon überzeugen, Gnade walten zu lassen.«

»Ein großherziges Angebot, aber ich bezweifle, dass sie es annehmen wird«, hörte ich da eine Stimme sagen.

Als ich den Kopf wandte, sah ich zu meiner Überraschung etwa sechs Meter von uns entfernt Jack am Höhleneingang stehen. Die Pistole auf Creed gerichtet, fuhr er fort: »Sie haben ihr kaum Anlass gegeben zu glauben, was Sie sagen.«

Der Constable zuckte mit den Schultern. »Menschen können sich ändern.«

Falls Jack Angst hatte, verbarg er sie gut. Er wirkte ruhig und entspannt, als er einen Schritt auf uns zukam und mich anwies: »Eva, gehen Sie.«

Ich hörte, wie Creeds Waffe, die dieser nach wie vor auf mich gerichtet hielt, unheilvoll klickte.

»Butler, ich dachte, es wäre Ihnen wichtiger, die eigene Haut zu retten, als Ihre Ritterlichkeit einer Frau gegenüber zu beweisen.«

»Menschen können sich ändern, habe ich gerade gehört«, sagte Jack mit einem spöttischen Lächeln. Dann wiederholte er, immer noch auf uns zukommend: »Eva, gehen Sie. Er wird Sie nicht erschießen.«

Der Constable runzelte die Stirn. »Nein? Woher wollen Sie das wissen?«

»Das ist nicht Ihr Plan. Sie würden nicht einmal mich erschießen, wenn ich Ihnen Gelegenheit dazu gäbe.«

»Sie scheinen sich ziemlich sicher zu sein. Warum legen Sie nicht die Pistole weg? Dann werden wir ja sehen.«

»Gut«, meinte Jack, ohne stehen zu bleiben.

Ich sah voller Schrecken, wie er die Pistole in den Gürtel steckte und die Arme etwas vom Körper abspreizte, um zu zeigen, dass er unbewaffnet war.

Nun richtete Creed die Waffe auf Jack, und ich nutzte die Gelegenheit, um weiter zwischen die Fässer zurückzuweichen, wo ich den Dolch schließlich entdeckte. Den Blick auf die Männer gerichtet, bückte ich mich vorsichtig, um ihn aufzuheben.

Weder Jack noch Creed schien mein Tun zu bemerken.

Jack war mittlerweile, den Blick nach wie vor unverwandt auf den Constable gerichtet, noch näher an diesen herangetreten. »Sie wollen uns tot sehen, mich und Danny, aber Sie werden mich jetzt nicht erschießen, denn sollte ich durch Ihre Hand sterben, würden die Bewohner von Polgelly erfahren wollen, warum. Ihre Autorität in dieser Gegend hat ihre Grenzen.« Er legte den Kopf ein wenig schräg. »Oder glauben Sie, dass die beiden Männer, die Sie mir nachgeschickt haben, zurückkehren werden, um Ihnen beizustehen?«

»Den Bewohnern von Polgelly bleibt keine andere Wahl. Die Gesetze haben sich geändert«, erwiderte Creed.

»Das habe ich gehört. Nun kann man uns ohne Haftbefehl festnehmen und zur Gerichtsverhandlung nach London schicken, nicht wahr? Noch ein Grund mehr, mich jetzt nicht umzubringen. Dieses Vergnügen können Sie dem Henker überlassen und sich bei der Hinrichtung ganz entspannt zurücklehnen.« Ohne den Kopf zu wenden, wiederholte er: »Gehen Sie, Eva.«

»Sie bleibt«, sagte der Constable. »Vor Gericht sind Beweise nötig, und die kann sie liefern.«

»Eva kann nicht aussagen«, widersprach Jack.

»Halten Sie mich für einen Narren? Sie kann sprechen, ich habe es gehört.«

»Ja, das kann sie in der Tat. Aber nicht gegen meinen Bruder oder mich. Kein Richter würde bei einem Verfahren die Ehefrau als Zeugin zulassen.«

»Die Ehefrau!«, rief Creed überrascht aus.

»Aye, genauso habe ich auch reagiert, aber der Pfarrer versichert mir, dass es stimmt, und ich halte es für eine kluge Verbindung.« Jack versuchte, mich mit einem Blick zu beruhigen. »Folglich«, schloss er, »ist sie als Zeugin für Sie nicht von Nutzen.«

»Ich könnte mir durchaus ein paar andere Dinge vorstellen, zu denen Mrs Butler nutze wäre. Und selbstverständlich würde ich Ihren Bruder in Newgate darüber informieren.«

Er warf mir einen anzüglichen Blick zu. Darauf hatte Jack gewartet, der nur noch eine Armeslänge von Creed entfernt war. Er stürzte sich auf ihn, eine Hand nach der Pistole ausgestreckt.

Ungläubig hörte ich den Schuss und sah, wie Jack zurückstolperte und stürzte.

»Nein«, flüsterte ich, Tränen in den Augen.

Ich hatte doch eine Entscheidung getroffen und die Zukunft bewusst so verändert, dass er nicht sterben musste …

Trotzdem war er tot. Daran bestand kein Zweifel.

»Nein!«

Der Constable spuckte voller Verachtung auf Jacks reglosen Körper. »Jetzt müssen wir nur noch auf Ihren tapferen Ehemann warten«, sagte er und lud seine Pistole nach. »Ich hatte meine Zweifel, ob er Ihr Leben wirklich hoch genug schätzt, um sich gefangen nehmen zu lassen. Eine Geliebte ist schließlich nur eine Geliebte. Aber die Ehefrau …«

Hinterher wusste ich nicht mehr, wie es geschehen war, doch plötzlich stand ich unmittelbar vor Creed, und Daniels Dolch befand sich nicht länger in meiner Faust.

Er ließ die Pistole fallen und hob die Hand, um den Griff des Messers zu packen, das in seiner Brust steckte. Wütend zog er die kurze Klinge heraus und schleuderte den Dolch weg. Der Schwall roten Blutes, der sich auf den Boden ergoss, schien ihn noch zorniger zu machen. Er wollte mich verfluchen …

Die Worte erstarben auf seinen Lippen.

Ich beobachtete, wie sein Gesichtsausdruck sich veränderte, seine Wut Furcht wich, und ich hörte das Entsetzen in seiner Stimme, als er hervorstieß: »Hexe!«

Dann sank er auf die Knie, dieser Mann, der sich so oft an der Angst anderer ergötzt hatte, und tat seinen letzten Atemzug.

Gleichzeitig begann er, sich aufzulösen. Genau wie Jacks Leiche. Die dunkle Höhle erzitterte und verwandelte sich in den Flur von Trelowarth, und ich stand wieder vor der Küchentür, bereit einzutreten.

Ich konnte mich nicht bewegen.

Die Ereignisse hatten mich traumatisiert. Die Rückkehr wollte mir nicht gelingen; ich stand mit tränennasser, geschwollener Wange da, in den Mantel eines Toten gehüllt, der schwer auf meinen bebenden Schultern lastete.

Ich weiß nicht, ob ich je die Willenskraft oder Stärke gefunden hätte, mich zu rühren, wenn ich nicht leichte Schritte auf dem Küchenboden gehört hätte. Als die Tür aufging und Claire mich erstaunt anblickte, warf ich mich in ihre Arme und klammerte mich weinend an sie wie ein Kind, das gerade aus einem Albtraum erwacht war.