SECHSUNDDREISSIG
Der Mann mit der Pistole packte mich am Arm und zog mich in die Küche.
»Schließen Sie die Tür«, wies der Constable ihn nicht gerade erfreut an. »Mr Hewitt?«
Ein dritter Mann trat aus dem Schatten. »Ja?«
Gütiger Himmel, dachte ich, wie viele noch? Nach dem ersten Schrecken sah ich mich in dem Raum um und entdeckte zwei weitere Personen, insgesamt also fünf. Kein Wunder, dass Fergal keine Chance gehabt hatte.
Erleichtert merkte ich, dass seine Brust sich leicht hob und senkte.
»Hatten Sie nicht behauptet, dass Sie das Haus durchsucht hätten?«, fragte der Constable gerade.
»Das habe ich«, wehrte sich Hewitt. »Ich schwöre, es war niemand da. Sie muss sich versteckt haben.«
»Aus diesem Grund nennt man den Vorgang ›durchsuchen‹. Würden Sie sich freundlicherweise noch einmal mit Mr Leach ans Werk machen?«
Der Mann, der meinen Arm festhielt, wandte den Kopf, nickte und ließ mich los, bevor er Hewitt aus der Küche folgte. Ich straffte die Schultern, als der Constable mich musterte, ohne den Verletzten zwischen uns zu beachten.
Fast beiläufig fragte Creed: »Hatten Sie sich versteckt?«
Gerade noch rechtzeitig fiel mir ein, dass ich nicht sprechen durfte, und ich schüttelte den Kopf. Dabei ballte ich die Hände zu Fäusten, um ihr Zittern zu verbergen. Der Constable verzog die Mundwinkel. »Dann waren Sie wohl im Bett.« Sein Blick wanderte über meinen Körper. Offenbar hielt er das leichte cremefarbene Sommerkleid aus Baumwolle, das ich trug, für ein Nachthemd. Dazu das offene Haar erklärte, warum er meinte, ich sei gerade erst aufgestanden.
»Allein?«, erkundigte er sich mit einem spöttischen Lächeln.
Ich hob das Kinn, um ihm zu zeigen, dass ich eine solche Frage einer Antwort nicht für würdig hielt.
Einer der anderen Männer sagte: »Mr Creed?« Der Constable wandte sich ihm zu.
»Ja, Mr Pascoe? Was gibt es?«
Ein älterer Mann, der mir bekannt vorkam, trat in den Feuerschein des Kamins. »Ich möchte Sie bitten, auf Ihre Worte zu achten, Sir. Die junge Frau hat nichts getan, was eine solche Beleidigung rechtfertigen würde.«
Da erkannte ich ihn: der Mann, der bei Jacks Verhaftung dabei gewesen war und am folgenden Tag Fergal den Aal gebracht hatte.
Der Constable tat den Einwand mit einem Schulterzucken ab. »Es kann doch keine Beleidigung sein, sich nach den Tatsachen zu erkundigen.« Er bemerkte meinen raschen Blick auf Fergal. »Sie fürchten um Ihren Bruder? Wirklich sehr anrührend, aber ich garantiere Ihnen, dass er seine Hinrichtung noch erleben wird.«
So sicher war ich mir da nicht, denn inzwischen atmete Fergal flacher. Ich kniete nieder und tastete nach der Verletzung an seinem Kopf.
Als Mr Pascoe – ich kannte ihn als »Peter« – einen Schritt vortrat, hielt der Constable ihn zurück. »Nein, lassen Sie sie«, warnte er ihn. »Bleiben Sie, wo Sie sind.«
Ich drückte in der Hoffnung, die Blutung zu stoppen, gegen die breite Wunde an Fergals Hinterkopf. Sie hatten ihn von hinten mit etwas Hartem niedergeschlagen, wahrscheinlich mit einem Krug, denn in der Ecke neben der Tür entdeckte ich Tonscherben.
Ich spürte einen Splitter von der Größe meiner Hand an meinem Knie, als ich meine Position verlagerte, um Fergals Puls am Hals zu überprüfen. Er fühlte sich schwach, aber zumindest gleichmäßig an.
Mittlerweile hatten Leach und Hewitt die Durchsuchung der oberen Räume abgeschlossen. Als sie in die Küche zurückkehrten, verkündete Leach: »Niemand.«
»Dann warten wir. Ich warte schon so lange, da macht ein bisschen länger nichts aus«, meinte Creed. »Vielleicht haben Sie noch nicht gehört, Mistress O’Cleary, dass das Oberhaus das Gesetz außer Kraft gesetzt hat, das Ihren Geliebten bisher schützte. Als Vertreter der Krone in Polgelly habe ich nun das Recht, jedes Anwesen zu betreten und jeden festzunehmen, den ich des Verrats am König verdächtige, und ihn nach London zu schicken, wo er, das verspreche ich Ihnen, keine Gnade finden wird.«
Meine Finger schlossen sich schützend um Fergals Schulter. Dabei drückte mein Knie auf die Scherbe, und ich spürte, wie sie den Stoff meines Kleides durchschnitt.
