SIEBENUNDZWANZIG
Mir stockte der Atem, bis mir klar wurde, dass ich mich sicher in der Gegenwart bei meinen Freunden befand und der Constable sich nicht in meine Zeit verirrt hatte. Den Mann draußen vor dem Fenster kannte ich nicht; er war größer als Creed und hatte breitere Schultern.
Oliver hatte ihn auch gesehen. Als es an der hinteren Tür klopfte, rutschte er mit dem Stuhl zurück und stand auf. »Ich geh schon.«
Dem Gespräch nach zu urteilen, das sich zwischen ihm und dem Besucher auf dem Flur entspann, kannten sie sich. Als Oliver in die Küche zurückkam, sah er Susan an und trat einen Schritt beiseite. Der Mann hinter ihm war kräftig und attraktiv, sein Alter schwer zu schätzen, doch sein gut geschnittenes rotbraunes Haar schimmerte an den Schläfen bereits grau.
Er zögerte einen Augenblick lang. Claire löste die Spannung mit einem Willkommenslächeln. »Nigel. Schön, dich zu sehen.«
»Claire. Mark«, begrüßte er die beiden. Mir nickte er kurz zu. »Susan.«
Susan antwortete nicht. So wie sie ihn anschaute und wie Mark, Claire und Oliver sie beobachteten, ahnte ich, wer er war: der Mann aus Bristol, Susans Exfreund.
Nigel wandte den Blick nicht von Susan, bis diese ihre Stimme wiederfand.
»Hallo, Nigel. Was führt dich nach Cornwall?«
»Ich habe einen Grund zu feiern«, erklärte er mit etwas unsicherem, entwaffnendem Lächeln.
»Du bist befördert worden«, riet sie.
»Ja.«
»Toll. Das hast du verdient.«
»Es bedeutet, dass ich nach London umziehe. Ich fahre am Wochenende hin und fange an, nach einer Wohnung zu suchen. Und ich wollte dich fragen, ob du mich begleitest.«
Ich merkte, wie viel Kraft es Susan kostete, sich gegen seinen Charme zu wehren. »Das haben wir doch alles schon besprochen. Außerdem brauchst du mich nicht, um eine Wohnung auszusuchen.«
»Meinst du?«
»Nigel …«
»Gut, dann mache ich es kurz«, sagte Nigel. »Ich liebe dich. Und ich fühle mich elend ohne dich.«
»Nigel …«
»Bitte, lass mich ausreden. Ich weiß, dass du glaubst, wir hätten keine gemeinsame Zukunft, aber meiner Ansicht nach täuschst du dich. Und das würde ich dir gern beweisen.«
Ohne auf uns andere zu achten, nahm er eine kleine, samtbezogene Schmuckschatulle aus der Tasche.
»Nigel.« Susans Stimme klang matt.
»Susan Hallett.« Wie der Prinz im Märchen kniete er nieder, klappte das Kästchen mit dem Ring auf und fragte sie: »Willst du mich heiraten?«
»Es ist ihre Entscheidung.« Mark packte die dornigen Zweige eines Rosenbuschs mit seiner behandschuhten Hand und schnitt einen Trieb ab.
Seit Nigels Auftauchen und dem Heiratsantrag waren zwei Stunden vergangen. Susan und er waren mit dem Auto unterwegs, um über seinen Vorschlag zu sprechen. Wie Mark verbrachte ich die Nachmittagsstunden mit Arbeit, obwohl ich wusste, dass meine Bemühungen, die hübschen alten Rosen zu fotografieren, sich als überflüssig erweisen würden, wenn Susan Nigels Antrag annahm und nach London zog.
»Dann sind die Pläne mit der Teestube dahin«, sagte ich. »Sie hat doch so viel Arbeit hineingesteckt.«
Mark warf schulterzuckend den Trieb zu den anderen, die bereits auf dem Boden lagen. »Es wäre nicht das erste abgebrochene Projekt in Trelowarth. Dad hat die Dinge auch nie zu Ende gebracht. Deswegen ist das Gewächshaus ungenutzt geblieben«, erinnerte er mich.
