DREISSIG

Symbol

Gerade wurden die letzten Boote beladen. Das Deck der Sally hob und senkte sich sanft, sodass ich mich an der Reling festhalten musste. Trotz des tiefen Nebels konnte ich das Ufer erkennen, die kleine, durch das Meer geschützte Bucht, die grünen Hügel und die Häuschen, die sich in Gruppen die Anhöhe hinaufdrängten. Nur die geringfügig andere Bauweise verriet, dass wir den schmalen Kanal, der Cornwall vom Kontinent trennte, überquert und die bretonische Küste erreicht hatten.

Daniel hatte mir erklärt, dass sie Rohmaterialien, die aufgrund der britischen Gesetze auf dem Kontinent so schwierig zu bekommen waren, gegen verarbeitete Waren, die die Menschen in England als Luxus erachteten, tauschten.

Er war mit dem ersten Boot an Land gefahren, und ich hatte gedacht, dass ich ihm auf dem letzten mit Fergal folgen würde, sobald es beladen wäre, doch Fergal belehrte mich eines Besseren.

Mit einem kurzen Nicken teilte er mir mit: »Ich gehe jetzt. Und Sie sollten sich nach unten zurückziehen.«

»Wie bitte?«

»In der Kabine sind Sie sicherer. Kommen Sie.«

Er begleitete mich und vergewisserte sich kurz, dass alles so war, wie es sein sollte.

Obwohl es mir nicht gelang, meine Enttäuschung zu verbergen, fragte Fergal, die Hände in die Hüften gestemmt, lediglich: »Können Sie mit einer Pistole umgehen?«

»Wie bitte?«, sagte ich noch einmal.

Er ging zum Schreibtisch und zog die oberste Schublade gerade so weit heraus, dass ich die Waffe darin sah. »Sie ist geladen. Wissen Sie, wie man sie abfeuert?«

»Eher nicht.«

»Ich zeige es Ihnen. Geben Sie Acht.« Er nahm die Pistole aus der Schublade.

»Fergal …«

»Sie werden sie nicht brauchen«, beruhigte er mich. »Es bleiben drei Männer mit Ihnen an Bord, und keiner wird Sie bedrängen. Denen könnte ich meine Mutter anvertrauen. Trotzdem sollte man am besten immer auf das Schlimmste vorbereitet sein«, fuhr er mit einem Schulterzucken fort, »denn dann wird man selten enttäuscht.«

»Fergal.«

»Aye?«

»Kann ich nicht mitkommen?«

Er gab sich Mühe, so zu tun, als würde er ernsthaft über meine Frage nachdenken. »Wenn Sie ein Marktweib oder eine Dirne wären, könnten Sie das, aber da Sie das nicht sind, täten Sie gut daran, in der Kabine zu bleiben«, riet er mir. »Wofür halten Sie uns? Glauben Sie wirklich, wir würden eine Frau mit an Land nehmen?«

»Nun …«

»Beobachten Sie ruhig aus diesem Fenster, wie viele Frauen aus dem Ort ihr sicheres Zuhause verlassen, um uns zu begrüßen«, sagte er. »Wenn sie sehen, dass die Sally vor Anker geht, verschwinden sie sofort, um ihre Tugend zu bewahren.«

»Wahrscheinlich, weil sie meinen, Jack wäre mit von der Partie.«

Fergal grinste. »Aye, gut möglich.« Er reichte mir die Pistole. »Und jetzt verriegeln Sie diese Tür.«

Als er weg war, legte ich die Pistole zurück in die Schublade, weil ich es als zu gefährlich empfand, sie in der Hand zu halten. Über mir kletterten die letzten Männer der Mannschaft in das wartende Boot. Als ich die platschenden Ruder hörte, trat ich einen Schritt vom Fenster zurück. Ich wollte nicht, dass sie sahen, wie ich ihnen, einem zurückgelassenen Kind gleich, nachschaute.

Doch Selbstmitleid hatte keinen Sinn; es blieb mir nichts anderes übrig, als nach einer Beschäftigung zu suchen.

Die Kapitänskajüte war nicht gerade darauf ausgerichtet, Gäste zu unterhalten. An der Wand beim Schreibtisch befand sich lediglich ein Regal mit Seekarten, Papieren und einigen Büchern, die mir nicht allzu verlockend erschienen. Das eine befasste sich mit Mathematik, das andere war auf Lateinisch geschrieben und das Dritte entweder von Alexander Pope selbst oder über ihn, weil sein Name auf dem Rücken stand. Das hielt ich noch für das Interessanteste. Als ich versuchte, es aus dem Regal zu ziehen, löste sich auch das daneben Stehende und fiel aufgeschlagen auf den Boden.

Ich hob es auf. Dabei sah ich die schwarze Tinte, an manchen Stellen mit Klecksen; es handelte sich also nicht um ein gedrucktes Werk.

Es schien kein Tage- oder Logbuch zu sein, denn es waren keine Einteilungen für Tage und Uhrzeiten darin zu finden, nur durchgehende handschriftliche Absätze.

