DREIUNDDREISSIG
Am nächsten Tag schliefen wir lange. Jack war als Erster auf den Beinen. Ich hörte ihn in der Küche vor sich hin pfeifen, bevor er zu den Ställen hinausging. Daniel regte sich im Zimmer nebenan. Seine Schritte bewegten sich über die knarrenden Dielen, er zog sich an und begab sich nach unten.
Ich spielte mit dem Gedanken, mich noch einmal umzudrehen, doch am Ende stand ich ebenfalls auf und zog mich an, was einige Zeit in Anspruch nahm. Als ich die Küche betrat, war Jack wieder im Haus und diskutierte mit Daniel.
»Aye«, sagte Jack gerade, »ich weiß, was du gedacht hast, aber meiner Ansicht nach hättest du besser daran getan, den Burschen mitkommen zu lassen und ihn unterwegs über Bord zu werfen. Das hätte man als Unfall ausgeben können, und niemand wäre in der Lage gewesen, das Gegenteil zu beweisen.«
»Ich bringe keine bartlosen Burschen um. Guten Morgen, Eva«, begrüßte Daniel mich.
Mit einem Nicken nahm ich den Eimer von dem Haken an der Feuerstelle, um Wasser zu holen.
»Bartlose Burschen, die vor Creed bloßgestellt wurden, könnten sich am Ende als unerwartet gefährlich erweisen.«
Am Brunnen befand sich eine einfache Vorrichtung aus Winde, Seil und Haken. Das Heraufholen des vollen Eimers war härtere Arbeit, als ich gedacht hatte. Ich kurbelte gerade, als Jack durch die hintere Tür herauskam.
Er trat zu mir. »Ich mach das schon.« Die Energie, mit der er ans Werk ging, entsprang wohl eher dem Bedürfnis, seinen Ärger abzureagieren, als seinem Wunsch, mir zu helfen. Er zog mit einer solchen Kraft, dass das Wasser aus dem Eimer schwappte, als er ihn heraufholte.
»Hier.« Er reichte mir den Eimer, drehte sich um und ging. Nach ein paar Schritten wandte er sich noch einmal um. »Wenn Sie tatsächlich eine Stimme haben, sollten Sie sie dazu verwenden, meinen Bruder davon zu überzeugen, dass es Zeiten gibt, in denen Männer aus Eigennutz, nicht aus Ehre handeln müssen.«
Ich hätte ihm gern geantwortet, dass es keinen Sinn hatte, Daniel etwas zu sagen. Er war so, wie er war; keine Macht der Welt konnte ihn verändern.
Was Jack bestimmt wusste. Nach einem letzten wütenden Blick ging er zu den Stallungen, während ich den schweren Wassereimer über den Hof schleppte.
Fergal, der gerade erst aufgestanden war, nahm ihn mir an der Küchentür gähnend aus der Hand und schaute zu Jack hinüber. »Machen Sie sich keine Gedanken über Jack, er ist nun mal ein Heißsporn. Nach ein paar Tagen allein im Haus muss er Dampf ablassen.«
Ich machte mir gar keine Gedanken über Jack, weil ich wusste, dass er noch viele Jahre vor sich hatte. Meine Sorge galt eher den beiden anderen Männern.
»Frühstück«, verkündete Fergal. »Und hinterher müssen Sie das Abendessen allein kochen.«
»Warum? Was haben Sie vor?«
»Ich muss nach Lostwithiel.«
»Wieso?«
»Das soll Sie nicht kümmern. Kommen Sie jetzt zum Frühstück.«
»Hat es mit den Waffen aus der Bretagne zu tun?«
Fergal sah mich an. »Hoffentlich werde ich nie in die Zukunft reisen. Ich würde es nicht lange aushalten in einer Zeit voller Frauen, die so neugierig sind wie Sie.« Er stellte den Eimer auf der Feuerstelle ab und wiederholte: »Frühstück.«
Als ich hinaufging, um mein Bett zu machen, stieg mir auf dem Treppenabsatz der angenehme Geruch von Pfeifentabak in die Nase. Daniel saß in seinem Arbeitszimmer in einem Sessel am Fenster, in ein ziemlich altes Buch vertieft. Er hob den Blick, nahm die Pfeife aus dem Mund und fragte: »Brauchst du mich?«
»Ich fange bald mit dem Kochen an, Fisch. Etwas anderes ist nicht da. Wie soll ich ihn zubereiten?«
»Wie du möchtest«, antwortete er lächelnd. »Hat Fergal ihn wenigstens für dich ausgenommen?«
»Ja.«
»Gut.« Daniel legte die Pfeife auf den Tisch neben sich und straffte die Schultern.