Die Männer schwiegen und lauschten.
Etwa eine Viertelstunde verging, bis ich Schritte hörte.
Leach hob die Pistole und entsicherte sie, bevor er sie auf die Tür zum hinteren Flur richtete.
»Mr Creed?« Die müde Stimme aus dem Hof klang ziemlich jung.
Der Mann, der am nächsten bei der Tür stand, sah den Constable an, der nickte. Kurz darauf trat der Junge ein.
Er war stämmig und hatte ein Vollmondgesicht. Seine Stimme kam mir bekannt vor, als er Creed mitteilte: »Ich weiß, wo Mr Butler ist.«
Es war der Bursche, der als Spion an Bord der Sally gegangen war und von dem Jack gesagt hatte, er werde uns eines Tages Schwierigkeiten bereiten. Offenbar hatte Jack recht gehabt.
»Ich habe mich Ihrem Auftrag gemäß in der Nähe des Spaniard aufgehalten«, berichtete der Bursche. »Irgendwann sind zwei Männer herausgekommen, und einer von ihnen hat gesagt, es sei gut, wenn der Tag bald vorüber wäre, denn ein Jahr von King Georges Herrschaft sei kein Grund zum Feiern … Ich habe mir den Namen des Verräters gemerkt.«
Creeds Augen verengten sich. »Erzähl weiter.«
»Der andere hat geantwortet, dem König seien keine weiteren Jahre vergönnt; sie selbst würden noch in dieser Nacht mithelfen, ihn dorthin zu schicken, wo er hingehöre. Sie haben beide gelacht, und der Erste hat gefragt, ob es bei Mitternacht in der Höhle bleibe. Der andere hat mit ›aye‹ geantwortet, aber beide Butler-Brüder würden schon zuvor dort sein. Beide, das habe ich ganz deutlich gehört«, endete er stolz.
Creed runzelte die Stirn. »Und wo ist diese Höhle?«
Peter senkte den Blick und schüttelte kaum merklich den Kopf in Richtung des Mannes neben sich, während Hewitt mit den Schultern zuckte. Leach schien nichts über die Höhle unter dem Cripplehorn zu wissen.
»Ich dachte, die kennen Sie, Sir. Sonst hätte ich sie Ihnen längst gezeigt. Ich kann Sie hinbringen«, erbot sich der Bursche.
»Tu das.« Creed musterte die anderen Männer. »Falls einem von Ihnen seine Verpflichtung gegenüber dem Gesetz nicht klar ist, soll er es jetzt sagen. Ich helfe seinem Gedächtnis gern auf die Sprünge.« Schweigen. »Niemand? Dann lassen Sie uns keine Zeit mehr verlieren. Mr Leach, Sie bleiben hier bei O’Cleary.«
»Und das Mädchen?«, erkundigte sich Leach.
»Sie begleitet uns.«
»Mr Creed!«, rief Peter entsetzt aus.
Als Creed ihn, erstaunt über seine Unverfrorenheit, ansah, fügte Peter hinzu: »Sir, das werde ich nicht zulassen.«
Da spürte ich neben meinem Knie eine kaum wahrnehmbare Bewegung. Fergals Hand hatte sich leicht verschoben; seine Finger ballten sich zur Faust. Ich wusste nicht, wie viel er von dem, was ablief, mitbekam, aber ich legte meine Hand auf seine und drückte sie kurz, um ihm zu signalisieren, dass er sich nicht mehr rühren sollte.
»Sie lassen das nicht zu?«, wiederholte Creed mit gefährlich funkelnden Augen.
»Nein, Sir. Sie ist nicht angemessen gekleidet.«
Offenbar beschäftigte das auch Hewitt, der sich nun zu Wort meldete: »Oben ist eine Truhe mit Frauenkleidung. Ich gehe rauf und …«
»Nein«, fiel Creed ihm ins Wort. »Diese Kleider gehören ihr nicht.« An Peter gewandt, fügte er hinzu: »Geben Sie ihr Ihren Mantel, Mr Pascoe, wenn Ihnen das Kopfzerbrechen bereitet.«
»Der Weg zur Höhle hinunter ist zu beschwerlich für sie«, erklärte Peter, »insbesondere in der Dunkelheit.«
Offenbar war ihm nicht bewusst, was er soeben zugegeben hatte.