Onkel Georges erfolglosen Ausflug in die Kunst des Rosenzüchtens hatte ich völlig vergessen. »Zumindest hat er’s versucht«, verteidigte ich ihn. »Und jetzt habt ihr ein Gewächshaus.«
»Stimmt. Und die da«, fügte er hinzu und nickte in Richtung eines Buschs mit orangefarbenen Rosen, »ist die einzige Hybride meines Vaters.«
»Ach.« Ich machte ein Foto. »Wie heißt sie? Und nenn mir jetzt bloß keinen lateinischen Namen, Mark«, warnte ich ihn. »Sonst könnte es sein, dass du dir eine Ohrfeige einfängst.«
»Sie hat weder einen lateinischen noch einen anderen Namen.«
»Warum nicht?«
»Dad hat ihr nie einen gegeben. Das Projekt war bei seinem Tod noch in der Versuchsphase.« Er schwieg nachdenklich. »Wenn du möchtest, können wir sie taufen. Dazu sind lediglich ein paar Formulare nötig.«
»Wie würdest du sie nennen?«
»Sag du was.«
Ich berührte vorsichtig eines der Blätter. »Man kann Rosen doch nach Menschen benennen, oder?«
»Eva.«
»Oder?«
»Ja.«
Ich fotografierte die zerbrechlich wirkende Rose, die in allen Farben der untergehenden Sonne leuchtete, noch einmal. »Dann soll sie Katrina heißen.«
Er schwieg.
»Es ist nicht das Gleiche, wie ihren Namen für Werbezwecke zu nutzen. Sie hat diesen Ort mit seinen Gärten geliebt, und es wäre eine Möglichkeit, ihr Gedächtnis zu ehren.«
»Na schön«, meinte er nach kurzem Überlegen. »Nennen wir sie also nach Katrina Ward.«
Obwohl die Gartenmauer den Wind abhielt, strich eine leichte Brise über meine Wange, als wollte Katrina mir ihre Zustimmung signalisieren.
Ein wenig von ihrem Mut hätte ich nach meiner Begegnung mit Constable Creed im Hof gut gebrauchen können. Das nächste Mal würde ich vielleicht nicht so viel Glück haben. Selbst wenn ich nicht vor seinen Augen verschwand, machte er möglicherweise seine Drohung wahr und nutzte mich als Druckmittel gegen Daniel. Wenn ich mich nicht mehr in Trelowarth blicken ließ, beseitigte ich dieses Risiko.
Musste aber mit dem Abschiedsschmerz fertigwerden.
Susan stand vor einer ähnlich schweren Entscheidung. Genau wie vor langer Zeit Claire.
Wo ich sie finden würde, war klar, denn ich hörte den sanften Klang des Klaviers aus dem großen vorderen Zimmer schon lange, bevor ich das Haus betrat. Ich schlich mich hinein, um Claire nicht beim Spielen zu stören. Das ruhige, ein wenig wehmütige Stück von Chopin entsprach meiner eigenen momentanen Stimmung. Ich ließ die Finger über die abgegriffenen Rücken der alten Bände im Bücherregal gleiten, die meine Mutter einmal Onkel George geschenkt hatte.
Ein Titel interessierte mich besonders. Ich zog ihn heraus, als Claire gerade das Prélude beendete.
»Nicht aufhören«, sagte ich. »Das war wunderschön.«
»Ich wusste nicht, ob ich das Stück noch kann«, gestand sie lächelnd. »Ich habe es Jahre nicht gespielt, seit ich so alt war wie du.«
»Und wann war das?«, neckte ich sie. »Gestern?«
Sie freute sich über mein Kompliment. »Manchmal erscheint es mir so.« Sie blickte zum Fenster hinüber. »Ist Susan noch nicht zurück?«
»Nein.«
»Tja, eine solche Entscheidung darf man nicht überstürzen.«
»Tante Claire?«
»Ja, Liebes?«
»Als du Onkel George kennengelernt hast … ich meine, für dich muss es eine ganz schöne Umstellung gewesen sein, hierher zu ziehen, nicht nur geografisch gesehen. Du hast dein Leben völlig verändert, die Erziehung von Mark und Susan übernommen und alles andere. Wie hast du … Wie kann man bei einer so wichtigen Entscheidung …?«
»Wie man wissen kann, dass sie richtig ist? Fragst du wegen Susan oder wegen dir selbst?«
Bevor ich etwas sagen konnte, ging eine Tür, und ich hörte Schritte am anderen Ende des Flurs. Wenig später betrat Oliver den Raum.
»Haben wir dich heute nicht schon mal rausgeworfen?«, begrüßte Claire ihn.
