ZWANZIG
Ich stand an einer ziemlich ungünstigen Stelle. Zurücktreten konnte ich nicht, weil Jack jeden Augenblick auftauchen würde, und der Hof bot keinerlei Versteck. Mir blieb nicht viel mehr, als bewegungslos zu verharren wie ein vom Jäger gestelltes Tier.
Daniel veränderte seine Position ein wenig, sodass der Mann sich von mir wegdrehen musste. Ich erkannte Mr Wilson an der Kleidung, dem langen Rock aus elegantem dunkelgrünem Brokat, den hohen schwarzen Stiefeln und der weißen Perücke unter der breiten Hutkrempe.
Daniel sah mich über die Schulter des Mannes hinweg an und gab mir mit einem kurzen Nicken zu verstehen, dass ich zu den Stallungen laufen sollte.
Das tat ich, ohne einen Blick zurück zu riskieren, nicht einmal, als ich die Ställe erreicht hatte, in denen es angenehm nach Heu roch. Ein oder zwei Pferde streckten bei meinem Eintreten neugierig den Kopf, wandten sich jedoch schnell wieder ab. Am hinteren Ende fand ich eine leere Box, in der ich mich mit zitternden Knien an die raue Holzwand presste.
Ich wusste nicht, wie lange ich schon dort war, als ich Daniel hörte, zuerst seine Schritte, dann seine Stimme. »Gern.«
Hinter ihm das Geräusch weiterer Stiefel. Mr Wilson begleitete ihn. »Sie müssen sich nicht um mein Pferd kümmern, Butler. Das kann ich selbst besorgen.«
Ich hielt den Atem an, obwohl sie mich beim Satteln des Pferdes sowieso nicht gehört hätten.
»Es wird ihn freuen zu erfahren, dass er sich auf Sie verlassen kann«, stellte Mr Wilson fest.
»Wann treffen Sie ihn wieder?«, erkundigte sich Daniel.
»In zwei Tagen. Ich sage ihm, dass Ihr Schiff ihm zur Verfügung steht, wenn er es benötigt.«
»Aye. Er muss nur Bescheid geben.«
Das Pferd schnaubte beim Aufzäumen.
»Falls Sie unserem Constable begegnen sollten, täten Sie gut daran, ein Loblied auf King George zu singen«, riet Daniel Wilson.
»Wenn ich ihn treffe, begrüße ich ihn mit seinem Namen und berichte ihm, der König höchstpersönlich habe mich gesandt, um die Gastfreundschaft jener zu prüfen, die behaupten, ihm zu dienen. Das bringt mir vielleicht eine Mahlzeit ein.«
Daniel lachte. »Tun Sie das. Ich begleite Sie noch zur Straße.«
Als sie weg waren, wurde es bis auf die Geräusche der Pferde wieder still im Stall.
Nach einer Weile hörte ich Stiefelschritte, diesmal von einem Mann allein, und ich atmete erleichtert auf. Ich wollte die Box gerade verlassen, als der Mann fröhlich zu pfeifen anfing.
Zum zweiten Mal erstarrte ich. Es war nicht Daniel, sondern Jack, der die Pferde mit einem Schnalzen begrüßte und als Antwort ein Hufescharren erhielt.
»Nein, nein«, brummte er, »ihr habt heute schon genug zu fressen gekriegt. Ihr könnt euch nicht beklagen.«
Er näherte sich meinem Versteck. Weil sich mir kein Fluchtweg bot, glitt ich die Wand hinunter und schloss wie ein kleines Kind die Augen.
»Warum so unruhig?«
Es dauerte, bis ich merkte, dass er nicht mit mir, sondern mit dem grauen Pferd in der Box nebenan sprach.
»Ich bin’s, du Dummkopf«, sagte er in dem liebevollen Tonfall, den Männer gern Tieren gegenüber anschlagen, wenn sie sich unbelauscht fühlen. Dann fügte er weniger sanft hinzu: »Mein Pferd ist heute ziemlich unruhig.«
Daniel, den ich nicht hatte eintreten hören, bemerkte von der Tür aus: »So, so.«
Obwohl mich der Klang seiner tiefen Stimme mit Erleichterung erfüllte, blieb ich, wo ich war, und versuchte, so leise wie möglich zu atmen.
