SECHSUNDZWANZIG

Symbol

Obwohl das Zimmer neben dem meinen von der Mittagssonne erhellt wurde, fröstelte ich bei dem Gedanken, wie knapp ich einer Katastrophe entgangen war.

Eine steife Brise vom Meer rüttelte an den Fenstern, als ich den Raum betrat. Niemand wusste, dass ich mich hier aufhielt. Die Tür zum Flur war verschlossen; ich war durch die Verbindungstür zu meinem eigenen Zimmer gekommen, Ann Butlers geblümtes Kleid über dem Arm.

Das zweite Kleid von ihr, das ich aus ihrer Zeit mitgenommen hatte. Es erschien mir richtig, es in diesen Raum zu bringen, der einmal ihr Zimmer gewesen war.

An der hinteren Wand befand sich unter der Speichertreppe ein Einbauschrank, in dem im Winter die Sommerkleidung aufbewahrt wurde und umgekehrt. Ich schob die dicken Wollsachen beiseite, machte einen Bügel frei und legte das geblümte Kleid sorgfältig darüber. Dann hängte ich den Bügel hinter die anderen Sachen, wo ich bereits das ausgeblichene blaue Gewand und den Hausmantel versteckt hatte.

Meine Finger berührten die Seide von Daniels Banyan. Hier spürte ich ihn stärker als anderswo, so intensiv, dass ich fast das Gefühl hatte, ich müsste nur die Augen schließen, um mich in seine Zeit zurückzuversetzen.

»Du bist wieder da«, hörte ich Claires Stimme. Von der offenen Tür zu meinem Zimmer aus fragte sie: »War es ein schöner Ausflug?«

Ich schloss die Schranktür, bevor ich mich mit schlechtem Gewissen umdrehte und nickte. »Ja, ich bin zur Kirche hochgegangen.« Das schien Ewigkeiten her zu sein. Hüstelnd fügte ich hinzu: »Mr Teague war dort. Er hat sich nicht verändert.«

Claire lächelte. »Er wird immer derselbe bleiben. Wenn er eines Tages das Zeitliche segnet, wandert er bestimmt als Geist über den Friedhof und hält alles in Ordnung. Hat er sich gefreut, dich zu sehen? Natürlich. Mr Teague liebt Gesellschaft.« Ihr Blick wanderte durch den Raum. »Mein Gott, wie verstaubt es hier ist. Den Schrank müsste man mal ausräumen.«

»Das kann bis zum Winter warten, oder? Wenn die dicken Mäntel sowieso rausgeholt und die Sommersachen reingehängt werden.«

»Ja, wahrscheinlich hast du recht.« Claire musterte mich. »Ich kann mich nicht erinnern, dich je mit hochgestecktem Haar gesehen zu haben, Eva. Steht dir gut.«

Das hatte ich in meiner Eile, ins Haus und in meine eigene Kleidung zu schlüpfen, bevor mich jemand entdeckte, völlig vergessen. Ich hob die Hand zum Kopf und ertastete eine Haarnadel. »Es ist ein bisschen aufwendig …«

»Nein, lass es zum Lunch so.« Sie schmunzelte. »Du hast nämlich Besuch.«

 

Als ich Claire in die Küche folgte und die Klinge eines Messers über das Schneidebrett scharren hörte, dachte ich: Ach, Fergal kocht. Einen Moment lang fehlte mir die Orientierung.

Mark saß am Tisch und schrieb in ein Notizbuch, während Susan an der Spüle Gemüse schnitt. Ihre Aufmerksamkeit schien jedoch Oliver zu gelten, der neben ihr an der Arbeitsfläche lehnte, nach wie vor in Radlerhose und eng anliegendem Oberteil. Der Wind hatte sein Haar getrocknet; nur an den Schläfen war es noch feucht von der Anstrengung, die steile Straße von St. Non’s zurückzuradeln.

Er begrüßte mich mit einem Grinsen. »Ich bin wieder da.«

»Man wird ihn einfach nicht los«, bemerkte Claire liebevoll und musterte ihn von oben bis unten. »Weiß deine Mutter, wie du dich kleidest?«

»Von der habe ich die Sachen«, antwortete er.

»Ach. Willst du jemand Bestimmten mit deiner Männlichkeit beeindrucken?«, spottete Susan.

Mark bemerkte, dass Lycra-Shorts nicht gerade ein Symbol für Männlichkeit seien.

»Das, mein lieber Bruder, ist Ansichtssache«, meinte Susan.

Ich kam Oliver zu Hilfe. »Er ist heute schon nach St. Non’s und zurück geradelt.«

»Schwierigkeiten mit einem der Cottages?«, erkundigte sich Mark.

»Ja, ein Wasserschaden«, antwortete Oliver. »Es war übrigens tatsächlich Susans Klempner«, teilte er mir mit.

