ZWEI
Nach Cornwall zu kommen und die Brücke über den Tamar zu überqueren, vermittelte mir jedes Mal ein ganz besonderes Gefühl, als würde ich durch einen mystischen Schleier treten, der meine Welt von der trennte, in der ich eigentlich leben sollte. Meine Mutter hatte immer gesagt, es sei eine Art Heimkehr, die nur Menschen mit kornischem Blut spüren könnten. Und da meine Vorfahren mütterlicher- wie väterlicherseits seit Generationen aus Cornwall stammten, ist dieses Gefühl bei mir besonders stark ausgeprägt.
Ich hatte in Cornwall das Licht der Welt erblickt, im Norden, jenseits des Bodmin Moor, wo mein Vater, ein Regisseur, einen düsteren Thriller gedreht hatte; meine Eltern waren beide im lieblicheren Süden Cornwalls – im Daphne-du-Maurier-Land – aufgewachsen. Nachdem mein Vater Dozent für Filmwissenschaften an der Universität von Bristol geworden war, hatten seine nun geregelten Arbeitszeiten es uns ermöglicht, jeden Sommer den Tamar zu überqueren und die Ferien bei seinem Jugendfreund George Hallett zu verbringen, der mit seiner jungen, lebhaften Familie in einem zugigen Herrenhaus auf einem Hügel über dem Meer lebte.
Als ich zehn war, führte der Beruf meines Vaters uns von England fort, nach Vancouver an der Westküste Kanadas, wo er an der University of British Columbia unterrichtete.
Mir gefiel es in Kanada. In Vancouver erhielt meine Schwester mit achtzehn ihre ersten Angebote – anfangs noch kleine Rollen, dann allmählich größere, die Hollywood-Regisseure auf sie aufmerksam machten.
Jahre später folgte ich ihr eher zufällig nach. Ich hatte in der Marketing-Branche gearbeitet, mich dann für PR entschieden und war bei einem Unternehmen gelandet, das hauptsächlich für die Unterhaltungsindustrie tätig war, sodass ich mit fünfundzwanzig von Vancouver nach Los Angeles zog.
L. A. war nicht gerade meine Lieblingsstadt, aber als ich erst kurz dort lebte, hatte ein Betrunkener auf regennasser Straße meine Eltern überfahren, und von meiner Familie blieb mir nur noch Katrina, die nun mal in L. A. zu Hause war.
Wir standen uns sehr nahe. Wo sie auch drehte, besuchte ich sie. Ich war dabei, als Bill ihr den Heiratsantrag machte und sie in einer kleinen privaten Feier den Bund fürs Leben schlossen. Und sie machte mich zu ihrer Pressesprecherin – damit es in der Familie bliebe, wie sie es ausdrückte. In den vergangenen beiden Jahren war sie aufgrund ihres Erfolgs meine wichtigste Klientin geworden.
Zu Hause hatte ich mich in L. A. letztlich nie gefühlt, weder in meinen insgesamt vier Apartments – noch bei den Männern, mit denen ich zusammen war. Männer hatte es mehr gegeben als Wohnungen, doch keiner von ihnen war geblieben. Der letzte verabschiedete sich gerade aus meinem Leben, als Katrina krank wurde.
Die Trennung hatte ich damals kaum bemerkt, und auch nun beschäftigte sie mich nicht. In den vergangenen sechs Monaten war ich ein Schatten meiner selbst gewesen; erst jetzt, als der First-Great-Western-Zug über den Tamar ratterte, spürte ich, wie sich tief in mir wieder Leben zu regen begann.
Ich war in Cornwall, und es war tatsächlich eine Art Heimkehr. Die draußen vorbeihuschende Landschaft mit den alten Steingebäuden, Hügeln und Hecken hatte etwas angenehm Vertrautes. Und als ich in einen kleineren Zug umstieg, der mich zur Küste bringen sollte, erinnerte ich mich an meine kindliche Vorfreude auf die Sommerferien von damals.
