VIER
Mark hat sie wirklich geliebt, nicht?«, fragte Susan, die an der Spüle Wasser übers Frühstücksgeschirr laufen ließ. »Er ist in den Jahren danach nicht vor Kummer vergangen und hatte seitdem auch mehrere ernsthafte Beziehungen, aber deine Schwester war, glaube ich, etwas Besonderes für ihn.«
»Sie war seine erste Liebe; das hat er ihr damals jedenfalls gesagt. Und bei ihr war’s genauso. Die erste Liebe vergisst man nicht.«
»Wahrscheinlich nicht.« Susan runzelte die Stirn. »Ich kann mich beim besten Willen nicht an die beiden als Paar erinnern; ich war ja erst sieben und habe mehr Zeit mit dir verbracht. Katrina und Mark sind mir immer um so viel älter erschienen.« Sie ließ Wasser einlaufen und gab Spülmittel dazu. Als ich aufstand, um ihr zu helfen, bedeutete sie mir mit einer Geste, mich wieder zu setzen. »Bleib sitzen. Du bist Gast hier.«
»Trotzdem kann ich dir helfen.«
»Nein, danke.« Sie begann, das Besteck zu spülen. »Und wer war deine erste Liebe?«, fragte sie mich.
Ich lächelte. »Ein Mitschüler in Vancouver. Eishockeyspieler. Seinetwegen habe ich Wochenende um Wochenende in lausig kalten Eisstadien verbracht.« Leider klang das nicht so romantisch wie bei Mark und Katrina. »Und deine?«
»Ich warte noch darauf. Mark meint, ich bin zu anspruchsvoll. Ich wünsche mir das, was Dad und Claire hatten.«
»Da wirst du lange warten.« Nicht einmal meine Eltern hatten das, was Onkel George und Claire verbunden hatte. Die Halletts, echte Seelenverwandte, hatten zu den wenigen Paaren gehört, die in der Lage waren, sich ihre eigene kleine Welt zu schaffen.
Susan trocknete eine Tasse ab. »Ich weiß. Meiner Meinung nach lohnt sich das Warten aber. Und in der Zwischenzeit gönne ich mir das eine oder andere Abenteuer.«
Sie war die geborene Abenteurerin. Obwohl von uns vieren die jüngste und kleinste, hatte sie gern Grenzen ausgelotet und sich dabei oft aufgeschlagene Knie und Pflaster eingehandelt. Diese Abenteuerlust schien ihr nach wie vor eigen zu sein.
Daher fragte ich mich, weshalb sie hierher zurückgekommen war, in diese ruhige Ecke des Landes, nach Trelowarth.
»Mark sagt, du hättest eine Weile in der Nähe von Bristol gewohnt.«
Sie sah mich an. »Ach.« Offenbar handelte es sich um ein heikles Thema. »Ja, ich hatte dort ein Catering-Unternehmen.«
»Dann müsste deine Teestube doch ein Erfolg werden.«
»Das hoffe ich. Mark würde nie ein Wort darüber verlieren, aber ich weiß, dass es in den letzten Jahren nicht leicht gewesen ist, seit Dads Investitionen …« Sie wandte den Blick ab.
»Susan.«
»Ja?«
»Trelowarth steckt in finanziellen Schwierigkeiten? Wie schlimm ist es?«, hakte ich nach.
»Schlimm genug. Bitte sag Mark nicht, dass ich dir das verraten habe, sonst rammt er mich in den Boden neben die Rosen.«
Ein Anwesen dieser Größe zu unterhalten, kostete vermutlich ziemlich viel Geld. Abgesehen vom Haus gab es die Gärten und die Felder, auf denen die Rosen wuchsen. Und jetzt, ohne Onkel George, musste Mark zur Unterstützung jemanden einstellen. In den Wintermonaten war am meisten zu tun. Die bestellten Rosen mussten ausgegraben und verschickt werden. Die übrigen wurden eingetopft und an die Gartenzentren ausgeliefert, die Trelowarth-Rosen verkauften. Doch auch im Sommer beanspruchte das Tagesgeschäft viel Zeit. Sich um Trelowarth zu kümmern, war harte Arbeit.
