ACHTUNDZWANZIG
Von jenseits der Wand hinter meinem Bett hörte ich leise Stimmen.
»Ich denke, du wirst meine Hilfe brauchen.«
»Ich habe genug Männer auf der Sally.« Es war Daniel. »Ich kann dich nicht mitnehmen.«
»Dann nimm Jack mit.«
»Soll ich mich die ganze Zeit mit ihm darüber streiten, wer das Schiff führt? Nein, danke. Ich kann auch nicht Jack allein schicken, weil in der Botschaft klar und deutlich nach mir verlangt wird.«
Kurzes Schweigen.
»Diese Frau bringt uns ganz schön in Schwierigkeiten«, meinte Fergal.
»Daran bist du selbst schuld, du hast sie zu einer O’Cleary gemacht.«
Sie sprachen also über mich. Ich zwang mich, die schweren Augenlider zu öffnen.
Es war Morgen und hell, und ich lag auf dem großen Himmelbett. Die Tür zum Flur war geschlossen, die Verbindungstür zu Daniels Zimmer offen. Fergal stand darin mit dem Rücken zu mir.
Blinzelnd versuchte ich, mich zu erinnern. Ich war mit Jacks Tagebuch in der Hand in meinem eigenen Bett eingeschlafen.
»Ich habe ihr meinen Schutz zugesichert«, sagte Daniel. »Du musst hierbleiben und dich um sie kümmern, falls sie zurückkehrt.«
Gerade, als ich mich zu Wort melden wollte, fragte Jack: »Von woher zurückkehrt?«
Ich hatte weder seine Schritte auf dem Flur gehört noch, wie er die Tür zu Daniels Zimmer öffnete. Fergals Reaktion bewies, dass auch er und Daniel von Jacks Auftauchen überrascht waren.
»Ich wollte gerade sagen«, antwortete Daniel ganz ruhig, »wenn sie wieder zu uns Gesunden zurückkehrt.«
Fergal veränderte seine Position so, dass er den Eingang zu meinem Zimmer versperrte.
Jack sagte nun etwas, das ich nicht verstand. Offenbar war es derb, denn sein Bruder ermahnte ihn: »Achte auf deine Ausdrucksweise. Es ist eine Frau im Haus.«
»Ach, tatsächlich?« Als die Bodendielen unter Jacks Schritten knarrten, schaute ich mich hektisch nach einer Decke um, unter der ich meinen Pyjama verstecken konnte.
»In den letzten Tagen hast du mich zweimal weggeschickt, um unwichtige Dinge zu erledigen, und während der ganzen Zeit habe ich deine Schwester weder gesehen noch gehört, Fergal. Trotzdem wollt ihr mir weismachen, dass sie hier ist«, sagte Jack.
»Was hätten wir davon, dich zu belügen?«, fragte Daniel.
Jack kam näher. »Das weiß ich nicht, aber genau das macht mich misstrauisch. Wie übrigens auch die Erinnerung an ihre Stimme.«
Da die einzige verfügbare Decke außer Reichweite über der Kleiderpresse lag, zog ich die Laken bis zum Kinn hoch. Fergal nahm das leise Geräusch wahr. Er wandte sich mir zu, als Jack sich erkundigte: »Wie geht es ihr denn heute Morgen?«
Wieder einmal bewunderte ich Fergals Geistesgegenwart. Ohne eine Miene zu verziehen, antwortete er: »Sie schläft.«
Ich schloss artig die Augen.
»Sie schläft sehr ruhig«, stellte Jack fest.
»Dann vergewissere dich selbst, wenn du uns nicht glaubst.« Fergal trat beiseite, und das Knarren der Bodendielen näherte sich meinem Bett. Ich konzentrierte mich darauf, gleichmäßig zu atmen.
Nach einer gefühlten Ewigkeit flüsterte Jack zerknirscht: »Tut mir leid, ich …«
»Wenn du mich noch einmal einen Lügner nennst, wirst du es bereuen«, drohte Fergal. » Und jetzt raus mit euch beiden. Sie braucht Ruhe.«
Ich spürte, wie Fingerspitzen leicht über meine Wange glitten, vielleicht eine Haarsträhne wegstrichen. Ich wusste, wem diese Finger gehörten, bevor Fergal sagte: »Danny, Jack: Raus!«
»Ich finde, heute sieht sie schon gesünder aus«, meinte Daniel ziemlich nahe bei mir.
»Aye«, pflichtete Fergal ihm bei. »Es würde mich nicht wundern, wenn sie bis zum Nachmittag wieder auf den Beinen ist. Aber jetzt braucht sie Ruhe.«
Ich spürte, wie Daniel die Hand von meiner Wange nahm, und hörte die Brüder leise diskutierend durch das Nachbarzimmer auf den Flur hinaus und die Treppe hinuntergehen. Fergal schloss die Verbindungstür laut und vernehmlich.