Neben dem weißen Bahnhofshäuschen am Ende der Strecke stand eine blaue Bank an dem schmalen Bahnsteig mit dem weißen Streifen am Rand. An der grünen Hügelflanke dahinter war eine Handvoll Häuser zu sehen.
Drei Menschen warteten am Gleis, einen von ihnen hätte ich überall erkannt.
Bei unserer letzten Begegnung war Mark Hallett gerade achtzehn gewesen und ich zehn, zu jung, um von ihm wahrgenommen zu werden, jedoch nicht zu jung, um seine dunklen Haare und die lachenden Augen attraktiv zu finden. Ich war immer in seiner Nähe gewesen, und er hatte es geduldig ertragen und mir weder das Gefühl vermittelt, ihm lästig zu sein, noch war ihm meine Bewunderung zu Kopf gestiegen.
Katrina hatte ähnlich für ihn empfunden, doch es war mehr daraus geworden. Er war ihr erster Freund, ihre erste große Liebe, gewesen, und als wir am Ende des Sommers abreisten, hatte ich gesehen, wie sehr die Trennung sie beide betrübte. Bald hatte sie sich von dem Schmerz erholt. Er vermutlich auch. Zwanzig Jahre waren seitdem vergangen. Doch als ich nun aus dem Zug stieg und Mark Hallett mich mit einem Lächeln begrüßte, fühlte ich mich wieder wie zehn.
»Eva.« Seine Umarmung fühlte sich vertraut und gleichzeitig anders an. Trotz seines kräftigen Körperbaus war er nicht sonderlich groß gewachsen. Mein Kinn befand sich auf Höhe seiner Schulter; in meiner Erinnerung reichte ich ihm kaum bis zur Brust.
»Kein Problem mit den Zügen?«, erkundigte er sich.
»Nein, alle pünktlich.«
»Ein Wunder.« Er nahm mir den Koffer ab, ließ mir jedoch die Umhängetasche, vermutlich, weil er ahnte, was sich darin befand.
Der Bahnhof war so klein, dass es nicht einmal öffentliche Toiletten gab, und der Parkplatz war nicht mehr als eine Kiesfläche mit einer Telefonzelle. Marks Lieferwagen erkannte ich an dem Trelowarth-Roses-Logo an der Seite. Als Mark meinen Blick sah, lächelte er verlegen. »Ich wäre mit dem anderen Wagen gekommen, musste aber noch etwas in Bodmin ausliefern. Danach hatte ich keine Zeit mehr, nach Hause zu fahren.«
»Kein Problem.« Mir gefiel der Van, in dessen Innern es ganz ähnlich roch wie in dem, den sein Vater früher gefahren hatte: nach feuchter Erde und Pflanzen. Marks Hund, ein Mischling mit Schlappohren, zotteligem braunem Fell und dünnem Schwanz, der ohne Unterlass wedelte, erwartete mich im Wagen. Als er es sich auf meinem Schoß bequem machen wollte, schob Mark ihn sanft zurück.
»Darf ich dir Samson vorstellen? Ein ganz Braver.«
Sie hatten immer drei oder vier Hunde in Trelowarth gehabt, die mit uns Kindern über die Felder tollten und mit ihren schmutzigen Pfoten durch die alte Küche in den Garten liefen, sodass Marks Stiefmutter Claire ständig den Fliesenboden wischen musste.
Ich kraulte Samson hinter den Ohren und fragte Mark, wie es Claire gehe, die sich ein Bein gebrochen hatte
»Viel besser. Der Gips ist weg; sie humpelt schon wieder herum. Der Arzt meint, ein paar Wochen noch, dann ist sie wieder ganz die Alte.«
»Wie hat sie sich das Bein überhaupt gebrochen?«
»Beim Säubern der Regenrinne.«
»Natürlich«, sagte ich. Es überraschte mich nicht, dass sie auch nach ihrem Umzug vom Herrenhaus ins Cottage sämtliche Arbeiten selbst erledigte.