Die Jeans und das T-Shirt, die er nun trug, waren nicht weniger sexy als die Radlerhose. »Ich habe gerade eine Lieferung erhalten, die Eva interessieren könnte«, erklärte er und hielt ein Päckchen hoch. »Mark hat gesagt, ich soll ruhig reinkommen.« Er sah sich in dem Raum um. »Ist Susan noch nicht wieder da?«
»Nein«, antwortete Claire wie ich zuvor.
Oliver hob eine Augenbraue. »Ihr glaubt doch nicht, dass sie ihn tatsächlich heiratet, oder? Er ist ja ganz nett, dieser Nigel, aber nicht der Richtige für sie. Das hätte ich ihr gleich sagen können.« Er gesellte sich zu mir und warf einen Blick auf das Buch in meiner Hand. »Was ist das?«
Ich zeigte es ihm.
»Handbuch der Hausfrau für Haus und Garten …?«, las er den Titel laut vor.
»In der Überarbeitung von …« Ich schlug den Band auf. »1692.«
»Das erklärt, warum das Ding schon fast auseinanderfällt.«
»Nur der Umschlag ist kaputt. Die Seiten sind völlig in Ordnung.«
Er warf einen Blick hinein. »›Wie man Porridge zubereitet‹?«
»Ja.«
»Aha. Es stört dich nicht, dass der nächste Eintrag lautet: ›Heilmittel gegen Erbrechen‹?«
»Es handelt sich um einen Ratgeber mit Hausmitteln, Rezepten und Tipps, wie man Wäsche wäscht und Dinge sauber bekommt.« Alles Nützliche für eine junge Frau, die Ende des siebzehnten Jahrhunderts einen Haushalt führen musste – oder für jemanden, der eine Zeitreise in die Vergangenheit machte.
»Probier’s doch lieber damit«, riet Oliver mir und gab mir das Päckchen.
Als ich es auswickelte, kam ein in glattes Leder gebundener Band mit dem gold geprägten Titel Ein Leben hart am Wind zum Vorschein: Jack Butlers Tagebuch. »Oliver! Wo hast du das aufgetrieben?«
»Ich habe meine Quellen.«
Es handelte sich um eine teure Erstausgabe. »Das würdest du mir wirklich leihen?«
»Nein«, antwortete er und schmunzelte über meine enttäuschte Reaktion. »Ich schenke es dir.«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich kaufe es dir ab.«
»Tut mir leid, geschenkt ist geschenkt.«
Da hörte ich das Geräusch von Autoreifen auf dem Kies der Auffahrt. Wir verstummten.
Die Wagentür wurde zugeschlagen, dann entfernte sich das Geräusch der Reifen wieder.
Kurz darauf gesellte Susan sich zu uns, allein.
»Ich habe Nein gesagt«, teilte sie uns mit. »Unsere Leben sind zu unterschiedlich; es würde nicht klappen.« Sie sah sich müde um. »Mark ist im Garten, oder? Ich erzähle ihm alles. Dann braucht er sich keine Gedanken mehr zu machen.«
Oliver, der zuverlässige Freund, trat einen Schritt auf sie zu. »Ich weiß, wo er steckt. Komm, ich bringe dich zu ihm.«
Als sie weg waren, sagte ich zu Claire: »Du scheinst nicht überrascht zu sein.«
»Nein. Nigel ist nicht der Richtige für sie.«
»Weil der Altersunterschied zu groß ist?«
Sie schüttelte den Kopf. »Weil es nicht sein soll. Jede Beziehung hat ihre Hürden, Liebes. Wie du richtig festgestellt hast, war das auch bei Onkel George und mir so. Und bei dir wäre es nicht anders, wenn du hier jemanden kennenlernen solltest.« Sie schien Oliver zu meinen. »Du würdest praktische Entscheidungen treffen müssen, zum Beispiel wo ihr leben und arbeiten wollt. Außerdem gäbe es Unterschiede im Lebensstil, an die man sich gewöhnen müsste. Es ist eine Sache, einen Sommer in Trelowarth zu verbringen oder eine Weile ein Cottage zu mieten, und eine andere, das ganze Jahr über in Polgelly zu sein. Einschneidende Veränderungen sind nie einfach.«
Ich nickte und senkte den Blick.
»Aber«, fuhr Claire fort, »all das ist nicht wichtig, wenn du jemanden liebst. Glaub mir, Eva, wenn ich in der Lage war, mich anzupassen, schaffen andere das auch.«