NEUNUNDZWANZIG
Der Abend brachte eine sanfte Brise und gedämpftes Licht über die Wälder, wo die Vögel und anderen Tiere träge verstummten. Fergal, der vor mir herging, verursachte trotz seiner schweren Stiefel kaum ein Geräusch und bewegte sich wie ein Schatten zwischen den Bäumen. Ich versuchte, es ihm gleichzutun, doch der Saum meines langen grünen Kleides raschelte über Gras, Zweige und niedrige Sträucher, und schließlich hoppelte direkt vor mir ein aufgeschrecktes Kaninchen über den Weg.
Fergal drehte sich um und gab mir ein Zeichen, dass ich ihm leiser folgen solle.
Ich tat mein Bestes.
Auf diesem Pfad war ich das erste Mal. Es handelte sich um den Weg, der vor so langer Zeit bei einem Spaziergang durch den Wilden Wald aufgetaucht und wieder verschwunden war und der, das wusste ich inzwischen, zum Meer führte. Der Geruch von Salz und Gischt verstärkte sich, als wir uns dem südlichen Rand des Waldes näherten.
Hier führte der Pfad scharf nach rechts unten und wand sich die schwarzen Felsen am Rand der Klippe entlang. Dieser Abstieg zum Strand war breiter und weniger tückisch als der am Cripplehorn. Dennoch musste ich aufpassen, wohin ich trat. Die leichten Schuhe machten meine Schritte unsicher, und das schwere Kleid drohte mich aus dem Gleichgewicht zu bringen. Ich war froh über Fergals stützende Hand.
Aus den Augenwinkeln nahm ich hohe Masten und ein Schiff wahr. Erst als wir das untere Ende des Wegs erreicht hatten und ich den Kopf heben konnte, sah ich die Sally nicht weit vom Ufer entfernt vor Anker liegen.
Ich hatte sie erst einmal zuvor vom Hügel bei Trelowarth aus beobachtet, als Jack in Richtung Bretagne gesegelt war.
Sie war kein allzu großes Schiff, maß etwa fünfzehn Meter vom Bug bis zum Heck und hatte vier Stückpforten für die Kanonen in ihrem gewölbten Bauch sowie zwei hoch aufragende Masten mit Tauwerk und Segeln, die im Wind flatterten.
Sie lag im Windschatten des schützenden Landvorsprungs, der Rumpf schwarz wie die hohen Klippen hinter ihr, und wirkte mit den weiß schimmernden Zierleisten auf mich wie eine elegante Dame.
»Aye, sie ist eine Lady«, pflichtete Fergal mir bei, als ich ihm das sagte. »Sie wurde in Deptford gebaut. Nur wenige Schiffe sind so schnell wie sie.«
Von Segeltörns mit Freunden in Kalifornien wusste ich, Steuer- von Backbord zu unterscheiden, aber ich hatte keine Ahnung von Schiffen dieser Zeit, in welche Klassen man sie einteilte und wie die Segel hießen. Doch der Anblick der Sally ließ mich begreifen, warum Jack und Daniel sie gleichermaßen für sich beanspruchten: Sie war zu schön, um sie zu teilen.
Fergal winkte, und von Deck aus winkte ein Mann zurück. Dann tauchte ein zweiter auf. Und ein weiterer.
Ich beobachtete vom Kiesstrand aus, wie sie ein Boot zu Wasser ließen und ein Mann zu uns herüberruderte. Fergal hob mich hinein, ohne mich vorzustellen oder meine Anwesenheit zu erläutern.
An Deck der Sally klärte Fergal die Mannschaft auf: »Das ist meine Schwester Eva. Sie begleitet uns. Sie kann nicht sprechen, aber wenn irgendeiner von euch sie belästigt, erfahre ich es. Ist das klar?«
Der jüngste der Männer war noch fast ein Kind, der älteste an die sechzig, und alle hatten den Blick von Seeleuten, die die harte Zeit auf See mit Trinkgelagen in Hafenkneipen beendeten. Zum Glück wirkte keiner von ihnen so, als könnte er Fergal in einem Kampf besiegen.
Als die Männer wieder an ihre jeweilige Arbeit gegangen waren, blinzelte Fergal in den Himmel, als wollte er den Stand der Sonne bestimmen. »Zwei Leute fehlen noch«, erklärte er. »Und Danny. Unter Deck ist das Warten bequemer.«
Eigentlich wäre ich gern oben geblieben, weil ich noch nie auf einem alten Schiff gewesen war. Es faszinierte mich, wie die Segel über mir flatterten und das Tauwerk ächzte, das Deck sich mit den Wellen hob und senkte und wie der Wind und die untergehende Sonne sich auf meinem Gesicht anfühlten. Aber es hatte keinen Sinn, Fergal zu widersprechen, und so folgte ich ihm nach unten.