Ich öffnete die Augen. Lachend wandte er sich mir zu. »Allmählich glaube ich doch, dass Sie eine Hexe sind, denn Sie beweisen teuflisches Geschick bei der Wahl des Zeitpunkts, an dem Sie auftauchen.«
Plötzlich war ich glücklich wie seit Jahren nicht mehr, wie damals, wenn ich in den Sommerferien in Trelowarth neben Katrina aufwachte. Ich hatte das Gefühl, zu Hause zu sein.
»Sie können von Glück sagen, dass ich Ihr Frühstück noch nicht verspeist habe«, bemerkte Fergal. »Es ist dort auf dem Tablett.«
Er hatte mir eine dicke Scheibe Brot mit Käse und einen Becher kühles Ale gebracht. Fergal holte das Tablett von dem Tisch in der Ecke, stellte es aufs Bett und beobachtete mit verschränkten Armen, wie ich mich aufrichtete und zu essen begann.
»Das haben Sie geschickt eingefädelt«, lobte er mich. »Wie haben Sie das gemacht?«
Daniel und Jack waren mittlerweile im unteren Stockwerk. Da ich hin und wieder ihre Schritte oder das Knarren einer Tür hörte, wusste ich, dass ich gefahrlos sprechen konnte, solange ich die Stimme senkte. »Wie bitte?«
»Dass Sie so im Bett aufgetaucht sind.«
»Keine Ahnung. Ich bin einfach nur aufgewacht, das ist alles.«
»Dann ist das auch in Ihrer Zeit Ihr Zimmer?«
Als ich nickte, begriff er, warum Daniel mir diesen Raum überlassen hatte.
»Wie lange war ich diesmal weg?«, fragte ich.
»Acht verdammte Tage.«
»Und Daniel muss fort?«
»Ja. Das kann er Ihnen selbst erzählen, sobald Sie aufgestanden und angezogen sind.«
»Tut mir leid«, sagte ich mit einem Blick auf mein Pyjama-Oberteil.
»Wenn das so weitergeht, verfügen Sie bald über die Garderobe einer Königin«, stellte er trocken fest, bevor er aus Daniels Zimmer das prächtigste Gewand holte, das ich bis dahin in dem Haus gesehen hatte.
Meine Finger wanderten über den grünen, im Licht changierenden Stoff. »Fergal, das kann ich nicht annehmen.«
»Warum nicht?«
»Ich habe schon zwei Kleider von Ann verloren. Noch eines, und ich …«
»Das hat nicht Ann gehört«, fiel Fergal mir ins Wort.
Ich sah ihn fragend an.
»Danny hat es aus Plymouth mitgebracht, wo er letzte Woche geschäftlich war. Dazu gibt es passende Schuhe.«
»Für mich?«
»Für mich ja wohl nicht. Zwar ist das meine Lieblingsfarbe, aber der Schnitt würde mir bestimmt nicht stehen.« Aus einer Tasche nahm er eine Handvoll Haarnadeln. »Die werden Sie ebenfalls benötigen.«
»Danke.«
Als von unten das Geräusch lauter Stimmen heraufdrang, hob er warnend den Finger an die Lippen und entspannte sich erst, als die Haustür mit einem Knall ins Schloss fiel und sich Schritte knirschend über den Kiespfad entfernten. Fergal trat ans Fenster, um nachzusehen, was los war.
»Jack trollt sich, seine Wunden lecken«, erklärte er mit zufriedener Miene. »Wenn Sie wollen, können Sie nach unten gehen, denn Danny hat Ihnen bestimmt einiges zu sagen.«
Er nahm das leere Tablett und verließ das Zimmer, damit ich mich anziehen konnte.
Dieses Kleid unterschied sich von Anns Kleidern. Auch in früheren Zeiten hatte sich die Mode verändert. Die Ärmel lagen nach wie vor bis zum Ellbogen eng am Arm an und waren an den Handgelenken zurückgeschlagen, sodass die Rüschen darunter hervorlugten, doch das Oberteil hatte eine andere Form und einen anderen Schnitt und wurde an der Seite, nicht vorn, geschlossen, was es mir erschwerte, allein zurechtzukommen.
Ich wollte schon aufgeben, als Daniel hinter mir fragte: »Brauchen Sie Hilfe?«
Ich hatte ihn weder die Treppe heraufkommen noch die Tür zwischen unseren Zimmern öffnen hören. Vermutlich zeichnete die Fähigkeit, sich leise zu bewegen, einen Schmuggler aus.
Er trug andere Kleidung als bei unserer letzten Begegnung. Die eng geschnittene, in die Stiefel gesteckte Hose war nicht braun, sondern marineblau, und das weite weiße Hemd mit dem offenen Kragen neu und aus feinem Leinen. Nur sein Lächeln hatte sich nicht verändert.
Ich wandte nervös den Blick ab. »Es ist schwierig.«
Daniel, der das als »Ja« interpretierte, trat zu mir, schob sanft meine Hand weg und schloss das Kleid fachmännisch.
»Es steht Ihnen gut«, stellte er fest. »Ich war mir nicht sicher, ob es passen würde.«
Ich bedankte mich. »Das war sehr aufmerksam.«
»Es hat mich eine ganze Kiste Brandy gekostet und einen Tanz mit der Tochter der Näherin.«
Sein Scherz löste meine Anspannung. »Hoffentlich war sie hübsch.«
»Sie hat getanzt wie ein Ochse, aber ein Kleid, das man für den Preis eines Tanzes erwirbt, muss Glück bringen. So, das wär’s«, sagte er und drehte mich herum, um mich zu begutachten.
