FÜNFUNDDREISSIG
Die gesamte folgende Woche machten meine Emotionen mir zu schaffen. Susan, die meine Gereiztheit bemerkte, erklärte Mark, ich litte vermutlich unter einer Mischung aus Trauer und Erschöpfung.
Sie hatte recht.
Und ihre Ablenkungsversuche halfen: Ich wischte die neu erworbenen Tische für die Teestube sauber, legte die Decken darauf und stellte Vasen für eine einzelne Rose in die Mitte. Anschließend wusch ich alle Gläser und Tassen in der Spülmaschine und räumte sie danach in die Schränke.
Am Mittwochmorgen faltete ich mit Felicity die Speisekarten.
Sie war noch stiller und abwesender als ich. Das erschien mir so untypisch für sie, dass ich mein Selbstmitleid beiseiteschob und sie fragte: »Alles in Ordnung?«
»Was?« Sie hob den Blick. »Ja, ja, alles okay.« Sie konzentrierte sich wieder auf die Karten.
Doch ihre Hände zitterten leicht, und ihre Augenlider waren geschwollen. Sie hatte geweint.
Als die Tür hinter uns aufging, schaute Felicity voller Hoffnung hinüber und wurde enttäuscht. »Hallo, Paul«, begrüßte sie den Klempner.
»Na, wie kann ich helfen?«, erkundigte er sich mit fröhlicher Stimme. Obwohl er in seiner eng anliegenden Jeans und dem schwarzen T-Shirt ungemein attraktiv aussah, hatte Felicity kaum einen Blick für ihn übrig, als sie ihm die Probleme erklärte, die Susan mit der Spüle hatte.
Sie war mit den Gedanken bei einem anderen. Ich konnte mir schon vorstellen, bei wem.
Mark war auf dem Feld mit dem Pfropfen der Rosen beschäftigt, die er im Frühjahr gepflanzt hatte. Er arbeitete sich durch die Buschreihen hindurch und nahm jeweils einen T-förmigen Einschnitt oberhalb der Wurzel vor, in den er einen Ableger der Rosensorte steckte, zu der er diese veredeln wollte. Geschützt durch einen Gummiflicken, würde der Ableger während der Wintermonate ruhen, bis Mark die Pflanze im Februar mit seiner Gartenschere stutzte. Von dem neuen Stamm würde dann die Knospe treiben und zu einer so schönen Rose werden wie die im benachbarten Feld. Manches benötigte Zeit, um die richtige Basis zu finden. Zeit und Geduld. Anderes hingegen brauchte einen unvermittelten Tritt.
Mark begrüßte mich mit einem Nicken, ohne seine Arbeit zu unterbrechen.
»Was hast du mit Felicity angestellt?«, fragte ich ihn ohne Umschweife.
Er war mir in der vergangenen Woche aus dem Weg gegangen, weil er meine Stimmung nicht einzuschätzen wusste. »Was wirft sie mir denn vor?«
»Nichts.«
»Hm.«
»Du hast sie zum Weinen gebracht.«
»Ich habe ihr nur gesagt, dass ich keine Zeit habe, mit ihr am Samstag eine Kunstausstellung in Falmouth zu besuchen.«
»Was ist bloß los mit dir?«
»Wie bitte?« Mark hob überrascht den Kopf.
»Du hast mich ganz richtig verstanden. Da ist eine hübsche junge Frau völlig in dich vernarrt, und du bist so blind, dass du das nicht merkst.«
»Ich bin nicht blind«, widersprach er mit leiser Stimme.
»Wie bitte?«
»Ich bin nicht blind«, wiederholte er. »Mir ist aufgefallen, dass sie mich mag, und ich mag sie auch.«
»Warum kannst du dann …?«
»Geht dich das was an?«
»Nein. Aber irgendjemand muss die Sache ja klären.«
»Die Sache ist geklärt.«
»Das sehe ich. Du bist wütend, und sie weint.«
»Es würde nicht funktionieren.«
»Warum nicht?«
»Weil Felicity Künstlerin ist.«
»Und?«
»Sie braucht ihre Freiheit«, erklärte er. »Wie Claire.« Als er meinen verständnislosen Blick sah, fuhr er fort: »In meiner Kindheit ist Claire manchmal tage- oder wochenlang zum Malen verschwunden. Hin und wieder tut sie das heute noch.« Er strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ich habe es gehasst aufzuwachen und festzustellen, dass sie weg war. Manche Männer können so leben. Mein Vater konnte es. Ich kann es nicht.«
»Felicity ist nicht Claire«, wandte ich ein.