Susan wurde rot. »Mein Klempner?«

»Paul, von Andrews & Son. Der hat das Problem in null Komma nichts behoben«, erklärte Oliver. »Ich dachte mir, ich schaue auf dem Rückweg hier vorbei …«

»Wie zufällig zur Essenszeit«, stellte Claire mütterlich-nachsichtig fest und fragte Susan: »Reicht’s für alle?«

Susan nickte.

Oliver versuchte, entrüstet auszusehen. »Man hat mich hergebeten.«

Claire blickte mich an. »Tatsächlich?«

»Ich soll mir Marks Messer ansehen.«

Mark hob den Kopf. »Mein was?«

»Felicity meint, du hättest ein altes Messer …«

»Ach so, das. Warte, ich hole es.«

Mark stand auf und ging hinaus, während Claire den Tisch für fünf deckte. »Oliver, was trinkst du?«

»Wasser, bitte.«

Ich hatte Fergals Stimme im Ohr, als er sagte, dass er seinen Durst lieber mit Ale und Apfelwein löschte. Fast war ich versucht, Claire um Apfelwein zu bitten.

Auf einmal fiel es mir schwer, mich in meiner eigenen Zeit zurechtzufinden, besonders in der Küche, wo ich so viele Stunden verbracht hatte. Fergals mürrische Miene und sein kurzes Lächeln fehlten mir, Jacks Stuhlkippeln und Daniel …

»Du siehst toll aus mit der Frisur«, sagte Susan zu mir, die gerade den Salat mischte. »Du solltest dein Haar öfter hochstecken.«

»Danke.«

Oliver gestand, dass es ihm überhaupt nicht aufgefallen war. »Heute Morgen an der Kirche war es noch nicht hochgesteckt, oder?«

»Nein, ich …« Ich hob verlegen die Hand zum Kopf und rückte eine Nadel zurecht. »Ich wollte mal was Neues ausprobieren.«

»Habt ihr zwei heute Morgen schon um den Segen der Kirche gebeten?«, neckte Susan uns.

»Unter dem wachsamen Blick von Mr Teague?«, fragte Oliver zurück. »Eher nicht. Nein, deine PR-Expertin hat die letzten Ruhestätten der berühmten Butler-Brüder von Trelowarth aufgespürt.«

Mark, der gerade mit seinem Schatzkästchen zurückkehrte, sagte: »Die schon wieder?«

»Wir wollen unserem Unternehmen eine Geschichte geben, Mark, und Schmuggler versprechen Abenteuer«, erklärte Susan. »So etwas mögen Touristen.«

Mark stellte das Kästchen schulterzuckend auf den Tisch. Wir beugten uns darüber, um seine gesammelten Schätze zu bewundern.

Oliver war fasziniert von den Musketenkugeln, aber er meinte: »Wenn du die in der Höhle gefunden hast, stammen sie eher aus einer Pistole. Ich kann mir nicht vorstellen, dass dort genug Platz zum Abfeuern einer Muskete gewesen wäre. Auf so kurze Distanz würde man eine Pistole verwenden.«

Ich betrachtete die sieben kleinen Metallkugeln in seiner Handfläche.

»Kannst du aufgrund der Größe feststellen, aus was für einer Waffe sie abgefeuert wurden?«, wollte ich wissen.

»Nicht wirklich. Sowohl bei Musketen als auch bei Pistolen war der Lauf innen glatt und hinterließ keine Spuren an den Kugeln. Außerdem waren sie kleiner als der Lauf der Waffe, da vor dem Laden noch Papier darumgewickelt wurde. Standardmusketen der Marine wurden mit größerer Munition geladen, bei Donnerbüchsen und anderen Musketen kamen auch kleinere Geschosse wie diese zum Einsatz.« Er drehte die Kugeln mit dem Finger um. »Trotzdem bleibe ich dabei, dass die hier aus einer Pistole stammen, weil du sie in einer Höhle gefunden hast.«

Ich musste an die Pistole denken, die Daniel vergangene Nacht in seinen Gürtel gesteckt hatte, bevor er zum Spaniard gegangen war, um nach Jack zu sehen. Vergangene Nacht …

Ich versuchte, mich auf Olivers Erklärungen zu konzentrieren.

»Ich habe eine Luntenschlosspistole im Museum, für die man Kugeln ungefähr dieser Größe verwendete.«

»Die wurde mit einer Lunte abgefeuert?«, versicherte ich mich.