Jack tätschelte den Hals seines Pferdes. »Vielleicht gefiel ihm die Gesellschaft nicht, in der es sich aufhalten musste. Das kann ich ihm nicht verdenken.«
»Sprichst du von Mr Wilson oder von seinem Pferd?«
»Von beiden. Wenn ich mich allerdings zwischen ihnen entscheiden müsste, wäre mir der Gaul lieber.«
Der Boden knarrte, als Daniel näher trat. »Deine Abneigung ist mir gar nicht aufgefallen. Du hast Wilson sehr zuvorkommend behandelt.«
»Ich habe keine Zeit, mich in die Politik einzumischen, und begegne allen Menschen mit der gebotenen Höflichkeit.«
»Er genießt das Vertrauen unseres Verwandten.«
»Wenn unser Verwandter Mr Wilson vertraut, zweifle ich an seinem Urteilsvermögen.« Jack drehte sich um, und die Trennwand zwischen uns erzitterte. »Himmel, erkennst du das denn nicht? Oder hat das Getändel mit Fergals Schwester dich um den Verstand gebracht?«
Nach kurzem Schweigen antwortete Daniel: »Pass auf, was du sagst, Jack.«
Aber Jack ließ sich nicht beirren. »Sie ist nicht Ann, das weißt du doch, oder? Da kannst du sie anziehen, wie du willst.«
»Ja, das ist mir vollkommen klar.« Daniels Stimme klang gefährlich ruhig. »Aber es geht dich nichts an.«
Ich konnte den Blick nicht sehen, den die Männer wechselten, spürte nur die Spannung, die in der Luft lag.
»Na schön«, meinte Jack. »Ich rede nicht mehr darüber. Doch du erlaubst, dass ich mir selbst ein Urteil über Mr Wilson bilde.«
Er begann schweigend, das Pferd zu satteln.
Kurze Zeit später fragte Daniel ihn: »Wo willst du hin?«
»Nach St. Non’s. Wilson hat seinen Diener dort gelassen. Es würde mich interessieren, wie er sich die Zeit vertrieben und wen er getroffen hat. Hast du etwas dagegen?«
»Nein.«
Damit war das Gespräch beendet. Daniel trat einen Schritt zur Seite, damit Jack das Pferd hinausführen konnte, und es wurde wieder still im Stall.
»Eva?«
»Hier.« Ich richtete mich mit steifen Gliedern auf.
Daniels Miene war ausdruckslos, obwohl er wusste, dass ich jedes Wort des Gesprächs mit Jack gehört hatte. Ich zwang mich zu einem Lächeln. »Soll ich zu einem günstigeren Zeitpunkt wiederkommen?«
Er schmunzelte.
Fergal war nicht in bester Stimmung. In der Küche wandte er sich Daniel zu: »Das ist nicht witzig. Ist dir noch nicht aufgegangen, was ihr hätte blühen können, wenn sie so vor Wilson, deinem Bruder oder dem Constable aufgetaucht wäre? Du hast selbst gesehen, wie sie kommt und geht. Und ich auch. Ich muss gestehen, dass ich einen Augenblick lang dachte, der Teufel hätte seine Hand im Spiel, obwohl ich ein Mann der Vernunft bin.«
»Du weißt, dass es keine Hexerei ist«, erwiderte Daniel.
»Aye, das weiß ich. Genau wie du. Aber denk an die anderen. Du hast doch schon Hexenprozesse erlebt, oder?«
Daniel schwieg, und Fergal wandte den Blick ab.
»Ich jedenfalls schon. Und ich möchte nie wieder sehen, was der Mob mit so einer armen Frau macht …«
»Bei uns hier ist sie sicher«, sagte Daniel.
»Tatsächlich?«
»Zweifelst du etwa an mir? Man könnte fast meinen, sie wäre wirklich deine Schwester.«
Nun mischte ich mich ins Gespräch ein. »Ich kann leider nicht beeinflussen, wie ich auftauche oder verschwinde. Wenn ich in der Lage dazu wäre, würde ich …« Daniel sah mich an. »Aber es geht nicht. Ich werde immer Ihre Nähe suchen, wenn ich da bin, damit Sie im Notfall andere Anwesende ablenken können.«
Fergal nickte.
»Aye. Wollen wir hoffen, dass es gut geht.« Er musterte mich. »Möchten Sie eine zweite Mahlzeit?«
»Eine zweite?«
»Aye«, antwortete er mit einem Blick auf den leeren Teller auf dem Tisch. »Die erste hatten Sie schon; den habe ich gerade aus Ihrem Zimmer geholt, wo Sie seit zwei Tagen krank im Bett liegen.«
»Verstehe.« Natürlich hatten er und Daniel sich eine Erklärung für Jack und Mr Wilson ausdenken müssen.
