22. KAPITEL

 

»Sie halten uns gefangen!« Sabrina ging unruhig im Silberraum hin und her.

»Sie beschützen uns.« Toni öffnete eine Dose Hühnernudelsuppe und schüttete den Inhalt in einen Topf. »Der Raum ist mit Silber ausgekleidet, damit keine Vampire sich hier hereinteleportieren können.«

Sie wagte es nicht, ihrer besten Freundin zu sagen, dass sie wusste, wie man die Tür entriegelte. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war, dass Bri in White Plains frei herumlief und behauptete, sie hätte Vampire und Werpanther gesehen. Sie wäre noch vor Einbruch der Nacht wieder in Shady Oaks.

Bri ließ sich auf einen Sessel fallen. »Das ist doch verrückt.«

Toni rührte die Suppe um, während sie sich auf dem Herd erhitzte. »Wenn die Drogen erst einmal ganz abgebaut sind, fällt es dir sicher viel leichter, alles zu akzeptieren.«

»Warum sollte ich Vampire akzeptieren wollen? Und Carlos - ich glaube das einfach nicht. Ich fühle mich so hintergangen.«

»Dein Onkel war es, der dich hintergangen hat.« Toni unterdrückte die Wut, die schon seit Stunden in ihr brodelte. Erst hatte Ian versucht, sie herumzukommandieren. Dann hatte Vanda sie wie einen unwürdigen Wurm behandelt. Carlos hatte irgendwie vergessen, ihr zu sagen, dass er ein Formwandler war, obwohl sie sich ihm anvertraut hatte. Und Sabrina verhielt sich, als hätte sie ihr Leben ruiniert, statt es zu retten.

Toni knirschte mit den Zähnen. »Ich bin mir sicher, Carlos kann nichts dagegen tun, als Formwandler geboren zu sein, genauso wenig wie ich etwas dagegen tun konnte, eine uneheliche Peinlichkeit zu werden.«

Sabrina gähnte. »Daran liegt es, oder? Du kannst diese ganzen... Freaks akzeptieren, weil sie Außenseiter sind, und du hast dich auch immer als Außenseiter gefühlt.«

Sie wollte etwas einwenden, aber dann hielt sie inne. Sabrina könnte recht haben. Sie hatte sich schon immer gut in diejenigen hineinversetzen können, die sich wertlos fühlten und die nicht dazugehörten. Ians Angst, dass er die wahre Liebe wegen seiner bewegten Vergangenheit nicht verdiente - das berührte sie tief. Es weckte in ihr den Wunsch, ihm das Gegenteil zu beweisen. Und heute Nacht ihr Übereifer, sich selbst in Gefahr zu bringen, um den Vampiren zu Hilfe zu kommen - versuchte sie immer noch, zu beweisen, dass sie es wert war?

»Ich kann nicht glauben, dass du für die Untoten arbeitest", murrte Bri. »Ich meine, du wirst von Vampiren angegriffen, und dann arbeitest du für sie? Das ist Wahnsinn.«

»Es ist ein himmelweiter Unterschied zwischen den Malcontents, die uns angegriffen haben, und den Vampiren, für die ich jetzt arbeite.« Toni goss die Suppe in zwei Schüsseln und brachte sie an den Tisch.

»Beide Gruppen wirken auf mich gewalttätig.« Sabrina setzte sich an den Tisch und gähnte. »Ich bin so müde.«

»Sie haben dir starke Medikamente verabreicht.« Toni legte zwei Löffel auf den Tisch.

Bri rieb sich die Augen. »Ich kann einfach nicht glauben, dass ich gesehen habe, wie einer meiner besten Freunde sich in einen Panther verwandelt.«

»Wir versuchen, dich so schnell wie möglich wieder ins normale Leben zurückzubringen. Du brauchst deine Ausweispapiere. Weißt du, wo deine Handtasche ist? In Shady Oaks oder bei deinem Onkel?«

Bri aß etwas Suppe und dachte nach. »Ich erinnere mich kaum an etwas. Ich glaube, sie ist immer noch bei Onkel Joe zu Hause.«