»Gott sei Dank ist das Malheur unten in Bodennähe passiert und nicht oben auf dem Dach«, sagte Mark und schob erneut Samson zurück, der versuchte, sich zwischen uns zu drängen. Dann startete er den Motor und setzte zurück auf die Straße.
Die Küstenstraßen von Cornwall sind schmal und kurvig mit steilen Böschungen und hohen Hecken, die den Blick auf das versperren, was vor einem liegt. Mein Vater war sie immer in hoher Geschwindigkeit entlanggebraust und hatte vor Kurven gehupt, darauf vertrauend, dass entgegenkommende Wagen auswichen. Als ich ihn einmal fragte, was passieren würde, wenn der andere Fahrer es genauso machte wie er, hatte Dad mit den Schultern gezuckt und mir versichert, das würde nicht geschehen.
Gott sei Dank hatte er recht behalten.
»Wohnt Susan noch zu Hause?«, fragte ich Mark.
»Ja.« Er verzog das Gesicht, wenig überzeugend, wie ich fand, denn ich wusste, dass die beiden Geschwister sich nahestanden. »Fast wären wir sie losgeworden, sie hat kurze Zeit in der Nähe von Bristol gewohnt. Aber jetzt ist sie wieder da und will eine kleine Teestube oder so was Ähnliches aufmachen, für Touristen. Unserer Susan gehen die Ideen nie aus.«
»Du bist nicht begeistert davon?«
»Sagen wir mal so: Ich glaube, es wird nicht allzu viele Touristen geben, die so scharf auf Tee sind, dass sie aus dem Ort eigens zu uns herauskommen.«
Da musste ich ihm recht geben. Wir fuhren gerade durch Polgelly mit seinen dicht gedrängten weiß getünchten Häusern und den gewundenen Straßen, die so schmal waren, dass nur Anwohner und Taxis für die Touristen sie passieren durften. Marks Van, wirklich nicht sonderlich breit, passte beinahe nicht zwischen den Gebäuden hindurch.
Polgelly war einmal ein bekannter Fischerort gewesen, der sich mit der Entdeckung Cornwalls durch die Touristen in ein pittoreskes Dorf verwandelte. Nun gab es hier Geschäfte mit Antiquitäten und keltischem Kunsthandwerk und Frühstückspensionen mit Namen wie »Schmugglernest«. Der alte Fish-and-Chips-Laden am Hafen sah noch aus wie früher; das Gleiche galt für das Fudge-Geschäft an der Ecke. Und »der Hügel« hatte sich selbstverständlich auch nicht verändert.
Ich hatte ihn gleich bei der ersten Besteigung »den Hügel« getauft, denn bestimmt gab es keine andere Erhebung auf Erden, die das Durchhaltevermögen auf eine solche Probe stellte. Das lag nicht an der Höhe oder der Steigung allein, sondern vor allen Dingen daran, dass der Weg hinauf kein Ende zu nehmen schien. Die Straße führte zwischen überhängenden Bäumen und Bruchsteinmauern hindurch, ein Anstieg, der die Oberschenkelmuskulatur beanspruchte und sie noch minutenlang zittern ließ, wenn man endlich die Kuppe erreicht hatte.
Als Kinder waren wir jeden Tag hinuntergelaufen, um mit Marks und Susans Schulfreunden in Polgelly zu spielen oder von der Hafenmauer aus den Fischern bei der Arbeit zuzusehen. Und wie Kinder nun mal sind, hatten wir alle Gedanken an den mühsamen Aufstieg verdrängt, bis wir ihn auf dem Rückweg wieder bewältigen mussten. Einmal hatte Mark mich sogar die letzten Schritte getragen. Vermutlich begann ich seinerzeit deswegen, für ihn zu schwärmen.
Diesmal näherten wir uns dem Hügel mit dem Van, und auch der schien Respekt vor ihm zu haben. Ich hätte schwören mögen, dass der Motor ächzte.