»Dann kennen Sie den Weg zur Höhle der Butlers also?«, fragte der Constable mit der gefährlich leisen Stimme, die ich so fürchtete.
Peters Kiefer mahlte, doch er schwieg. Nun war klar, dass ich zur Höhle mitgehen musste und Fergal hilflos bei Leach und seiner Pistole zurückbleiben würde.
Ich zog die Scherbe unter meinem Knie hervor und nahm sie vorsichtig in die Hand, mit der ich nach wie vor die von Fergal hielt. Niemand merkte etwas. Noch vorsichtiger schob ich sie Fergal zwischen die Finger und schloss sie darum. Dann drückte ich sie dicht an seinen Körper, damit sein dunkler Mantel sie bedeckte. So hatte Fergal wenigstens eine Waffe, sollte er das Bewusstsein wiedererlangen.
»Ich habe nie begriffen, warum alle so treu zu diesen Butlers halten«, sagte Creed, dessen Blick von Peter zu Hewitt und schließlich zu dem schweigenden Mann zwischen Fenster und Tür wanderte. »Schade, dass keiner aus Polgelly unter den Geschworenen sein wird, wenn der Fall verhandelt wird, denn die Londoner erliegen dem Charme der Butlers mit Sicherheit nicht.« Er wandte sich an Leach. »Glauben Sie, Sie schaffen es, nicht nur auf O’Cleary aufzupassen, sondern auch auf seine Schwester?«
Leach musterte mich lüstern von oben bis unten. »Aye, Mr Creed, das schaffe ich leicht.«
Wieder protestierte Peter.
»Dagegen haben Sie auch etwas, Mr Pascoe?«, fragte Creed. »Möchten Sie lieber hier bei den beiden bleiben?«
»Aye.«
»Dann tun Sie das.« Creed trat einen Schritt beiseite.
Peter zog seinen Mantel aus. Der Constable ergriff den Kragen des schweren Kleidungsstücks, als wollte er es ihm abnehmen.
Plötzlich schwang sein freier Arm nach vorn und gegen Peters Brust.
Es geschah blitzschnell. Peter ging keuchend und mit erstauntem Gesicht in die Knie, die Arme hinten, weil der Constable noch immer den Mantel festhielt.
»Bleiben Sie, wenn Sie wollen«, meinte Creed und zog den freien Arm zurück. Erst jetzt sah ich das blutrote Messer. Peter keuchte noch einmal, und Creed ließ den Mantel los, sodass Peter mit dem Gesicht nach vorn reglos auf den Boden fiel.
»Nun.« Creed wischte die Klinge des Messers an dem dunklen Ärmel des Mantels ab. »Möchte sonst noch jemand hierbleiben?«
Allgemeines Schweigen.
»Niemand? Dann lassen Sie uns aufbrechen.« Mit dem Messer auf mich deutend, wies er Leach an: »Helfen Sie ihr auf die Beine.«
»Sie sagten doch …«
»Ich habe gelogen.« Creed hob die Augenbrauen, als wäre er erstaunt darüber, dass niemand das gemerkt hatte. »Wenn Butler seine Männer dabeihat, bedarf es möglicherweise einiger Anstrengung, ihn zu seiner Festnahme zu überreden. Außerdem«, fügte er hinzu, »würde sie Sie vermutlich von Ihren Pflichten ablenken, Mr Leach, wenn ich sie hierlasse.«
Leach brummelte etwas, als er mich grob am Arm packte und hochzerrte.
Creed begutachtete sein Messer, bevor er mir Peters Mantel zuwarf.
»Bedecken Sie sich«, wies er mich an.
Der Junge, der neben der Tür stand, starrte benommen die Leiche auf dem Boden an. Falls er je zuvor einen Mord miterlebt hatte, dann wohl nicht aus der Nähe.
»Nun?«, fragte der Constable ihn.
Der Bursche, der zu meinen schien, dass Creed ihn um Rat bat, antwortete: »Sollten wir nicht … Sir, sollten wir nicht versuchen, ihn zu bewegen?«
Creed runzelte die Stirn. »Wen?« Er folgte dem Blick des Jungen. »Ach so, den. Nein, O’Cleary lassen wir hier. Leider hat er bei unseren Bemühungen, ihn festzunehmen, Mr Pascoe angegriffen und umgebracht. Wir können uns damit trösten, dass die Anklage wegen Hochverrats und Mordes den Richter zu einem strengen Urteil veranlassen wird.« Er sah den Burschen ungeduldig an. »Aber jetzt zu dieser Höhle.«
»Ja, Sir. Ich kann Sie hinführen.«
»Dann tu das. Mr Hewitt?«
»Sir?«
Creed drehte sich mit kühlem Blick zu mir um. »Bringen Sie Butlers Dirne.«