»Soweit ich sehen kann, hat sie wieder alles aufgegessen«, stellte Daniel fest.
Fergals Mundwinkel zuckten. »Aye, für eine Kranke hat sie einen gesunden Appetit.«
An mich gewandt, meinte Daniel: »Gott sei Dank sind Sie zurückgekommen, bevor ihm keine Hose mehr passt.«
Das erinnerte mich an meine eigene Kleidung. Verlegen verschränkte ich die Arme vor der Brust. »Tut mir leid, ich habe … das Kleid von Ihnen ist … nun …«
»Das ist mir schon aufgefallen«, stellte Daniel fest.
Fergal, der dicke Scheiben von einem Laib Brot für mich abschnitt, stand mit dem Rücken zu uns und konnte unsere Blicke nicht sehen.
»Tut mir leid«, wiederholte ich.
»Es ist nur ein Kleid.«
Nein, das stimmt nicht, dachte ich. Sein Schulterzucken konnte mich nicht täuschen. Wie er wohl reagieren würde, wenn ich ihm sagte, dass ich Anns Grab besucht und auch das mit Gras überwachsene von Jack in einer ruhigen Ecke des Friedhofs entdeckt hatte?
»Machen Sie sich keine Gedanken«, sagte Daniel. »Ich habe noch andere Gewänder.«
Ohne sich umzudrehen, bemerkte Fergal: »Das geblümte würde ihr gut stehen.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Daniel ihm bei.
So bekam ich das Kleid mit den Blumen. Als ich nach dem Essen hinaufging, lag es auf dem Bett für mich bereit. Es hatte einen weiten Rock mit breiter blauer Borte, die gut zu den kleinen Blütenrispen, vielleicht Vergissmeinnicht, auf dem Oberteil passte. Auch der runde, tiefe Ausschnitt war mit einer solchen Borte verziert. Das schlichte Kleidungsstück gefiel mir.
Erst nach zwei oder drei Versuchen gelang es mir, mein Haar so hochzustecken und die kleine Leinenkappe so ordentlich darauf zu befestigen, wie Fergal es mir gezeigt hatte.
Als Daniel hörte, dass ich die Tür öffnete, rief er von seinem Arbeitszimmer aus: »Eva?«
»Ja?«
»Alles in Ordnung? Brauchen Sie Hilfe?«
Ich ging die wenigen Schritte zu ihm hinüber und sog den aromatischen Duft des Pfeifentabaks ein, der aus dem Raum drang. »Nein, danke. Ich komme zurecht. Ich …«
Daniel saß mit der Schulter zur Wand auf demselben Stuhl neben dem kleinen Fenster wie bei unserem ersten Gespräch dort. Er hatte ein aufgeschlagenes Buch in der Hand und betrachtete mich schweigend.
»Ein hübsches Kleid«, sagte ich unsicher. »Wenn ich es lieber nicht tragen soll …«
»Das ist es nicht.« Er legte die Pfeife weg und ließ den Blick über das Gewand und meine Frisur wandern. »Haben Sie sich die Haare selbst hochgesteckt?«
Ich hob die Hand, um zu prüfen, ob die Haarnadeln richtig saßen. »Habe ich etwas falsch gemacht?«
»Nein.« Daniel erhob sich und bot mir den Stuhl neben dem seinen an. »Leisten Sie mir Gesellschaft?«
Als ich Platz nahm, setzte auch er sich wieder, schloss das Buch und schickte sich an, seine Pfeife auszuklopfen. Doch ich hielt ihn davon ab.
»Kein Problem. Ich habe nichts dagegen, wenn Sie rauchen.«
»Danke.« Er lehnte sich zurück. »Sie bewegen sich elegant in dem Kleid. Tragen Frauen in Ihrer Zeit noch solche Gewänder? Oder nur Hosen wie Männer?«
»Manchmal tragen wir Kleider. Wenn auch keine wie dieses.« Ich legte die Hand ausgebreitet auf die Schnürung des Oberteils.
