EINS
Ich verlor meine einzige Schwester Ende November.
Diese Jahreszeit so kurz vor dem Winter, wenn die Dunkelheit immer früher hereinbricht und der Himmel kalte Tränen weint, ist wohl die schrecklichste, um einen Menschen zu verlieren. Nicht dass es einen guten Zeitpunkt für den Tod der besten Freundin gäbe, aber es erscheint einem doch schlimmer, in dem Krankenhauszimmer, in dem die Spezialisten in ihren weißen Kitteln ein und aus gehen, zu sitzen und aus dem Fenster nur auf dichte graue Wolken zu schauen, die jegliche Wärme und Hoffnung sofort ersticken. Zu Beginn ihrer Krankheit waren wir manchmal hinaus in den Garten gegangen und hatten auf der Bank neben dem Sommerflieder schweigend die Strahlen der Sonne auf unseren Gesichtern genossen und die tanzenden Schmetterlinge beobachtet.
Damals war diese Krankheit harmlos und überwindbar erschienen, wie alles, was das Schicksal ihr bis dahin beschert hatte. Sie war bekannt für ihre Energie. Die Regisseure besetzten sie für Rollen in Actionfilmen, die sie mit dem für sie typischen Eifer verkörperte, und die Zuschauer liebten sie dafür. Die Reporter der Klatschpresse hatten sich den ganzen Sommer über vor dem Haus herumgetrieben, und als sie schließlich in die Klinik musste, verfolgten sie sie auch dorthin und postierten sich vor dem Haupteingang.
Doch am Ende waren nur wir drei im Zimmer: ich, meine Schwester Katrina und ihr Mann Bill.
Wir hielten ihre Hände, Bill und ich, den Blick auf ihr Gesicht gerichtet, weil wir es nicht schafften, einander anzusehen. Und schließlich waren wir nur noch zu zweit, Bill und ich. Ich konnte ihre Hand nicht loslassen, wollte nicht glauben, dass es zu Ende war. Ich saß stumm da, bis Bill aufstand und Katrinas Hand auf ihre Brust legte. Er drückte ihre Hand ein letztes Mal sanft, bevor er den kleinen Claddagh-Ring aus Gold, der unserer Mutter gehört hatte, von ihrem Finger zog und mir gab.
Er reichte ihn mir wortlos, und noch immer waren wir nicht in der Lage, einander in die Augen zu sehen. Dann tastete er in seiner Tasche nach seinen Zigaretten und verließ das Zimmer. Und ich war allein. Ganz allein.
Der kalte Novemberregen rann am Fenster herab und warf Schatten in den lichtlosen Raum.
Ich half, die Trauerfeier zu organisieren, sorgte dafür, dass ihre Lieblingslieder gesungen und ihre Lieblingsgedichte vorgelesen wurden, aber als Freunde und Fans ihr das letzte Geleit gaben, war ich nicht dort, um ihnen die Hand zu geben und ihre wohlgemeinten Worte des Trostes zu hören. Ich weiß, dass manche mich deswegen für feige hielten, doch ich konnte es einfach nicht. Meine Trauer war etwas sehr Privates und ging zu tief, um sie zu teilen. Außerdem war es nicht von Bedeutung, ob ich mich in der Kirche aufhielt, weil Katrina sich nicht dort befand.
Sie war nirgendwo.
Ich konnte nicht fassen, dass ein so starkes Licht wie das ihre so vollständig ausgelöscht worden war, ohne den geringsten Schimmer zurückzulassen. Ich hatte gedacht, ich würde ihre Gegenwart spüren … doch das tat ich nicht.
Um den Schmetterlingsflieder im Garten lag Laub, und um die Veranda mit der leeren Schaukel standen kahle Sträucher. Als ich Katrinas Schränke ausräumte, spürte ich nicht den leisesten Lufthauch, der mich hätte glauben machen können, dass meine Schwester noch bei mir war.
Ich erledigte, was zu erledigen war, kümmerte mich um die kleinen Dinge und versuchte, mein Leben weiterzuführen, wie alle es mir rieten, obwohl eine große, hohle Einsamkeit in mir wuchs. Dann kam der Frühling und mit ihm Bill. Eines Samstagmorgens stand er vor meiner Tür. Mit ihrer Urne in der Hand.
Ich hatte ihn seit November nicht mehr gesehen, nur ein paar Mal im Fernsehen, weil gerade ein neuer Film mit ihm angelaufen war.
Bill blieb auf der Schwelle stehen und räusperte sich. »Ich dachte …« Kurzes Schweigen. Er drückte das schlichte Eichenholzkästchen mit Katrinas Asche fester gegen seinen Körper. »Sie wollte, dass ich sie verstreue.«
»Ich weiß.«
»Keine Ahnung, wo ich sie hinbringen soll. Vielleicht …« Er hielt mir das Kästchen hin. »Ich dachte, du kannst das besser.«
Zum ersten Mal seit ihrem Tod blickten wir einander an. Ich sah den Schmerz in seinen Augen. Er hüstelte. »Ich muss nicht dabei sein, wenn du es machst; ich habe mich von ihr verabschiedet. Du weißt besser als ich, wo sie am glücklichsten war. Wo sie hingehört.«
Er drückte mir das Kästchen in die Hand und küsste mich auf die Stirn, bevor er sich zum Gehen wandte. Ich wusste, dass ich ihn nicht wiedersehen würde. Wir lebten in unterschiedlichen Welten; das Einzige, was uns verband, war das schlichte Kästchen mit Katrinas Asche.
Ich stellte es auf den schmalen Tisch am Fenster und überlegte.
Wo sie am glücklichsten war, hatte er gesagt. Da gab es so viele Orte. Ich rief mir Bilder ins Gedächtnis: der Sonnenaufgang am Grand Canyon oder das Wochenende in Kerala an der Südküste Indiens, wo sich Katrina unbeschwert wie ein Kind in die Wellen gestürzt hatte.
Sie war überall glücklich und mit Abenteuerlust durchs Leben getanzt. Wo sie das Glück am deutlichsten empfunden hatte, war unmöglich zu beurteilen. Ich konzentrierte mich auf das, was Bill noch gesagt hatte: Wo sie hingehört.
Das war leichter. Ich war sicher, dass meine Erinnerungen mich zu dem richtigen Ort führen würden. Ich schloss die Augen und wartete.
Es war schon fast Abend, als er mir einfiel.
Der Ort, an den wir beide einmal hingehört hatten.