»Felicity ist ein Schmetterling und erst seit ein paar Jahren hier; wer weiß, wann sie wieder geht.«
»Ja, ja, deine berühmte Theorie von den Schmetterlingen. Sie hat nur einen kleinen Haken.«
»Und der wäre?«
»Sie ist Blödsinn.«
»Und du meinst, du kannst das beurteilen.«
»Ich weiß jedenfalls, dass das Leben zu kurz ist, um sich nach dummen Theorien zu richten. Wenn man das Glück hat, jemanden zu finden, der einen liebt, sollte man diese Liebe zulassen, egal, zu welchen Bedingungen.« Daniels Worte kamen mir in den Sinn. »Die Zeit, die einem mit einer geliebten Person vergönnt ist, sollte …« Mir traten Tränen in die Augen.
»Sollte was?«, hakte Mark nach.
»Sollte einem genügen«, presste ich hervor.
Dann wandte ich mich ab, weil ich keine Lust hatte, mich weiter mit ihm zu streiten. Ich war kaum zehn Schritte gegangen, als Mark rief: »Eva?«
Ich drehte mich um.
»Liebe ist nicht alles.«
»Doch, und das weißt du auch. Sie allein zählt. Ich kann es nicht mitansehen, wie du sie einfach wegwirfst.«
Seit meiner Rückkehr in meine eigene Zeit hatte ich es bewusst vermieden, weiter in Jacks Tagebuch zu lesen, obwohl es nach wie vor auf meinem Nachtkästchen lag. Doch nach meinem Gespräch mit Mark wurde meine Sehnsucht nach Daniel so stark, dass ich die Vorhänge zuzog, mich voll bekleidet aufs Bett legte und nach dem Band griff.
Ich konnte ja jederzeit aufhören, sagte ich mir, und musste nicht mehr lesen als das, was ich bereits erlebt hatte. Ich schlug das Tagebuch an der Stelle auf, die ich von der Sally kannte. Da war er, der letzte Absatz, und …
Ich hielt verblüfft inne.
Denn danach kam nichts mehr. Nichts von Jack Geschriebenes jedenfalls. Der Herausgeber der Memoiren hatte so etwas wie eine Entschuldigung angefügt:
Jack Butlers eigener Bericht endet hier. Es folgen die Ausführungen des Reverend Mr Simon über den Nutzen dieses Tagebuchs als moralische Lektion für junge Männer, die sich versucht fühlen, dem Pfad der Verderbnis zu folgen. Sie sollten gewärtig sein, dass Jack Butler, der sowohl dem irdischen König als auch dem Herrscher über alle Menschen den Rücken kehrte, ein frühes Ende fand. Ein Ende, das einem Hochverräter gebührt, denn es ereignete sich am ersten Jahrestag der Thronbesteigung des guten King George I., den er so sehr verachtete. Er starb auf der Flucht vor den Gesetzeshütern von Polgelly und ihrem Constable durch einen gezielten Pistolenschuss und musste in Ungnade vor seinen Schöpfer treten.
»Nein.«
Daniel hatte recht: Die Worte waren bereits geschrieben, gedruckt lange vor meiner Geburt, und kein noch so sehnlicher Wunsch konnte sie ändern.
»Pech«, lautete Olivers Kommentar zu Jack Butlers Tod. Mit schräg gelegtem Kopf versuchte er, sich an den geschichtlichen Kontext zu erinnern. »Wenn es am Jahrestag von King Georges Thronbesteigung war, bedeutet das, dass er gestorben ist im …«
»August. Genauer gesagt, am ersten August«, führte ich seinen Satz zu Ende. »Das habe ich recherchiert.«
»Aha.« Oliver beobachtete mich vom Schreibtisch in Onkel Georges Arbeitszimmer aus bei der Arbeit. Es war Samstag. Eigentlich hatte er beim Putzen der Gewächshausfenster vor der Eröffnung der Teestube in der folgenden Woche helfen wollen, dann aber irgendwie den Weg zu mir gefunden. Es störte mich nicht. Im Gegenteil: In meiner gegenwärtigen Gemütsverfassung war mir seine Gesellschaft sogar willkommen.
»Du nimmst dir diese Geschichte wirklich zu Herzen, nicht wahr?«, fragte er. »Vielleicht hätte ich dir das Buch nicht besorgen sollen.«
Natürlich konnte ich ihm nicht sagen, warum Jacks Tod mich so deprimierte. »Ich finde es nur einfach ungerecht, wie er umgekommen ist.«
»Lass dich durch ein Mittagessen mit mir ablenken«, schlug er vor.
