DREI

Symbol

Als wir den Wilden Wald über den Küstenpfad verließen und nach Trelowarth zurückgingen, stand die Sonne so tief am Himmel, dass die Schatten vor uns lang wurden.

Die Hunde, die während unseres Besuchs bei Claire ruhig geblieben waren, sprangen jetzt an Susan hoch. »Sie haben Hunger«, erklärte sie mir und führte sie zum Hintereingang. Weil mein Koffer vorn stand, kehrte ich mit Mark dorthin zurück.

Als Mark das Licht einschaltete, freute ich mich zu sehen, dass das Haus sich nicht verändert hatte; in der geräumigen Eingangshalle atmete ich den vertrauten Geruch von altem poliertem Holz und verstaubten Wollteppichen ein. Früher war diese Halle vermutlich mit dem gleichen dunklen Holz verkleidet gewesen wie die Wohnzimmertür zu meiner Linken und die Treppe, die dahinter zu den Schlafzimmern hinaufging, doch ein Hallett aus einer früheren Generation hatte die Vertäfelung verputzen lassen, um den Raum freundlicher zu gestalten.

Ebenfalls links von mir und jenseits der großen Treppe führte ein schmaler Flur zum Billardzimmer und zur Küche am hinteren Ende des Gebäudes, und zu meiner Rechten befanden sich die Türen zum Esszimmer und zum Salon.

Mark blieb neben mir stehen, den Koffer in der Hand. »Wir wussten nicht, ob du dein altes Zimmer willst oder …«

»Ja, bitte.« Ihre Aufmerksamkeit rührte mich.

Er ließ mir den Vortritt. Die alte Treppe führte zu einem Absatz, von dem aus sie in der Gegenrichtung zum ersten Stock ging. Die Stufen waren aus Stein, ausgetreten von Generationen von Füßen, und die Wände rundherum mit dem gleichen dunklen Mahagoni verkleidet wie die Türen unten, sodass ich beim Hinaufsteigen das Gefühl hatte, in die Vergangenheit einzutauchen.

Der erste Stock wirkte nicht ganz so antik wie das Erdgeschoss, weil Teppiche die Böden bedeckten und dezent gestreifte Tapeten den Eindruck von Lebendigkeit erzeugten. Einige der Möbel hier kannte ich nicht.

Ich erinnerte mich, welche Tür zu dem Zimmer gehörte, das ich mit Katrina geteilt hatte. Es befand sich in der hintersten Ecke der Vorderseite, am nächsten bei der Straße, und hatte drei Fenster – zwei aufs Meer und eines neben dem Kamin, von dem aus man die Auffahrt sah.

Das Doppelbett, in dem Katrina und ich immer geschlafen hatten, stand am selben Platz wie früher, das Kopfende an der westlichen Wand, das Fußende gegenüber dem Kamin. Dass ich sechs Jahre jünger war als Katrina, hatte mich zur Plage für sie gemacht, weil ich sie durch mein Geplapper vom Schlafen abgehalten oder mehr von der Decke für mich beansprucht hatte, als mir zustand.

Diese Erinnerungen ließen mich trotz meiner Trauer schmunzeln. Als Mark hinter mich trat, sagte ich: »Ihr habt die Bilder umgehängt. Der alte Schäfer und seine Frau.«

»Ja, stimmt«, bestätigte er. »Ich glaube, sie sind jetzt im Esszimmer.«

»Gut. Ihre Augen waren mir unheimlich. Ich hatte den Eindruck, dass ihre Blicke mich überallhin verfolgten.«

Mark stellte den Koffer neben dem Bett ab und sah mich an. »Wie geht’s dir wirklich?«

»Gut. Danke.«

»Das stimmt nicht.«

»Es dauert seine Zeit, sagen alle.«

»Wenn du jemanden zum Reden brauchst: Ich bin da.«

»Ich weiß.«

Er berührte kurz meine Schulter. »Du kennst das Haus. Fühl dich ganz wie daheim.«

»Danke.«

 

Es gab drei Türen in diesem Zimmer. Trelowarth House war eine richtige Schmugglerburg mit Türen, die nicht nur auf den Flur, sondern auch von Zimmer zu Zimmer führten, was das Versteckspielen besonders interessant gemacht hatte. Wie die Schmuggler der Vergangenheit vor den Männern vom Zoll, hatten auch wir Kinder uns hier verborgen.

Zusätzlich zur Haupttür auf den Korridor hatte dieser Raum eine in der Wand zum Nachbarzimmer auf der Ostseite des Hauses, einem Raum, den Claire als Nähzimmer genutzt und praktisch nie an Gäste vergeben hatte, weil oft Onkel Georges Zigarrenrauch aus seinem Arbeitszimmer direkt darunter heraufgedrungen war.