»Wir holen sie dir zurück.«

Bri legte die Stirn in Falten. »Mit wir meinst du dich und diesen Vampir?«

»Ja. Ian.«

»Er hat dich herumkommandiert.«

»Er wollte nur, dass ich in Sicherheit bin.« Toni hatte zu spät bemerkt, wie verletzlich sie sein würde. In den Übungsstunden hatte sie sich immer gut geschlagen, aber die guten Vampire kämpften auch ehrenhaft. Die Malcontents verschwanden und nahmen Geiseln. »Es ist schwer, gegen Vampire anzutreten.«

»Genau.« Bri legte ihren Löffel hin. »Du kannst nicht gegen sie antreten, Toni. Du gehörst nicht in ihre Welt. Was hat dich bloß geritten, dass du dich ihnen angeschlossen hast?«

»Ich habe es für dich getan. Ich wollte einen Beweis dafür finden, dass sie wirklich existieren, damit ich belegen kann, dass du nicht unter Wahnvorstellungen leidest.«

Hatte sie es endlich begriffen? Bris Augen füllten sich mit Tränen. »Es tut mir leid. Ich mache es dir so schwer, und du warst so eine gute Freundin. Du bist immer für mich da gewesen.«

In Tonis Augen brannten ebenfalls Tränen. »Vorsicht, sonst fangen wir beide an zu heulen.«

Bri schniefte. »Es macht mir Angst, dich bei diesen Kreaturen zu sehen. Ich will dich nicht verlieren.«

»Du hast mich nicht verloren.«

Bri legte die Stirn in Falten. »Du hast gesagt, dass du ihn liebst.«

»Das tue ich.«

»Wie lange kennst du ihn? Eine Woche?«

»Ein wenig länger.« Toni hatte fertig gegessen und brachte ihre Schüssel zur Spüle.

»Aber nicht sehr lange. Kann eine Beziehung, die so schnell entstanden ist, ein Leben lang halten?«

Toni spülte ihre Schüssel aus und säuberte dann den Topf. Bris Aussagen taten weh, aber sie wusste, dass ihre Freundin sich wirklich Sorgen um sie machte. »Ich bin mir nicht sicher, wie alles funktionieren wird.« Oder ob überhaupt. »Aber ich weiß, dass ich ihn liebe.«

»Er sieht sehr gut aus, das muss man ihm lassen, aber Toni, er ist tot.«

»Nur den halben Tag.«

»Willst du ein halbes Leben?« Sabrina gähnte wieder.

»Geh schlafen. Du bist erschöpft.« Toni brachte auch ihre Schüssel zur Spüle.

»Wir arbeiten seit zehn Jahren an unserem Plan.«

»Ich weiß.« Toni spülte die Schüssel aus.

»Du kannst nicht in beiden Welten leben, Toni.«

Sie drehte sich um und sah zu, wie Bri ins Bett kroch. Das gleiche Bett, in dem sie Ian in seinem Todesschlaf betrachtet und das Grübchen in seinem Kinn berührt hatte. »Ich liebe ihn wirklich.«

»Das war ein Kapitel in deinem Leben, aber jetzt ist es vorbei", flüsterte Bri. »Genau wie die Hölle, die ich in der letzten Woche durchmachen musste. Es wird Zeit, dass wir nach vorne blicken.«

Toni schaltete das Licht aus, damit Bri schlafen konnte. Dann ließ sie sich in den Sessel fallen. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in ihrer Brust aus. Er wurde schlimmer und schlimmer, je mehr ihr die Realität bewusst wurde.

Die letzten zehn Jahre hatte sie sich an ihrer Vision, ein Waisenhaus zu gründen, festgehalten. Der Gedanke hatte sie gestützt, wenn ihr das Pensum in der Schule zu viel wurde. Er hatte ihr einen edlen Sinn und eine Identität verliehen, als sie sich unwichtig und wertlos gefühlt hatte. In ihrem Plan war nicht vorgesehen, dass Ian in ihr Leben treten oder dass in ihrem Herzen Liebe wachsen würde.