»Geht nicht. Ich muss die Pressemitteilung fertig machen.« Ich suchte seufzend in den Papieren neben dem Computer herum. »Vorausgesetzt, ich finde meine Notizen wieder. Du weißt nicht zufällig, wie der große Preis hieß, den Trelowarth in den sechziger Jahren gewonnen hat, oder?«
»Tut mir leid, nein. Mark weiß es bestimmt, aber der kommt erst spätabends wieder.«
Ich hob den Blick. »Wo ist er denn?«
»In Falmouth bei der Kunstausstellung. Mit Fee.«
»Mark begleitet sie?« Ich sah Oliver ungläubig an. »Bist du sicher?«
»Weißt du, dass ich dich heute zum ersten Mal lächeln sehe?«
»Tatsächlich? Sorry. Ich bin ein bisschen durcheinander.«
»Susan könnte wissen, wie der Preis hieß. Ich frage sie. Ich muss sowieso rüber zum Gewächshaus. Sie zumindest wird sich darüber freuen, wie dein Jack Butler umgekommen ist. Das macht ihre Schmugglergeschichte für die Touristen dramatischer. Ist vielleicht gar nicht so schlecht, weil ich noch nichts finden konnte, was den Duke of Ormonde und die Jakobitenaufstände mit dieser Gegend verbindet. Letztlich war das Unternehmen sowieso keine große Rebellion und von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Der Duke of Ormonde hat sich noch vor Beginn des Aufstands nach Frankreich abgesetzt. Er wusste, dass das Parlament für seine Anklage gestimmt hatte, und wollte nicht auf seine Festnahme warten.«
Das konnte ich ihm nicht verdenken. »Ist er später nach Spanien gegangen?«
»Ja. Warum?«
»Ach, war bloß so ein Gedanke.« Ob er wohl Verwandte mitgenommen hatte, die ihm helfen sollten, Beistand für die Sache der Jakobiten aufzutreiben?
Oliver bemerkte, dass Menschen wie der Duke of Ormonde immer auf den Füßen landeten. »Und sie suchen sich gern ein hübsches, warmes Plätzchen fürs Exil aus. Spanische Frauen, spanischer Wein; sonderlich gelitten wird er nicht haben. Leiden mussten eher diejenigen, die in Cornwall zurückblieben.«
»Warum? Was wurde aus ihnen?«
»Man hat sie verhaftet. King George hat von ihren Plänen erfahren und sie zusammentreiben lassen, bevor sie sich gegen ihn erheben konnten. Sie mussten tatenlos zusehen, wie King James in Schottland landete und die Schlacht verlor. Manche wurden hingerichtet, andere in die Kolonien gebracht, und …« Er sah mich an. »Alles in Ordnung?«
»Ja, ja.« Ich riss mich zusammen. »Du hast gesagt, King George habe herausgefunden, was sie planten. Wie?«
»Der Duke of Ormonde hat seinen Privatsekretär als Boten hierhergeschickt, einen schottischen Oberst. An seinen Namen erinnere ich mich nicht. McIrgendwas.«
»Maclean.«
Ich hätte ihm erzählen können, dass der Mann das Pseudonym »Wilson« verwendet und wie er ausgesehen hatte. Dass er einen dunkelgrünen Mantel, eine gepuderte Perücke und hohe schwarze Stiefel getragen hatte. Dass Jack Butler ihn nicht hatte leiden können, dass er fast umgekommen wäre bei dem Versuch, in St. Non’s mehr über Wilsons Identität zu erfahren, und dass er am Ende Wilsons wahren Namen, nämlich Maclean, herausgefunden hatte. Der Privatsekretär des Duke of Ormonde.
Oliver nickte. »Stimmt. Oberst Maclean. Er hat sich in Cornwall mit den Leuten getroffen, die bereit waren, auf der Seite der Jakobiten zu kämpfen, und dann … Moment bitte.« Sein Handy klingelte. Er holte es aus der Tasche, um die Nummer des Anrufers zu überprüfen. Einen Augenblick lang glaubte ich, einen Mann in dunkelgrünem Mantel mit Daniel im Hof stehen zu sehen.
Oliver steckte das Handy wieder ein.
»Und dann?«, hakte ich nach.
»Dann hat er sie verraten«, antwortete Oliver. »Er kannte die Namen aller und hat sie an King George verraten.«
Nicht das Wissen selbst belastete mich, sondern meine Machtlosigkeit.
So ähnlich hatte ich mich schon einmal gefühlt, während Katrinas Kampf gegen die Krankheit. Auch dagegen war ich machtlos gewesen.
Ich konnte Daniel nicht warnen und Jack nicht retten. Ich war in meiner eigenen Zeit gefangen und konnte nicht durch schiere Willenskraft in die ihre zurückkehren, auch wenn ich mir das noch so sehr wünschte. Ich musste warten. Und mir Sorgen machen.
Zum Glück stand der Tag der Teestubeneröffnung unmittelbar bevor. Ich war pausenlos beschäftigt, und mir blieb kaum Zeit, über etwas anderes nachzudenken. Alles lief wie am Schnürchen: Die erste Busladung Touristen traf pünktlich ein, das Wetter hielt, Trelowarth zeigte sich von seiner besten Seite, und die Fotografin von House & Garden dokumentierte alles aufs Schönste für ihre Zeitschrift. Die Interviews mit Mark und Susan hätten nicht angenehmer verlaufen können, und die Gäste drängten fröhlich plappernd in den »Cloutie Tree«, um kornischen Cream Tea zu probieren.