»Deswegen bin ich zurückgekommen«, gestand Susan. »Um auszuhelfen, wenn Not am Mann ist.«
»Daher die Idee mit der Teestube.«
»Genau. Mein Dad hat immer von einer Teestube geträumt. Ich dachte, wenn wir die einrichten und die Gärten für Touristen öffnen, bringt das ein bisschen Geld und zusätzlich Werbung für unsere Produkte.« Sie schmunzelte. »Ich hab mich in letzter Zeit viel mit Marketing beschäftigt, merkt man das?«
»Prima Entscheidung.« Mein Blick fiel auf den Ordner auf dem Tisch. »Darf ich mir deine Pläne mal anschauen?«
»Klar. Aber …«
»… ich soll Mark nichts davon erzählen, ich weiß.« Ich griff nach dem Ordner. »Warum ist er gegen die Teestube?«
Susan stellte die letzte Tasse auf das Trockenbrett und ließ das Wasser aus der Spüle. »Richtig dagegen ist er eigentlich gar nicht. Er wehrt sich nur, weil das nicht in seine Vorstellung davon passt, wie Trelowarth aussehen sollte. Mark ist Purist wie mein Großvater. Veränderungen reizen ihn nicht.« Sie lachte. »Wenn du mich fragst: Ich glaube, er möchte einfach unsere Rosen nicht mit wildfremden Menschen teilen.«
Während ich meinen Kaffee austrank, blätterte ich ihre Notizen durch. »Die Teestube soll also da drüben hinkommen«, stellte ich fest und deutete aus dem Fenster, vorbei an der ebenen Rasenfläche, die einmal der Hof vor dem Stall gewesen war.
»Genau, in Dads altes Gewächshaus. Das wird nicht mehr genutzt, hat aber noch sämtliche Wasseranschlüsse, und das Glas ist auch in Ordnung. Es dürfte nicht schwierig sein, es umzubauen.« Sie trat zu mir, um mit mir die Pläne zu begutachten. »Claire sagt, ihre Großeltern hätten sich in einer Teestube kennengelernt. Das klingt sehr romantisch. Ich muss sie fragen, ob sie sich an den Namen erinnert. Wir könnten unsere genauso nennen, dem Projekt so eine Geschichte geben.«
Das hätte meiner Mutter gefallen. Bestimmt hätte sie sofort begonnen, die Einzelheiten von Trelowarths Vergangenheit zu recherchieren.
Als ich Susan von diesem Gedanken erzählte, meinte sie nur: »Sie hätte nichts Aufregendes finden können. Meine Familie ist todlangweilig und wohnt seit mindestens zweihundert Jahren hier. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich irgendwann mal über einen berüchtigten Schmuggler oder Piraten stolpere, der die Touristen herlockt.«
»Eine berühmte Persönlichkeit wäre auch nicht schlecht. Immerhin hat ein Filmstar als Kind die Sommerferien in Trelowarth verbracht«, erinnerte ich sie.
»Nein«, sagte sie sofort. »Katrinas Namen zu Werbezwecken auszunutzen, wäre nicht richtig. Mark würde das nie zulassen. Du kennst doch meinen Bruder.«
Ja, allerdings. Die Jahre veränderten vielleicht unser Äußeres, aber im Innern blieben wir dieselben; wir behielten unsere Gewohnheiten bei. Als ich mit der Asche meiner Schwester in den Garten ging, wusste ich, wo ich nach ihm suchen musste, denn er begann morgens immer auf der obersten Terrasse und arbeitete sich von dort aus nach unten vor.
Ich fand ihn im Ruhigen Garten, wo er mit alter Jeansjacke, dreckverschmierten Stiefeln und windzerzaustem Haar Unkraut jätete. Er hielt inne, als ich durch die alte Holztür in der hohen Steinmauer trat, die die empfindlichen Pflanzen vor der salzigen Gischt des Meeres schützte. Als Mark sah, was ich dabei hatte, fragte er: »Bereit?«
»Wenn du es bist.«
Er zog seine Arbeitshandschuhe aus, stellte sein Werkzeug in den kleinen Schuppen in der Ecke und schlang einen kleinen abgegriffenen Rucksack über die Schulter, bevor er mich aus dem Garten hinausführte.
Der Weg zum Leuchtfeuer gehörte zu den hübschesten von Trelowarth. Wir folgten dem Küstenpfad durch den Wilden Wald, als wollten wir zu Claire, gingen jedoch an ihrem Cottage vorbei, überquerten die Lichtung und tauchten wieder in den Wald ein. Schließlich kamen wir in der Nähe der Klippen heraus, so nahe am Meer, dass wir die sich an den schwarzen Felsen und auf dem Kiesstrand brechenden Wellen hören konnten. Hier verließen wir den Pfad, kehrten der See den Rücken und näherten uns einer großen abschüssigen Weide, wo Kühe träge vor sich hin kauten, ohne uns zu beachten, als wir über den Zaunübertritt kletterten.
Mark half mir hinüber und ging mir dann wieder voran, mit gesenktem Kopf, in Gedanken versunken. Ich wusste, warum.