Ein paarmal während der letzten Woche hatte sie sich zwischen den zwei Welten hin- und hergerissen gefühlt - ihrer neuen Welt bei den Vampiren und ihrer alten Welt mit Bri. Als Ian ihr anbot, bei Bris Befreiungsversuch zu helfen, war das wie eine Ermutigung, als wären die zwei Welten endlich verbunden, und sie könnte beides haben.

Der Schmerz in ihrer Brust wurde schlimmer und drückte auf ihr Herz. Was, wenn die zwei Welten nie gemeinsam existieren konnten? Was, wenn man sie zwang, eine Wahl zu treffen? Wie konnte sie Sabrina im Stich lassen, nach allem, was sie gemeinsam durchgemacht hatten? Wie konnte sie Ian jemals aufgeben?

****

Es war schon später Morgen, als Toni in dem großen Bett erwachte. Sie warf einen Blick zu Sabrina, die friedlich neben ihr schlief, und fragte sich, wo Ian seinen Todesschlaf verbrachte.

Sie duschte und ließ ihre morgendlichen Gedankenübungen einfach ausfallen. Sie schienen ihr jetzt wie ein grausamer Scherz. Ja, sie war es wert, geliebt zu werden, aber das bedeutete noch lange nicht, dass es auch funktionierte. Sie zog ihre Uniform an und steckte ihr Handy in eine Hosentasche. Zeit, sich in die Höhle des Bären zu wagen. Zu ihrem Vorgesetzten.

Sie nahm den Fahrstuhl ins Erdgeschoss und ging den Flur hinab. Was für ein Bär er wohl war? Ein freundlicher, kleiner brauner Teddy oder ein riesiger Grizzly? Ein Bild tauchte in ihren Gedanken auf. Howard, leuchtend gelb und mit einer riesigen Sonne auf seinem Bauch. Sie schnaubte. Warum eigentlich nicht? Wenn Vampire echt sein konnten, konnten es die Glücksbärchis auch.

Sie ging an einigen sterblichen Angestellten vorbei, die ihrer alltäglichen Arbeit nachgingen. Soweit die Menschen hier wussten, stellten sie synthetisches Blut für Krankenhäuser her. Und das taten sie auch wirklich. Sie hatten keine Ahnung, dass die Nachtschicht aus Vampiren bestand, die Chocolood, Blood Lite, Bubbly Blood, Blissky und Blier herstellten.

Nacht und Tag. Zwei unterschiedliche Welten. Konnte es ihr gelingen, in beiden zu Leben?

Sie ging an Constantines abgeschlossenem Kinderzimmer vorbei. Sie vermisste den kleinen Kerl. An Shannas Zahnarztpraxis prangte ein Schild an der Tür: Bin im Urlaub, kehre bald zurück. Shanna, der es gelungen war, in beiden Welten zu existieren, hatte immer noch wahnsinnige Probleme damit, sich und ihre Familie zu schützen.

Toni betrat das Büro von MacKay Security. »Hi, Howard.« Stell ihn dir nicht als Bären vor. »Tut mir leid, dass ich zu spät komme.«

»Kein Problem. Du hast nichts versäumt.« Howard saß hinter dem Schreibtisch und sah genauso fröhlich aus wie immer. »Heute ist nicht viel los.«

Kein Grizzly, dachte Toni. Dazu war er zu freundlich und umgänglich. Vielleicht ein rosa Hurrabärchi. Sie setzte sich neben ihn, und schon schob er ihr die Schachtel mit den Donuts hin.

»Danke.« Toni zögerte mit der Hand schon auf halbem Weg zur Schachtel. Es gab einfache Donuts und Bärentatzen. Sie griff sich schnell einen einfachen und betrachtete dann die Monitore. Sie konnte sehen, dass Sabrina immer noch im Silberraum schlief. Phineas und Dougal hatten sich auf Doppelbetten im Wachraum ausgestreckt, und Ian lag tot wie ein Türnagel auf dem Boden. Armer Kerl. Auch wenn er den harten Boden kaum bemerken würde.

»Ich habe gehört, gestern ist es im Horny Devils hoch hergegangen.« Howard nahm eine Bärentatze aus der Schachtel.

»Ja, ziemlich haarig.« Sie zuckte zusammen und stopfte sich den Donut in den Mund, um nicht zu viel zu reden.