Ich betrachtete verlegen die Bänder, die sein Hemd zusammenhielten. »Sie hätten sich nicht so viel Mühe machen sollen. Wenn ich in meine eigene Zeit zurückkehre, ist es so gut wie verloren. Wie die Kleider Ihrer Frau. Ich weiß keine Möglichkeit, sie zurückzubringen.«
Er zuckte mit den Schultern. »Deshalb habe ich Ihnen ja dieses gekauft.«
»Damit ich keine weiteren von ihr verliere?«
»Damit Sie keine geborgten Sachen mehr tragen müssen.« Seine Hand ruhte auf meiner Taille. »Ich hielt es für angebracht, dass Sie etwas besitzen, das nur Ihnen gehört.«
Als ich ihm in die Augen schaute, wusste ich, dass er nicht mehr nur von dem Kleid sprach. Der Constable hatte einmal behauptet, Daniel gebe mir die Gewänder von Ann, um ihren Geist zu neuem Leben zu erwecken. Obwohl mir klar war, dass Creeds Worte dazu dienen sollten, unser Verhältnis zu vergiften, fragte ich mich seitdem, wen Daniel in mir sah.
Jetzt erblickte ich in seinen Augen nur mein eigenes Spiegelbild, und meine Zweifel schwanden.
Er hob die Hand, schob sie unter mein Haar in meinen Nacken und senkte den Kopf.
Seine warmen Lippen streiften meine Wange. Dann bewegte sich einer von uns – vielleicht ich – ein wenig, und unsere Münder trafen sich. Er blieb ganz Gentleman und übereilte nichts, weil er nicht wusste, wie erfahren ich war.
Bis ich seinen Kuss erwiderte.
Da änderten sich die Spielregeln.
Er umfasste mich mit beiden Armen und zog mich an sich. Gott allein wusste, wie viel Zeit verging, bis wir auf Fergals Hüsteln und schließlich Fluchen reagierten.
Daniel drehte den Kopf nur so weit zur Seite, dass er, immer noch meine Stirn berührend, zur Tür sehen konnte.
»Ja?«
Fergal verschränkte die Arme. »Wollt ihr nun runterkommen oder lieber warten, bis Jack wieder da ist und wir uns zusammensetzen und alles besprechen können?«
Erstaunt fragte ich: »Was besprechen?«
»Daniel muss noch heute Nacht mit der Sally lossegeln, auf Geheiß des Duke of Ormonde.«
»Auf seine Bitte, nicht auf sein Geheiß. Man hat mich gebeten, einem Verwandten einen Gefallen zu tun.«
»Ohne richtige Mannschaft …«
»Ich habe genug Männer.«
»Nicht einer davon ist fähig, dir mit dem Schwert Rückendeckung zu geben, falls etwas schiefgeht.«
»Du wirst hier dringender gebraucht«, sagte Daniel.
Darüber hatten sich die beiden gestritten, als ich in ihre Zeit zurückgekehrt war.
Ich atmete tief durch. »Fergal soll also in Trelowarth bleiben und auf mich aufpassen«, stellte ich fest.
Daniel lächelte, ohne die Hände von meiner Taille zu lösen. »Ich werde nur kurz weg sein. Und es ist keine gefährliche Reise.«
»Dann nimm mich mit.«
»Wie bitte?«
»Nimm mich mit«, wiederholte ich. »Dann kann Fergal auch mitkommen. Sag deinen Leuten, ich bin dabei, um zu kochen und andere Arbeiten zu verrichten. Ich halte mich im Hintergrund. In Gesellschaft von Fergal und dir passiert mir schon nichts …«
»Nein, unmöglich«, fiel er mir ins Wort. »Bei jeder anderen Fahrt würde ich deinen Vorschlag in Erwägung ziehen, aber nicht bei dieser.«
»Warum nicht? Du hast selbst gerade gesagt, es sei nicht gefährlich.«
Daniel sah Fergal an.
Daniel hatte sich in eine Sackgasse manövriert. Falls er zugab, dass die Reise Risiken barg, würde Fergal erst Ruhe geben, wenn er ihn begleiten durfte. Und falls Daniel bei seiner Version blieb, dass keine Gefahr bestehe, hatte er keinen Grund, mich und Fergal zurückzulassen.
»Ich finde es keine schlechte Idee, sie mitzunehmen«, sagte Fergal. »Du kannst der Mannschaft ja sagen, ich sei dabei, um ihre Tugend zu schützen.«
»Die Mannschaft braucht keine Erklärung für deine Anwesenheit. Ich muss keine Ammenmärchen erzählen.«
»Wer behauptet denn, dass das ein Märchen ist?«, fragte Fergal mit einem strengen Blick auf Daniels Hände, die nach wie vor auf meiner Taille ruhten, bevor er sich kopfschüttelnd zum Gehen wandte.