Die Äste der mit frischem Frühlingsgrün bewachsenen Bäume bildeten so etwas wie einen Tunnel und sorgten für Licht- und Schattenspiele auf der Windschutzscheibe. Am Straßenrand entdeckte ich Immergrün und Weinranken. Wie früher richtete ich den Blick erwartungsvoll geradeaus, um die Ziegelschornsteine von Trelowarth House nicht zu verpassen.
Sie tauchten als Erstes zwischen den Bäumen auf, und dann die niedrige Mauer entlang der Straße – »kornische Hecke« nannte man solche im Fischgrätmuster aufeinandergestapelten Bruchsteine, überwuchert von Efeu, das sie zusammenhielt. Anschließend folgte eine Lücke zwischen Bäumen und Mauer, und endlich sah ich das Haus vor den ansteigenden Feldern und Wäldern.
Trelowarth House hatte auf diesem Hügel Jahrhunderten getrotzt; seine massiven grauen Steinmauern hatten jedem Sturm vom Meer standgehalten. Es hatte die Form eines schlichten, zweistöckigen L, dessen Vorderseite auf die Klippen und die See ging, während die Längsseite ziemlich nahe entlang der Straße verlief. Die Konstruktion war so durchdacht, dass keiner der zahlreichen Besitzer es für nötig befunden hatte, größere Veränderungen an der Grundstruktur vorzunehmen. Die mit neuen Spitzen versehenen Schornsteine waren im alten Stil verblieben, und in einigen der Flügelfenster befand sich noch Glas aus der elisabethanischen Zeit, durch das die damaligen Bewohner möglicherweise das Herannahen der Armada beobachtet hatten.
Das Gebäude verlockte nicht eben zu romantischen Fantasien. Es wirkte streng, grau und hart; das einzig Weiche daran waren die Rosen, die sich um den steinernen Türstock rankten.
Nach etwa drei Vierteln der Strecke den Hügel hinauf bog Mark scharf in den Kiesweg in Richtung Haus ein. Die Garagen befanden sich in den alten Stallungen am hinteren Ende des Hofs, doch Mark stellte den Van neben dem Gebäude ab. Als wir die Türen öffneten, stürzte sich ein ganzes Rudel bellender Hunde auf uns, die zur Begrüßung an uns hochsprangen.
»Ruhe, ihr Krachmacher«, ermahnte Mark sie, als er nach hinten ging, um meinen Koffer aus dem Wagen zu holen.
Ich stieg vorsichtig aus, weil ich den Hunden nicht auf die Pfoten treten wollte. Es handelte sich um einen schwarzen Cockerspaniel, einen Labrador und ein Tier, das trotz der dicken Schmutzkruste entfernte Ähnlichkeit mit einem Setter hatte. Dazu kam der braune Mischling Samson, der hinter mir aus dem Van hüpfte. Sobald ich sie gestreichelt hatte, hörten sie auf, an mir hochzuspringen, und verlegten sich auf heftiges Schwanzwedeln. Auf dem Weg zum Haus liefen sie zwischen Marks und meinen Beinen hindurch.
Vor dem Gebäude war am Hügel eine kleine Rasenterrasse angelegt, umgeben von Hecken, die den Wind abhielten, und darunter erstreckten sich die grünen Felder bis zum Rand der Klippen.
Wie immer überraschte mich der erste Anblick des atemberaubend schönen Meeres. Grüne Hügel mündeten in Täler, dunkle Wälder wurden hier und da von hellen Schwarzdornblüten aufgelockert. In der Ferne erkannte ich den Hafen von Polgelly mit den weißen Häusern und die Landspitzen zu beiden Seiten. Dahinter erstreckte sich die blaue See, so weit das Auge reichte.