Die dritte Tür befand sich in der Wand am Fußende des Bettes und führte zu einem der kleineren Vorderzimmer, das früher, soweit ich mich erinnerte, hauptsächlich als Lagerraum verwendet worden war.

Ich setzte mich aufs Bett, sodass die Matratze leise ächzte, und sah mich aus der Perspektive meiner Kindheit in dem Zimmer um. Es hatte sich in den vergangenen zwanzig Jahren nicht wesentlich verändert. Die Wand war nach wie vor meergrün, die Tagesdecke weiß und mit Fransen versehen, und die leichten Spitzenvorhänge bauschten sich in der kühlen Maibrise, die durch das einen Spalt offene Fenster hereinwehte. Auf dem Boden mit den breiten Dielen lag zwischen dem zweitürigen Kleiderschrank an der Wand und dem kleinen Schaukelstuhl vor dem Kamin ein alter Flickenteppich, und wie früher hing über der Kommode zwischen den vorderen Fenstern der Spiegel mit dem weißen Rahmen.

Morgens wurde es in diesem Zimmer früh hell, doch jetzt am späten Nachmittag war es voller Schatten. Ich lehnte mich zurück, die Hände hinter dem Kopf verschränkt.

Eigentlich wollte ich mich nur einen Augenblick ausruhen, bevor ich mich frisch machte und nach unten ging, aber in der vertrauten Umgebung wurde ich müde und schlief ein.

 

Einige Stunden später holte ein unruhiger Traum mich zurück in die Realität, in das dunkle Haus. Ich schaltete die Lampe auf dem Nachttischchen ein, warf einen Blick auf meine Uhr und stellte fest, dass es fast Mitternacht war.

»Verdammt.« Ich hatte gerade so lange geschlummert, dass ich nicht mehr einschlafen würde, egal, wie sehr ich die Ruhe nach der langen Reise gebraucht hätte.

Ich zog mich aus, schlüpfte in meinen Pyjama und unter die Decke und schaltete die Lampe aus. Doch es hatte keinen Sinn. Die Minuten zogen sich endlos dahin.

»Verdammt«, wiederholte ich und stand auf, um in meiner Handtasche nach den Schlaftabletten zu suchen, die mein Arzt mir verschrieben hatte.

Ich nahm eine, legte mich hin und murmelte »Gute Nacht« in die Richtung, in der früher meine Schwester geschlafen hatte.

 

Mein erster Gedanke beim Aufwachen war: Ich bin nicht allein.

Ich wusste, wo ich mich befand. Mein Gehirn ordnete die Schreie der Möwen, den Geruch der Luft und das Licht, das ins Zimmer drang, richtig zu. In der Nähe hörte ich flüsternde Stimmen. Mark und Susan, dachte ich, war mir dann aber nicht mehr sicher, weil es zwei Männerstimmen zu sein schienen. Ich verstand nur hin und wieder ein Wort: »weg« und, ganz deutlich, »unmöglich«.

Dann meinte ich, die Stimmen nahe bei meinem Kopf zu vernehmen, durch die Wand zum Nachbarzimmer.

Vermutlich Handwerker. In alten Gemäuern wie Trelowarth gab es immer etwas zu reparieren, und Mark hatte bei Claire Probleme mit den Stromkabeln erwähnt. Ich streckte die Hand aus, um die Verbindungstür zuzuschließen.

Als ich angezogen auf den Flur hinaustrat, begegnete ich Mark, der gerade nach oben kam. »Gut, du bist auf«, begrüßte er mich. »Susan schickt mich. Frühstück ist fertig. Hast du gut geschlafen?«

»Sehr gut, danke.« Ich nickte in Richtung der verschlossenen Tür zum Vorderzimmer. »Du kannst ihnen sagen, dass sie nicht mehr flüstern müssen. Ich bin wach.«

Mark sah mich fragend an. »Wem?«

»Den Handwerkern oder wer auch immer da drin ist.«

Mark drückte schweigend die Klinke zu dem Zimmer neben dem meinen herunter, öffnete die Tür weit genug, um den Kopf hineinstrecken zu können, und versicherte mir: »Niemand drin.«

Ich schaute selbst hinein. »Aber ich hab sie gehört. Zwei Männer. Sie haben sich unterhalten.«

»Kam wahrscheinlich von draußen.«

»Es klang nicht so.«

»Da täuscht man sich manchmal in alten Häusern.«

Alles andere als überzeugt, warf ich einen letzten Blick in das Zimmer, bevor er die Tür wieder schloss.

»Komm mit runter, frühstücken«, forderte er mich auf.

Unten war Susan dabei, ein komplettes englisches Frühstück zuzubereiten, mit Würstchen, Tomaten und Eiern, Toast, Saft und Kaffee.