Am Abend musste sogar Mark zugeben, dass Susan recht gehabt hatte.
»Sag das noch einmal«, forderte sie ihn mit einem spitzbübischen Lächeln heraus.
Mark ging über den Teppich des großen vorderen Raums, sank sichtlich müde in den großen Sessel beim Klavier und lehnte den Kopf zurück. »Du hast recht gehabt«, wiederholte er. »Und ich …«
»Ja?«
»Hatte weniger recht.«
Ich hob den Blick von meiner Zeitschrift. »Gib dich damit zufrieden«, riet ich Susan. »Es ist mehr, als ich bekommen habe.«
»In welcher Sache hattest du denn recht?«, erkundigte sich Mark.
»In der Sache Falmouth.«
»Ach so.« Er schloss die Augen. »Na schön, da habe ich mich getäuscht, das gebe ich zu.«
»Halluziniere ich, oder hat mein Bruder gerade einen Irrtum zugegeben?«, fragte Susan mich erstaunt und sah dann ihren Bruder an. »Hab ich was verpasst?«
»Geht dich nichts an«, antwortete Mark.
Ich wusste, dass er sich ein paar Mal mit Felicity getroffen hatte, und obwohl sie noch nicht das waren, was ich »ein Paar« genannt hätte, schienen sie sich anzunähern. Susan ahnte nichts von meiner Auseinandersetzung mit Mark. Die hatten wir für uns behalten und Frieden geschlossen wie damals in unserer Kindheit und Jugend: Am Tag nach seinem Falmouth-Ausflug hatte Mark das Federballnetz aufgebaut und mir einen Schläger in die Hand gedrückt. Obwohl ich aus der Übung war und nicht sonderlich gut spielte, hatte er mich zweimal gewinnen lassen. Das war seine Art, sich zu entschuldigen.
Wir wechselten einen Blick, als Susan seufzte und sagte: »Auch gut. Du kannst mir die gute Laune nicht verderben; ich bin zu glücklich.«
»Zu Recht. Das heute war ein perfekter Tag«, pflichtete ich ihr bei.
»Aber ich darf mich nicht auf meinen Lorbeeren ausruhen«, meinte sie. »Morgen kommt der Touristenbus aus Cardiff.« Sie wandte sich Mark zu. »Du weißt nicht zufällig, was aus Dads Vitrine geworden ist? Die wir beim Ausräumen des Gewächshauses gefunden haben. Ich dachte mir, ich könnte das Schild daran verwenden.«
»Tut mir leid«, sagte Mark. »Das male ich gerade an.«
»Wieso denn das?«
»Ich brauche es für Southport.«
Susan starrte ihn ungläubig an. »Wie bitte?«
»Für die Blumenschau in Southport. Du solltest öfter mal in meinen Blog schauen. Darin habe ich letzte Woche angekündigt, dass wir teilnehmen.«
»Aber du machst doch bei keinen Shows mehr mit.«
»Ich habe es mir anders überlegt.« Mark warf mir einen Blick zu. »Eva hat recht: Wir müssen uns profilieren.«
Susan musterte ihn einen Moment lang schweigend. »Ich scheine tatsächlich zu halluzinieren. Eva?«
»Ich hole uns was zu trinken, ja?« Ich legte die Zeitschrift weg und stand auf. »Ist noch Wein im Kühlschrank?«
Mark nickte. »Soll ich dir helfen?«
»Susan halluziniert, und du bist hundemüde. Ich mach das schon.«
Wo Claire steckte, wusste ich nicht. Es war still im Haus, und die Küchentür stand einen Spaltbreit offen. Als ich dagegendrückte, stieß sie gegen etwas und schwang zurück. Vermutlich lag einer der Hunde davor.
Da hörte ich ein Poltern und ein dumpfes Geräusch, und die Tür wurde von der anderen Seite aufgerissen. Nun sah ich, dass sie nicht von einem Hund, sondern von einem Mann blockiert wurde, der ausgestreckt auf dem Boden lag, das dunkle Haar feucht am Kopf klebend, der Kragen rot. Fergal.
Als ich den Blick hob, stellte ich erschrocken fest, dass eine Pistole auf meine Brust gerichtet war.
Den Mann, in dessen Hand sie sich befand, nahm ich nur halb wahr, weil ich bereits die kalten Augen seines Begleiters entdeckt hatte, der am Kamin stand.
»Mistress O’Cleary«, begrüßte mich der Constable, »kommen Sie doch herein.«