Mark sah mich an. »Nicht wie in Kalifornien, was?«
»Nein.« Dieses Meer erschien mir deutlich lebendiger als der Pazifik. »Besser.«
Da hörte ich hinter uns jemanden »Eva!« sagen und entdeckte eine junge Frau in Jeans und rotem Pullover, die dunklen Haare kürzer geschnitten als die von Mark. Das musste Susan sein. Sie hätte ich mit Sicherheit nicht erkannt, wenn sie mir an einem anderen Ort begegnet wäre. Bei meinem letzten Aufenthalt in Trelowarth musste sie sieben oder acht gewesen sein, jetzt war sie Ende zwanzig, groß und schlank und begrüßte mich mit einem herzlichen Lächeln. »Ich habe den Van gehört.« Sie umarmte mich. »Eva, du hast dich überhaupt nicht verändert. Nicht mal dein Haar. Darum habe ich dich immer beneidet. Meins würde ich nie so lang kriegen.«
Ich persönlich hielt nicht allzu viel von meinem Haar. Weil es meinem Vater lang gefallen hatte, hatte ich es immer so getragen. Intensive Pflege erforderte es nicht, und wenn es mich störte, band ich es einfach zurück.
»Der kurze Schnitt steht dir«, bemerkte ich.
»Gott sei Dank, denn eine andere Wahl bleibt mir nicht.« Sie strich sich eine Strähne aus der Stirn. »Ich wollte es rot färben …«
»Und es ist lila geworden«, ergänzte Mark.
»Eher kastanienbraun«, korrigierte sie ihn. »Der Versuch, es besser hinzukriegen, ist misslungen. Da habe ich es abgeschnitten.«
»Selbst«, erklärte Mark.
»Klar.«
»So hätte ich das auch gekonnt«, meinte er. »Mit der Gartenschere.«
Susan zuckte mit den Schultern. »Lasst den Koffer erst mal hier. Claire sagt, ich soll euch gleich zum Cottage bringen, wenn ihr da seid. Sie hat Sandwiches gemacht.«
Mark stellte den Koffer ab und folgte Susan und den Hunden über den grünen Hügel in Richtung Meer bis zu der Stelle, wo der alte, schmale Küstenpfad, festgetreten von den Füßen zahlreicher Wanderer, in den »Wilden Wald« verschwand.
Diesen Namen hatte ich dem Wald in dem Sommer gegeben, in dem Claire mir Kenneth Grahames zeitlos schöne Geschichten vom Maulwurf, der Wasserratte und dem Kröterich vorlas. Ein Kapitel aus Der Wind in den Weiden pro Abend, und ich konnte das Unterholz nicht mehr betreten, ohne auf das Trippeln kleiner unsichtbarer Wesen zu lauschen und die Magie dieses Orts zu spüren.
Ich spürte sie noch immer, als ich Mark und Susan in die dunkle Kühle nachging. Luft und Licht veränderten sich, und der feuchte, erdige Geruch des alten Waldes, der sich bis zu den Klippen erstreckte, stieg mir in die Nase. Die Bäume wuchsen so dicht, dass ich das Meer nicht mehr sehen konnte. Ich bewegte mich in einem Kokon aus Ästen und Blättern – Esche, Holunder, Schwarzdorn und Buche, dazu geisterhaft fahle Ahornstämme.
Der Küstenpfad, der als schmaler Weg in den Wald führte, wurde ein wenig breiter, sodass zwei Menschen nebeneinander gehen konnten, wo die Schatten dunkel auf Farne und Unterholz fielen und die hohen Bäume zu flüstern begannen, wenn der Wind die Blätter bewegte. Ich hatte in diesem von fröhlichem Vogelgezwitscher erfüllten Wald nie Angst gehabt.
»Wir haben sogar einen Dachs hier«, teilte Susan mir mit. »Claire hat ihn gesehen.«
Ich roch das Kohlenfeuer aus Claires Cottage-Kamin, bevor wir die halbkreisförmige, mit Gras und Glockenblumen bewachsene Lichtung betraten, von der aus sich erneut ein weiter Blick aufs Meer bot.
Auf der Lichtung stand wie eh und je das kleine Cottage mit seinen schlüsselblumengelben Mauern unter den durchhängenden Schieferdachziegeln.