Ich betrachtete das Buch genauer. »Was liest du?«
Er hielt es mir so hin, dass ich den Titel erkennen konnte. Der skeptische Chemiker.
»Ein Werk über Chemie?«, fragte ich.
»Du kennst dich aus in dieser Wissenschaft?«
»Ich weiß nur, was ich in der Schule gelernt habe.«
»Also zweifelsohne mehr als das, was selbst die bedeutendsten Wissenschaftler unserer Zeit ahnen.« Mit einem Nicken in Richtung Buch fügte er hinzu: »Der Verfasser, ein gewisser Richard Boyle, hatte einen scharfen Verstand, auch wenn er sich meiner Ansicht nach zu intensiv mit Alchemie befasste. Als ich noch ein kleines Kind war, hat er Versuche mit Feuer und chemischer Verbrennung durchgeführt. Ich hatte gehofft, sie in diesem Band beschrieben zu finden, aber er ist zu alt. Trotzdem finde ich ihn höchst faszinierend.«
»Wieso interessierst du dich für chemische Verbrennung?«
»Weil du von sich selbst entzündenden Fidibussen erzählt hast.« Er lehnte sich in seinem Sessel zurück. »Ich könnte mir vorstellen, dass Phosphor über nützliche Eigenschaften verfügt, aber was die anderen Chemikalien anbelangt, die nötig sind …«
»Das darfst du nicht machen«, fiel ich ihm voller Panik ins Wort. Doch er würde sich nicht davon abbringen lassen, das wusste ich. Für ihn war alles, was er nicht sofort durchschaute, ein Rätsel, das es zu lösen galt, eine Art Spiel. »Du kannst nicht mit Streichhölzern herumexperimentieren, Daniel. Die werden erst im neunzehnten Jahrhundert erfunden.«
Er blätterte weiter. »Wenn ich das Geheimnis lüfte, muss ich dir also versprechen, es bis dahin in der Familie zu bewahren?«
»Über so etwas scherzt man nicht. Das darfst du nicht machen«, wiederholte ich.
»Warum nicht?« Er merkte die Seite im Buch mit dem Daumen ein, schloss es und bedachte mich mit einem herausfordernden Blick. »Wieso sollte es schaden, wenn ich mein Wissen erweitere?«
»Das tut es, wenn es sich um Wissen handelt, das in dieser Zeit noch nicht existiert. Es kann die Zukunft und den Lauf der Dinge verändern.«
»Warum glaubst du das?«
»Das sagt mir der gesunde Menschenverstand.«
»Und welche Belege hast du dafür?«, erkundigte er sich. »Ist je zuvor ein Mensch durch die Zeit gereist?«
»Ich weiß es nicht …«
»Haben Gelehrte sich mit der Frage auseinandergesetzt?«
»Sie haben Theorien …«
»Wie lassen sie sich überprüfen? Theorien sind schön und gut, aber mein eigener gesunder Menschenverstand sagt mir, dass es eine Weltordnung gibt, die sich durch den Willen des Einzelnen nicht so leicht beeinflussen lässt.« Er breitete die Hände aus. »All das, mein ganzes Leben, ist für die Menschen deiner Zeit bereits vorbei und aus dem Gedächtnis getilgt. Es ist wie in dem Gedicht über den Finger. Meine Seite ist geschrieben, und nicht einmal ich kann eine Zeile davon verändern.«
»Aber ich habe hier eigentlich nichts verloren. Ich darf mich nicht einmischen.«
Daniel legte das Buch weg und trat zu mir. »Woher willst du wissen, dass dies nicht genau der Ort ist, an dem du sein sollst?«
Ich schüttelte den Kopf. »Es ist unmöglich.«
»Warum? Welchen Beweis hast du für deine These?«
»Und du für deine?«
Daniel ergriff meine Hand und hob sie an sein Herz. »Hier«, antwortete er mit leiser Stimme. Die andere Hand legte er unter mein Kinn. »Und hier«, murmelte er, bevor er mich küsste.