Ich klappte den Band zu und schlug ihn auf der ersten Seite auf, wo ich folgende, in nicht allzu eleganter Schrift geschriebene Worte lesen konnte: »Jack Butler, Sein Buch.«

So, wie es aussah, hatte Jack bereits etwa die Hälfte seiner Memoiren verfasst, die später veröffentlicht werden und in dreihundert Jahren ihren Weg zu mir finden sollten.

Bisher war ich nicht dazu gekommen, viel mehr als die ersten Seiten von Ein Leben hart am Wind zu lesen, für das Oliver bestimmt einen horrenden Preis gezahlt hatte. Die Mühe hätte er sich sparen können, dachte ich, denn nun bekam ich das Ganze kostenlos. Als Eindringen in Jacks Privatsphäre empfand ich das nicht, weil seine Erinnerungen in meiner Zeit offen zugänglich waren. Die erste Seite verriet, dass der Text ohne jegliche Veränderung veröffentlicht worden war.

Ich stellte den Alexander-Pope-Band zurück ins Regal und machte es mir mit Jacks Buch in der sanft schwingenden Hängematte bequem.

Es war merkwürdig, exakt die gleichen Worte wie zwei Tage zuvor zu lesen, den Bericht über Jacks und Daniels Kindheit. Der Text konzentrierte sich natürlich auf Jack – er führte sich als Helden der Erzählung ein –, doch hin und wieder wechselte er zu einer allgemeineren Perspektive und schilderte Ereignisse wie das Folgende:

 

Zu dieser Zeit begegnete mein Bruder Daniel in London zwei Männern, die zum Militärdienst gezwungen werden sollten. Er mischte sich ein, bewirkte ihre Freilassung und wurde zum Lohn angeklagt. Nach mehreren Wochen in Newgate stellte man ihn vor Gericht, wo man merkte, dass niemand gegen ihn aussagen wollte. So kam er frei und konnte wieder zu uns stoßen …

 

Fergal hatte diese Episode in ihrer Auseinandersetzung am ersten Tag meines Aufenthalts in ihrer Zeit erwähnt und Daniel daran erinnert, dass die Kämpfe des Duke of Ormonde nicht die ihren seien und dieser sich während Daniels Haft in Newgate nicht für ihn eingesetzt habe.

Aber offenbar brauchten die Butler-Brüder niemanden, der sich für sie einsetzte. Sie schienen Glückskinder zu sein, wie Jacks Schilderungen von Gefangennahmen und Fluchten vor den Handlangern Queen Annes, auch auf hoher See, bewiesen.

Mit einer einzigen Ausnahme:

 

Am Ende des Sommers erlag die Frau meines Bruders ihrer langen Krankheit und wurde zur letzten Ruhe gebettet.

 

Mehr schrieb Jack nicht über den Tod von Ann oder die Auswirkungen auf die Hinterbliebenen. Allerdings tauchte der Constable von da an häufiger in seinen Erzählungen auf, eine dunkle Gestalt im Hintergrund.

Trotz Jacks erbärmlicher Grammatik und seiner grässlichen Handschrift bot das Buch interessanten Lesestoff.

So interessant, dass ich, als ich in der Erwartung umblätterte, etwas über die Unruhen während der Geburtstagsfeierlichkeiten für King George zu erfahren, enttäuscht war, nur den Satz zu lesen, den ich bereits von meiner ersten Lektüre kannte.

Ich blätterte weiter, um sicher zu sein, dass wirklich nichts mehr folgte, und klappte das Buch mit Bedauern zu. Nun ja, dachte ich. Immerhin wartete die Endfassung in meiner eigenen Zeit auf mich.

Ich wollte gerade aus der Hängematte aufstehen, als die Sally sich plötzlich hob, wie von einer großen Welle seitlich getroffen. Aus den Augenwinkeln nahm ich wahr, dass die Heckfenster sich verdunkelten. Fest an die Hängematte geklammert, drehte ich mich um und sah, wie der Rumpf eines anderen Schiffs bedrohlich nah vorbeiglitt, so nah, dass ich die vergoldeten Ornamente an den Stückpforten erkennen konnte.

Voller Panik schwang ich die Beine über den Rand der Hängematte.

Aus den Heckfenstern konnte ich nur das schwarze Schiff sowie einen schmalen Streifen des grauen Meers und des nebelverhangenen Ufers sehen, das so weit entfernt schien, dass von dort keine Hilfe zu erwarten war. Wieder spürte ich die Enttäuschung darüber, dass Daniel und Fergal mich aus Sicherheitsgründen auf der Sally zurückgelassen hatten.

Das unbekannte Schiff begann ein langsames Wendemanöver, bei dem sein Bug sich in den ablandigen Wind richtete. Am Ende lag es fast parallel zur Sally, und ich hörte nur noch die Wellen gegen den Rumpf der Sally schlagen.

Erstaunlicherweise zeigten die drei Männer, die mit mir an Bord geblieben waren, keinerlei Reaktion.

Mit zitternden Fingern nahm ich die Pistole, die ich fast vergessen hatte, aus der Schublade.

Als ich sie wieder zuschob, hörte ich das gleichmäßige Platschen von Rudern herannahen und schließlich ein Scharren auf der Steuerbordseite der Sally.

Die Pistole in der Hand, schloss ich kurz die Augen, um mich auf das Schlimmste vorzubereiten.

Jemand kam an Bord.