Dort entdeckte ich eine vergitterte Falltür, die vermutlich in den Laderaum des Schiffes führte. Welche Fracht dort lagerte, konnte ich nur vermuten. Auf diesem Deck zählte ich acht Messingkanonen, deren Lafetten mit Seilen am Innern des Rumpfs befestigt waren, um den Rückstoß zu dämpfen. Dahinter schwangen Hängematten parallel zu Bug und Heck. Wieder dahinter befanden sich ein abgetrennter Raum mit Fergals Kombüse und einem Esstisch für die Männer und am Ende eine schwere Tür.
»Die Kabine des Kapitäns«, erklärte Fergal. »Sie schlafen hier.« »Allein« brauchte er nicht hinzuzufügen, weil klar war, dass er vor meiner Tür Wache halten würde, um sicher zu sein, dass keiner aus der Mannschaft – oder der Kapitän – mich belästigte.
Fast hatte ich Mitleid mit Daniel, weil ich nun, da ich seine Kabine kannte, wusste, auf welchen Komfort er verzichten musste.
Die Kabine hatte Fenster, von denen zwei offen standen, um die frische, salzige Luft hereinzulassen. Was für eine Wohltat nach dem Mief des Raums, in dem die anderen nächtigten! In der Kapitänskajüte waren an den Wänden Kerzenhalter angebracht, und ein kleiner, mit Schnitzereien verzierter Schreibtisch aus schwerem Holz stand auf einer Seite unter einem Regal mit Seekarten und anderen Papieren. An der hinteren Wand schwang eine breite Hängematte, die bequem mit einem Kissen ausgestattet war.
Ich hatte noch nie eine Nacht in einer Hängematte verbracht. Sicher würde ich herausfallen und mir beim Sturz auf den Boden die Knochen brechen. Ich wollte sie gerade genauer begutachten, als ich das Platschen von Rudern vor dem offenen Fenster hörte.
»Da kommt jemand«, sagte Fergal. »Warten Sie hier.«
Er ging nach oben. Ich vernahm, wie das Boot gegen den hölzernen Rumpf der Sally stieß, dann das Geräusch von Stiefeln auf dem Deck über mir und schließlich fröhliche Stimmen, darunter die von Daniel.
Er kam zu mir nach unten.
Fergal begleitete ihn mit mürrischem Gesicht. »Von wegen Williams Cousin. William ist krank, ja, aber der Bursche ist nie und nimmer sein Cousin.«
Daniel begrüßte mich mit einem Lächeln und einem Nicken und pflichtete Fergal bei: »Das glaube ich auch nicht.«
»Warum zum Teufel hast du ihn dann mitgebracht?«
»Weil er seine Geschichte gut erzählt hat und das Kennwort kannte. Es wäre schade gewesen, seine Mühe nicht zu belohnen. Außerdem«, fügte er, ein wenig ernster, hinzu, »müssen wir ohnehin noch ungefähr eine Stunde bis zur Flut warten. Wenn ich den Jungen am Ufer gelassen hätte, wäre er sofort zu dem gerannt, der ihn geschickt hat.«
»Creed.«
»Vermutlich, ja.«
»Creed kann dich nicht an der Abreise hindern«, stellte Fergal fest.
»Aber er kann uns ein anderes Schiff nachschicken. Momentan denkt er noch, dass sein Spion sicher bei uns an Bord gelangt ist. Lassen wir ihn fürs Erste in dem Glauben.« Daniel wandte sich mir zu. »Wie gefällt dir meine Sally?«
Ich antwortete ihm, dass ich sie wunderschön fand. »Aber was die Hängematte angeht, habe ich so meine Zweifel.«
»Tatsächlich? Mein Gewicht hält sie aus, und ich habe sogar schon erlebt, dass mehr als nur ein Mann in einer solchen Matte geschlafen hat. Du brauchst dir also keine Gedanken zu machen.«
»Stimmt«, pflichtete Fergal ihm bei, »denn weder dein Gewicht noch das eines anderen Mannes wird sie heute Nacht zusätzlich beschweren.«
Daniel wich dem spöttischen Blick seines Freundes nicht aus. »Vielleicht sollte ich dich zurück ans Ufer bringen lassen, zusammen mit Creeds Spion.«
»Versuch es nur.« Fergal straffte kurz die Schultern, bevor er nonchalant fragte: »Wie sehen deine Pläne aus?«
Über mir hörte ich Schritte und Männerstimmen. Obwohl ich wusste, dass mich von oben aus niemand sehen konnte, wich ich zurück. Die Schritte verharrten.
»Da ist er«, drang Daniels Stimme herunter.