»Ich muss gestehen, dass ich nicht weiß, was mir besser gefällt«, erklärte er mit einem Lächeln. »Wo haben Sie Ihre andere Kleidung gelassen?«
»In der Truhe in Ihrem Schlafzimmer. Unter Ihren Hemden.«
»Dort sind sie fürs Erste sicher. Aber später sollten Sie sie Fergal geben. Er weiß Verstecke in diesem Haus, die nicht einmal ich kenne.«
»Fergal scheint viele Talente zu besitzen«, bemerkte ich.
»Aye«, bestätigte Daniel. »Nur wenige können ihm das Wasser reichen. Es war seine Idee, Jack und Wilson zu sagen, dass Sie krank sind. Er hat die Rolle des Pflegers so hingebungsvoll gespielt, dass er fast sogar mich überzeugt hätte.«
»Sie sind schon lange befreundet, sagt Fergal.«
Daniel nickte. »Ja. Etwa zwanzig Jahre.«
»Dann müssen Sie beide sehr jung gewesen sein, als Sie sich kennenlernten.«
»Ich war fünfzehn und Fergal ein wenig älter, als wir in Plymouth beinahe bei der Marine gelandet wären.«
Meine geschichtsbegeisterte Mutter hatte mir einmal ausführlich geschildert, wie damals Presstrupps Dorfbewohner mit Gewalt für den harten Militärdienst rekrutierten. Die britische Marine verdankte den zahllosen Burschen viel, die sich nach einem Zechgelage plötzlich auf einem Schiff, weit entfernt vom Festland, wiederfanden.
»Ich war unerfahren und tat nicht viel mehr, als mich mit den Fäusten zu wehren«, erzählte Daniel, »doch Fergal mit seinem scharfen Verstand und seiner spitzen Zunge gelang es, uns vor dem Presstrupp zu bewahren und uns auf ein Fischerboot zu manövrieren. Noch heute hält er mich für unfähig, selbst auf mich aufzupassen. Vermutlich ist er deshalb nach wie vor hier«, meinte Daniel schmunzelnd, aber auch ein wenig nachdenklich. »Fergal öffnet sich anderen Menschen nicht leicht. Doch wer seine Zuneigung einmal erworben hat, dem bleibt sie ein Leben lang.«
»Dann können Sie sich glücklich schätzen.«
»Nicht nur ich. Wenn Fergal wütend wirkt, ist das kein Zorn, sondern Sorge um Ihr Wohlergehen. Er ist viel zu stolz, sie Ihnen zu gestehen.«
Ich nickte.
»War ich wirklich zwei Tage lang weg?«, fragte ich.
»Ja.«
Bisher hatte ich über meine Reisen in die Vergangenheit lediglich gewusst, dass ich daraus nahtlos in meine eigene Zeit zurückkehrte. Doch an diesem Ende der Gleichung schienen andere Regeln zu gelten.
Daniel, der mein Stirnrunzeln bemerkte, blinzelte. »Was ist?«
Ich erklärte es ihm, so gut ich konnte. »Das ergibt keinen Sinn«, beklagte ich mich. »Es ist nicht logisch, es …« Er lachte. »Was?«
»Verzeihen Sie meine Belustigung, aber Sie reisen durch drei Jahrhunderte, und Ihre größte Sorge ist, dass die Zeiten nicht zusammenpassen?«
»Ja, was finden Sie daran so lustig?«
»Würde ich auf der Straße nach Plymouth einem voll bekleideten Schwein mit Stiefeln begegnen, gälte mein Interesse nicht der Farbe seiner Knöpfe.«
»Ich würde nur gern begreifen, was vor sich geht.«
»Ich weiß. Aber es gibt Dinge im Leben, die unser Denkvermögen übersteigen. Warum sie sich ereignen, verstehen wir möglicherweise nie. Trotzdem passieren sie.« Seine Belustigung verwandelte sich in Neugierde. »Was würde es ändern, wenn wir es verstünden?«, fragte er.
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich nichts.«
»Sie wären immer noch hier.«
Was sollte ich darauf sagen?
Daniel klopfte die Asche aus seiner Pfeife. »Wenn ich mich nicht gegen den Wind stemmen kann«, sagte er, »muss ich mich von ihm tragen lassen, wohin er möchte.«
Er hatte recht. Manche Mächte ließen sich nicht beherrschen; das galt für Herzen und Schiffe auf See gleichermaßen. Ich sah ihn an. »Ich bin keine gute Seglerin.«
»Geduld«, riet er mir. »Vielleicht lernen Sie es noch.«