Kurz darauf löste er sich von mir und fragte mit rauer Stimme: »Brauchst du weitere Beweise?«
Obwohl ich wusste, dass ich damit alles noch schwieriger machte, nickte ich. Und er hob mich hoch, küsste mich ein weiteres Mal und trug mich von seinem Arbeitszimmer über den Flur ins Schlafzimmer, wo er die Tür hinter uns mit dem Fuß zustieß. Dann hörte ich, wie zugesperrt wurde, und wenig später lagen wir auf dem Bett.
Die Zeit schien stehen zu bleiben, und ich stellte mir keine Fragen mehr über meinen Platz darin. Ich war genau dort, wo ich sein sollte, im Bett neben Daniel Butler.
Als ich sein Gesicht betrachtete, sah er mich lächelnd an.
Ich schloss die Augen, um den Moment festzuhalten. Doch dann fiel mir ein, wie ich das letzte Mal von meiner Gegenwart in die Vergangenheit gelangt war. Hastig öffnete ich sie wieder.
Er war noch da.
»Zweifelst du wieder daran, dass ich real bin?«, fragte Daniel.
»Nach dem, was gerade passiert ist, ja, vielleicht.«
»Ich verstehe das als Kompliment. Oder soll es am Ende das Gegenteil bedeuten?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, es war ein Kompliment.«
Als Daniel mich küsste, verdunkelten sich seine grünen Augen. Seine Miene wurde ernst, er ließ den Kopf auf das Kissen sinken und wand eine lange Strähne meines Haars um seinen Finger. »Ich habe viele Frauen gekannt, Eva, bin aber nur zweimal der Liebe begegnet. Ich kann nicht behaupten, sonderlich viel davon zu verstehen oder ein guter Ehemann gewesen zu sein. Manchmal neige ich dazu, das, was ich liebe, zu stark an mich zu drücken, und ich habe bisweilen unerwartete Launen. Ich weiß, dass es nicht leicht ist, ein Leben mit mir zu führen.«
Ich hielt den Atem an.
Er betrachtete meine Haarsträhne. »Ich bin nur zweimal der Liebe begegnet«, wiederholte er. »Das erste Mal hielt ich sie für selbstverständlich, und jetzt liegt sie im Grab und ist für immer verloren. Ich möchte nicht …« Seine Hand schloss sich zur Faust. »Mit dir möchte ich den gleichen Fehler nicht noch einmal begehen.«
»Heißt das, du liebst mich?«
»Aye.« Er blickte mir in die Augen. »Und ich möchte dich heiraten.« Anscheinend hatte er den Eindruck, dass das zu bestimmt klang, denn er formulierte es neu: »Ich frage dich, ob du mich heiraten willst.«
Mir traten Tränen in die Augen. »Ich liebe dich auch, aber …«
»Aber …?«
»Ich bin nicht immer da und habe keinen Einfluss auf mein Kommen und Gehen. So ein Leben kannst du dir doch nicht wünschen.«
»Ich will dich.« Seine Finger glitten über meine Wange und wischten die Tränen weg. »Es ist mir egal, zu welchen Bedingungen. Sag ja«, bat er mit leiser Stimme und berührte mit dem Daumen meine bebenden Lippen. »Sag ja.«
»Ja.«
An sein Lächeln würde ich mich immer erinnern.
»Wie viel Zeit uns auch vergönnt sein wird«, sagte er, »sie soll uns genügen.«