Weitere Schritte bewegten sich zu ihm an die Reling, und ein jüngerer Mann beklagte sich: »Ich kann niemanden erkennen.«
»Unser Mitreisender ist in dieser Gegend ein gesuchter Mann«, sagte Daniel. »Er tut gut daran, vorsichtig zu sein und sich verborgen zu halten, bis Sie ihn holen.«
»Ich?«
»Aye. Das wäre Williams Aufgabe gewesen, und Sie sagten, Sie seien gekommen, um seine Arbeit zu verrichten.«
»Aber ich sehe niemanden dort.«
»Er wird sich erst zeigen, wenn Sie mit dem Boot landen und das Kennwort rufen. Machen Sie sich auf den Weg und holen Sie ihn, damit wir lossegeln können. Die Flut ist bald da.«
Wieder hörte ich das Boot an den Rumpf der Sally stoßen und dann, als das Platschen der Ruder sich entfernte, ein anderes Geräusch, ein Ächzen und Klirren, das ich noch nicht kannte. Erst als die Sally sich leicht zur Seite neigte, merkte ich, dass es das Lichten des Ankers war. Von oben drang der Klang flatternder und sich im Wind blähender Segel herunter.
Die Sally legte sich ins Zeug. Als sie sich drehte, sah ich Creeds Spion, der fast das Ufer erreicht hatte. Selbst wenn der Junge Kraft genug besessen hätte, das Boot zu wenden und zu uns zurückzurudern, wäre es sinnlos gewesen, denn man hätte ihn jetzt nicht mehr an Bord gelassen. Nachdem das Boot den Kiesstrand erreicht hatte, sprang er heraus und watete, so schnell es ging, an Land.
Als wir uns aus den Schatten des Landvorsprungs lösten, kletterte er gerade den Felsenpfad zur Klippe hinauf – kein leichter Aufstieg für jemanden, der vom Rudern durchnässt und ermüdet war. Aber er konnte sich glücklich schätzen, dass man ihn in dem Boot weggeschickt und nicht einfach über Bord gestoßen hatte.
Fergal war ganz ähnlicher Meinung, als er wenige Minuten später mit Daniel zu mir unter Deck kam. Die beiden stellten sich neben mich ans Fenster.
»Nun ist er wütend«, rügte Fergal Daniel. »Du hättest sein Mütchen mit einem Schwimmausflug im kalten Wasser kühlen sollen.«
»Und wenn er nicht schwimmen kann?«
Fergal zuckte mit den Schultern. »Dann hätten wir jetzt einen Narren weniger, mit dem wir uns herumschlagen müssen.«
Daniel schmunzelte. »Du bist ein harter Mann, Fergal. Ich kann nur hoffen, es mir nie mit dir zu verscherzen.«
»Das hängt nur von dir ab«, sagte Fergal mit einem Augenzwinkern und beugte sich aus dem Fenster, um noch einmal zum Ufer zu blicken. »Er wird geradewegs zu Creed laufen.«
Diesmal zuckte Daniel mit den Schultern. »Lass ihn. Creed sind die Hände gebunden. Im Hafen von Polgelly gibt es kein Schiff, das die Sally einholen könnte.«
Daniel richtete sich auf. Dabei berührte sein Kopf fast die Deckenbalken der Kabine. »Bereiten Seereisen dir Schwierigkeiten?«
»Wie bitte?«, fragte ich.
»Wird dir übel?«
»Ach so. Nein.«
»Gut. Hier unten in der Kajüte ist es komfortabler, aber interessanter gestaltet sich die Fahrt auf dem Achterdeck.«
Ich nahm seine Einladung gern an.
Oben roch die Luft sauberer, und das Licht der sinkenden Sonne hatte einen warmen goldenen Schimmer angenommen. Bald schon würde ich den Abendstern sehen.
Ich beobachtete die Männer bei der Arbeit an Segeln und Seilen und gab mich dem Auf und Ab des Schiffsdecks unter meinen Füßen hin.
Daniel an Bord der Sally zu erleben, war eine Offenbarung. Ich hatte ihn noch nie so zufrieden gesehen wie am Steuer des Schiffs, entspannt den Blick auf den Horizont gerichtet.
Was mich nervös machte, der Aufbruch in unbekannte Gefilde, schien ihn nicht im Mindesten zu belasten; er wirkte eher motiviert, wie jemand, der sich nicht von Gefahren abschrecken ließ, sondern sicher seinen eigenen Kurs wählte.
Ich beobachtete ihn, bis der kühle Nachtwind mich unter Deck trieb. Dort bat Fergal mich, ihm beim Austeilen von hartem Brot, Ale und von ihm in der Kombüse zubereitetem Fischeintopf zu helfen.
Das einfache Essen wurde ohne großes Aufhebens verzehrt. Ich aß dankbar meine Portion, bevor ich mich in Daniels Kabine begab, vor der Fergal Posten bezog. In der schwingenden Hängematte fühlte ich mich wie in den Armen eines Geliebten, und schon bald schlief ich tief und fest und träumte von Schiffen und Segeln und fernen Ufern.