»Genau.« Oliver bedachte mich mit einem anerkennenden Blick. »Mit einer langsam brennenden Lunte. Du hast dich kundig gemacht, stimmt’s?«

Mark nahm vorsichtig den Dolch aus dem Kästchen. »Und für wie alt hältst du den, Einstein?«

»Wow«, rief Oliver aus, legte die Kugeln zurück und nahm ehrfürchtig den Dolch in die Hand. »Der ist wunderschön.«

Nur ein Mensch, der Geschichte liebte, konnte Gefallen an etwas finden, dem der Zahn der Zeit so sehr zugesetzt hatte. Er drehte den verbliebenen Teil des Griffs ins Licht. »Ich glaube, der ist aus Muschelkalk.«

Bravo, Oliver! Ich war gespannt, wie nahe er der Wahrheit mit seiner Einschätzung kommen würde.

»Das könnte das Messer eines Schmugglers sein«, meinte er.

»Warum?«, wollte Mark wissen.

»Mit ziemlicher Sicherheit gehörte es jemandem, der viel Zeit auf dem Meer verbrachte, denn Seeleute hatten Messer dieser Größe. Es handelt sich um ein Multifunktionsgerät, mit dem sich sowohl ein Seil splitten als auch das Essen schneiden und aufspießen ließ. Auf einem Schiff war man ohne so etwas aufgeschmissen. Dieses Stück ist besonders schön gearbeitet. Wenn ich es so halte …«, er wölbte die Handfläche um den Griff, »… sieht man die Klinge kaum. Wer es gefertigt hat, verstand sein Handwerk.« Er wiederholte Marks Frage: »Wie alt es ist? Schwer zu sagen in dem Zustand, aber die Form war in der Restaurationszeit verbreitet, zwischen 1660 und 1680.«

»Eine ziemlich genaue Angabe«, stellte Mark beeindruckt fest.

»Ja. Wisst ihr, ich habe eine Schwäche für Messer. Würdest du es verkaufen?«

»Ich denke nicht, dass das sinnvoll wäre«, antwortete Mark, nahm Oliver den Dolch aus der Hand und legte ihn zurück in das Kästchen. »So kaputt, wie es ist, würde es wohl nicht viel bringen.«

Falls Oliver wusste, was das Messer wert war, hatte er wohl beschlossen, es uns nicht zu verraten. Vielmehr zuckte er mit den Schultern, was Claire veranlasste, mit der Zunge zu schnalzen und eine Wunde an seinem Arm zu begutachten.

»Übler Kratzer«, stellte sie fest. »Ich hole dir ein Pflaster.«

»Nein, nein, nicht nötig«, versicherte er ihr. »Das war nur dieses verdammte Gesträuch neben dem Gewächshaus.«

»Susans Weißdornbusch. Sie hat gerade alle Sträucher rund herum entfernen lassen.«

»Na, toll«, sagte Oliver, an Susan gewandt.

»Das ist ein kornischer Brauch, du Dummkopf«, wehrte diese sich. »Wir machen daraus einen cloutie tree wie der am Brunnen in St. Non’s. Das gefällt den Touristen. Sie können ein Stück Stoff an einen Ast binden und sich dabei etwas wünschen wie die Leute früher.«

»Ach so.« Oliver strich über die Wunde. »Dann war das ja ein guter Anfang.«

Als er sich Salat nahm, fragte ich ihn: »Oliver?«

»Ja?«

»Hast du schon mal was von der Trelowarth-Eiche gehört? Ein ziemlich großer Baum in der scharfen Kurve der Straße?«

»Die Trelowarth-Eiche? Klar. Davon habe ich sogar eine Radierung. Die könntest du dir ansehen. In meinem Wohnzimmer.«

»Was ist mit dem Baum passiert?«

Er spießte ein Salatblatt auf. »Methodisten.«

»Wie bitte?«

»Die Ortsansässigen glaubten, dass der Baum Zauberkräfte hat, und dem Methodisten-Pfarrer passte das nicht. Er hat ihn fällen lassen.«

»Wann?«

»Irgendwann im neunzehnten Jahrhundert. Wenn es dich interessiert, schlage ich es für dich nach.«

Susan schüttelte den Kopf. »Wie albern. Sie haben den Baum einfach gefällt?«

»Ja. Und den Stumpf haben sie verbrannt und ausgegraben.«

Aber nicht die Wurzeln, hätte ich beinahe gesagt. Die hatten sie nicht zerstören können.

Die Wurzeln, die dem keltischen Volksglauben nach die Welten von Licht und Schatten verbanden, sodass der Baum als eine Art Pforte diente …

Da hörte ich aus der Ferne Lachen, Männerlachen, und hob den Kopf. Ich sah, wie der Raum sich aufzulösen begann und Fergal zur offenen Feuerstelle ging … Ich blinzelte, und alles war wieder wie zuvor.

»Stimmt etwas nicht?«, erkundigte sich Oliver besorgt. »Hast du Kopfschmerzen?«

»So was Ähnliches.« Ich griff zur Gabel. »Aber das ist sicher gleich wieder vorbei.«

Aus den Augenwinkeln nahm ich den Schatten eines schwarz gekleideten Mannes wahr, der am Fenster vorbei zur hinteren Tür schritt.