Susan deutete auf den Tisch. »Setzt euch. Es ist gleich fertig.«

Die Küche war seit meinem letzten Aufenthalt in Trelowarth umgestaltet worden; der Tisch war größer, als ich ihn in Erinnerung hatte, stand jedoch wie eh und je am Fenster, von wo aus man den von Bäumen gesäumten Hof sehen konnte. Der ehemalige Stall am hinteren Ende diente jetzt als Garage. Ich saß, wo ich immer gesessen hatte, mit der Schulter an der Wand, und schaute über den Hof hinaus auf die stufenförmig angelegten, durch hohe Ziegelmauern geschützten Gärten.

Sie waren einzeln ummauert und trugen alle einen Namen: der »Untere Garten« befand sich am nächsten beim Haus; der »Mittlere Garten« war früher der größte gewesen; und der »Obere Garten«, mein Lieblingsort, hieß auch der »Ruhige Garten«.

Diese Gärten waren das Vermächtnis von Marks und Susans Ururgroßvater, der einbeinig und traumatisiert aus dem Burenkrieg zurückgekehrt war. Die Sehnsucht nach einfacheren Zeiten hatte ihn dazu gebracht, traditionelle Rosensorten zu züchten, die allmählich aus der Mode kamen, als die modernen, mehrmals im Jahr blühenden Hybriden beliebt wurden.

Er hatte die neuen Hybriden verachtet, sich passioniert um seine altmodischen Rosen gekümmert und diese Leidenschaft seinen Nachkommen vererbt. Durch die harte Arbeit und die Investitionen späterer Halletts hatte sich in Trelowarth eine der angesehensten Zuchtstätten alter Arten etabliert. Hier wuchsen Rosen, die der Nachwelt ohne Trelowarth verloren gegangen wären.

Das Brutzeln in der Pfanne lenkte meinen Blick vom Fenster zu Susan zurück.

»So ein Aufwand«, sagte ich. »Frühstücksflocken und Milch wären genug gewesen.«

Mark reichte mir eine große Tasse Kaffee und setzte sich mir gegenüber hin. »Das Frühstück ist nicht für dich«, versicherte er mir. »Sie versucht, mich weichzuklopfen.«

»Tu ich nicht«, widersprach Susan.

»Dann ist es wohl Zufall, dass der große Ordner mit deinen Plänen für die Teestube auf dem Tisch liegt, oder?«

»Ich wollte sie durchgehen.«

»Du wolltest sie Eva zeigen.«

»Nein, wollte ich nicht.« Susan gab die Würstchen aus der Pfanne auf einen Teller und stellte ihn mit einem Knall vor Mark hin.

Er deutete mit der Gabel auf den Ordner. »Steht da die ganze Geschichte von Trelowarth drin oder was?«

Susan reichte mir meinen Teller und setzte sich mit dem ihren zu uns. »Natürlich.«

»Gut. Dann kannst du Eva erklären, dass es hier keine Geister gibt.«

»Ich habe nie behauptet …«, begann ich entrüstet.

»Wieso sollte sie das glauben?«, fragte Susan.

»Sie hat oben Männerstimmen gehört.«

»Schön wär’s«, meinte Susan.

Mark lachte. »Was? Wenn Männer hier im Haus wären?«

»Nein, Dummkopf. Wenn wir einen Geist hätten. Das würde die Touristen bestimmt herlocken.«

Das hänge vom Geist ab, meinte Mark.

Susan erkundigte sich, was die Stimmen gesagt hätten, und ich zuckte mit den Schultern.

»Das hab ich nicht verstanden.«

»Vielleicht sind sie gekommen, um uns zu warnen«, mutmaßte Mark und fuhr mit geisterhafter Stimme fort: »Eröffnet keine Teestube in Trelowarth.«

»Siehst du?«, fragte Susan und schaute mich hilfesuchend an. »Siehst du, womit ich mich tagtäglich herumschlagen muss?«

»Trotzdem magst du mich.« Ihr Bruder bedachte sie mit einem Lächeln.

»Ja, sei froh. Das ist der einzige Grund, warum ich dich nicht im hinteren Garten neben deinen Rosen in den Boden ramme.«

Mark wandte sich mir zu. »Was hast du heute vor?«

»Keine Ahnung. Wahrscheinlich sollte ich erledigen, weswegen ich hergekommen bin.«

Sofort wurde die Stimmung ernst. Mark senkte den Blick und aß schweigend weiter, bis er schließlich sagte: »Weißt du schon, wo?«

»Ich dachte … oben beim Leuchtfeuer. Sie wollte an einem Ort sein, an dem sie glücklich war.«

Mark nickte. »Dann ist das eine gute Stelle. Soll ich dich begleiten?«

»Möchtest du das denn?«

Er schob seinen halbleeren Teller weg. »Ja.«

Ich blickte hinaus. »Wir sollten warten, bis die Sonne rauskommt.«

»Gut.« Er stellte auch die Kaffeetasse zur Seite und stand auf. »Sag einfach, wenn du so weit bist.«