In jenem letzten Sommer war er oft mit Katrina zu diesem besonderen Ort heraufgekommen, um den Erwachsenen und uns Kindern zu entfliehen. Ich war damals zu jung gewesen, um die Vertraute meiner Schwester zu sein, und merkte nur, dass sie von den Ausflügen mit Mark strahlend und leichtfüßig zurückkehrte.
Das war es, woran Mark jetzt dachte.
Ich hing meinen eigenen Erinnerungen nach. Meine geschichtsbegeisterte Mutter hatte die romantische Szenerie des Leuchtfeuerhügels geliebt, jenes Überbleibsels einer Epoche, in der es entlang der britischen Küste überall Signalfeuer gegeben hatte, die entzündet wurden, wenn Gefahr drohte. Sie dienten einem doppelten Zweck: Einerseits sollten sie gegen anrückende Feinde mobilisieren, andererseits London informieren. In der elisabethanischen Zeit war dieses Leuchtfeuer das erste gewesen, das das Herannahen der Armada gemeldet hatte.
Damals hatte diese Stelle mit Sicherheit einen imposanten Anblick geboten – ein mehr als mannshoher Steintisch, ganz ähnlich den neolithischen cromlechs, die noch jetzt auf den Hügeln dieser Gegend existierten, mit einem stets bereitliegenden Stapel Brennholz darauf. Die Schilderungen meiner Mutter hatten ein so lebhaftes und anschauliches Bild vor meinem geistigen Auge erstehen lassen, dass ich jedes Mal, wenn wir hier picknickten, unwillkürlich den Horizont nach einem spanischen Segel oder einem Leuchtfeuer in der Ferne abgesucht hatte.
Dieser Impuls überkam mich wieder, als wir die ebene Fläche mit den alten, verwitterten, in einem groben Kreis angeordneten Felsbrocken erreichten. Abgesehen von dem flachen, an einer Seite angeschlagenen Stein in der Mitte ließ das Arrangement allerdings kaum noch vermuten, welchem Zweck es früher gedient hatte.
Von hier aus bot sich ein weiter Blick auf die gesamte Küstenlinie, an der die Wellen sich weiß an den schwarzen Klippen und den dunklen Kiesstränden brachen.
Ich schob das Kästchen mit Katrinas Asche auf den Steintisch und sah Mark an, der wiederum mich anschaute, in seinen Rucksack griff und drei kleine Pappbecher sowie eine dunkelgrüne Flasche herausholte. »Wir sollten es mit Stil machen«, erklärte er.
»Und wie geht das?«
»Mit Scrumpy. Katrina und ich haben immer eine Flasche mit heraufgebracht.«
»Scrumpy?«
»Starker Apfelwein.« Er füllte einen Becher und stellte ihn auf das Holzkästchen, bevor er das Getränk in die anderen beiden Becher goss, einen mir reichte und den dritten hob, als wollte er einen Toast ausbringen. »Auf …«, begann er und hielt inne. »Ach, egal«, sagte er und leerte den Becher.
Ich tat es ihm gleich. Mark schüttete den Inhalt des dritten Bechers über das Kästchen, trat beiseite und nickte mir zu. »Jetzt bist du dran.«
Mit zitternden Fingern öffnete ich den Verschluss der Box. »Ich wollte etwas vorlesen.«
Mark sah mich fragend an.
»Aus Der Prophet«, erklärte ich. »Von Khalil Gibran. Da gibt es eine Passage über den Tod, die Katrina mochte. Sie hat sie bei der Trauerfeier für unsere Eltern vorgetragen.«
Ich holte einen Zettel aus meiner Tasche und entfaltete ihn, gegen den Wind ankämpfend.
»›Denn was bedeutet sterben‹«, las ich, »›schon anderes, als nackt im Wind zu stehen und in die Sonne zu schmelzen? Und was bedeutet es, nicht mehr zu atmen, wenn …‹« Mir brach die Stimme. Mark nahm mir sanft den Zettel aus der Hand und las mit seiner ruhigen Stimme weiter. Ich richtete den Blick aufs glitzernde Meer, als Mark die letzten Zeilen zitierte: »›Und wenn ihr den Gipfel des Berges erreicht habt, wird euer Aufstieg beginnen. Und wenn euer Körper der Erde anheimfällt, dann werdet ihr wahrhaftig tanzen.‹«
Dies schien der richtige Augenblick zu sein, die Asche zu verstreuen.
Mark sagte mit leiser Stimme: »Dann geh jetzt und tanze.«
Der Wind erfasste die Asche und brachte sie tatsächlich zum Tanzen. Einen kurzen Moment lang waren wir zu dritt auf dem von der Sonne erhellten Hügel, bis eine nach oben gerichtete Luftströmung die Asche in westliche Richtung, hinaus auf die endlose Weite des blau glitzernden Meeres, wirbelte.