In meiner Kindheit hatten die Eigentümer von Trelowarth sich durch die Vermietung des Cottage an Touristen ein Zubrot verdient. Im vergangenen Jahr war Claire mit ihren Leinwänden und Farben dorthin umgezogen und hatte das große Haus ihren Stiefkindern überlassen. Ich konnte es ihr nicht verdenken. Von außen sah Trelowarth House wunderschön aus, doch es war und blieb ein zugiges, feuchtes und reparaturbedürftiges altes Gemäuer mit riskant verlegten elektrischen Leitungen, während das kleine Cottage, das seit den zwanziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts an dieser Stelle stand, Behaglichkeit bot.
Wir traten ein, ohne zu klopfen, mit sämtlichen Hunden. Claire, die im Wohnzimmer saß und las, legte das Buch weg und stand auf, um mich zu umarmen.
Claire Hallett schien das Alter nichts anhaben zu können. Sie wirkte mit fast sechzig genauso wie in meiner Kindheit. Vielleicht war ihr Haar ein wenig kürzer und grauer als damals, aber sie trug noch immer Jeans und strahlte Stärke und Energie aus. »Schön, dass du da bist«, begrüßte sie mich. »Katrinas Tod hat uns sehr traurig gemacht.«
Als sie sah, wie mir die Tränen in die Augen stiegen, wandte sie sich anderen Themen zu, dem Cottage und den Veränderungen, die sie daran vornehmen wollte. Wir setzten uns an den wackligen alten Küchentisch, tranken Claires starken Tee und aßen dazu Käsesandwiches mit Mixed Pickles, als wäre unser letztes Treffen Monate, nicht Jahre, her.
Susan erzählte von der Teestube, die sie eröffnen wollte. »Mark ist natürlich dagegen. Er kann Veränderungen nicht leiden.«
»Es geht nicht um die Veränderungen«, widersprach Mark, »sondern um die simple Tatsache, dass die Nachfrage fehlt.«
»Dann sorgen wir eben dafür. Wir könnten die Touristen busweise anlocken, wenn wir die Gärten für die Öffentlichkeit zugänglich machen.«
»Busse sind zu groß für die Straßen von Polgelly.«
»Dann lässt man sie eben von der anderen Seite kommen, von St. Non’s. Da fahren die Touristen sowieso hin, um sich den Brunnen anzuschauen – und hinterher kommen sie zum Lunch hierher.« Susan wandte sich ihrer Stiefmutter zu. »Du bist doch hoffentlich auf meiner Seite, oder?«
»Ich halte mich da raus.« Claire schenkte mir Tee nach. »Trelowarth gehört jetzt euch; ihr müsst euch untereinander einigen.«
Susan verdrehte die Augen. »Du behauptest, du hättest Trelowarth aufgegeben, aber wir wissen alle, dass du nie …«
»Wende dich doch an Eva«, meinte Claire. »Es ist ihr Beruf, Dinge an den Mann zu bringen.«
Susan und Mark sahen mich an, doch ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube, ich sollte mich da besser auch raushalten.«
Mark machte kein Hehl aus seiner Belustigung. »Das wird dir bei Susan nicht gelingen. Sie wird dir, so lange du hier bist, in den Ohren liegen.«
»Du bleibst doch ein bisschen, oder?«, fragte Susan mich. »Nicht nur übers Wochenende.«
»Mal sehen.«
Claires Blick fiel auf meine Hand. »Das ist der Ring deiner Mutter, stimmt’s?«
»Ja.« Der Claddagh-Ring, den Bill im Krankenhaus von Katrinas Finger gezogen und mir gegeben hatte. Meine Mutter hatte den kleinen Goldreif mit dem gekrönten Herzen, gehalten von zwei behandschuhten Händen, ein Symbol immerwährender Liebe, von ihrer irischen Großmutter geerbt, die nach Cornwall gegangen war.
Claire lächelte, als wüsste sie genau, warum ich nach Trelowarth House gekommen war. Sie legte ihre Hand auf die meine und sagte: »Bleib, so lange du möchtest.«