»Like a Virgin", sang plötzlich eine Frauenstimme.

Toni setzte sich auf und sah sich um.

Howard lachte in sich hinein. »Deine Hose singt.«

Toni sprang auf und zog das Telefon aus ihrer Tasche. Sie öffnete es und unterbrach Madonnas Behauptung, sie wäre zum ersten Mal berührt worden. Carlos' Vorstellung von einem Scherz, kein Zweifel. Er konnte auf dem ganzen Weg in die Hölle lachen. »Hallo?«

»Menina, wie geht es dir?«

»Carlos.« Toni ging durch das Büro. »Ich schwöre, ich lasse dir die Krallen ziehen.«

Er lachte. »Dann gefällt dir also dein neuer Klingelton. Wie geht es Sabrina?«

»Sie schläft noch.« Toni warf einen Blick auf den Bildschirm.

»Kannst du offen sprechen?«

»Klar. Ich bin im Sicherheitsbüro mit Howard Bär - äh, Barr.« Sie zuckte zusammen.

Nur gut, dass Howard Spaß verstand. Er nahm sich noch eine Bärentatze.

»Menina, die Polizei war gerade hier im Gebäude und hat nach dir und Bri gesucht. Sie haben bei allen Nachbarn an die Tür geklopft und sich nach euch erkundigt.«

Toni musste schlucken. »Dann glauben die, ich habe mit ihrem Verschwinden zu tun?«

»Sie verdächtigen dich. Sie haben mich auch befragt, und sie wollten meine Wohnung sehen.«

»Liebe Güte, was ist mit Teddy?«

»Keine Sorge. Ich habe ihn heute Morgen mit etwas Geld losgeschickt, damit er sich neue Klamotten kauft und die Haare schneiden lässt. Wir treffen uns um drei am Washington Square.«

»Dann geht es ihm also gut?« Toni hatte sich Sorgen gemacht, dass Teddy für die wirkliche Welt noch nicht bereit war.

»Er ist sehr glücklich. Die Polizei sucht auch nach ihm. Sie hatten Fotos von ihm und Bri dabei. Ich nehme an, das Krankenhaus macht Aufnahmen von den Patienten, wenn sie eingewiesen werden. Ich habe mich natürlich über Bris Verschwinden sehr schockiert und besorgt geäußert.«

»Gut.« Toni konnte sich genau vorstellen, wie Carlos den Polizisten eine überzeugende Show geliefert hatte.

»Sie glauben, Teddy und Sabrina könnten eine Affäre begonnen haben und gemeinsam geflüchtet sein.«

»Haben sie irgendetwas über diesen Pfleger, Bradley, gesagt?«, fragte Toni.

»Nein. Ich nehme an, dieses kleine Problem will das Krankenhaus lieber unter Verschluss halten.«

Toni sah wieder auf die Monitore. Bri schlief noch immer. »Ich habe sie wegen der Handtasche gefragt. Die ist wohl immer noch bei ihrem Onkel zu Hause.«

»Hmm.« Carlos schwieg einen Moment. »Ich könnte hinfahren und probieren, ob das Hausmädchen sie mir gibt.«

»Aber dann hätten wir immer noch das Problem, dass Onkel Joe sie zurück in die Psychiatrie schicken will.«

»Und Probleme mit der Polizei", fügte Carlos hinzu. »Ich bringe Teddy heute Nachmittag mit, und wir überlegen uns eine Strategie.«

»Okay, klingt gut.«

»Ich - ich hoffe, Bri kann ihre Angst vor mir überwinden", sagte Carlos jetzt traurig.

»Ich hoffe es auch.« Toni legte auf. Sie hoffte auch, dass Bri die Angst vor den verwaisten Werpanther-Kindern überwinden konnte. Diese armen Kinder brauchten Hilfe. Sie brauchten Akzeptanz und Liebe, damit sie sich beim Aufwachsen nicht wie Monster vorkamen, die es verdienten, genau wie ihre Eltern geschlachtet zu werden.

»Eine Wache kommt.« Howard stand auf und tapste zur Tür.

Toni bemerkte die Tagwache von Romatech auf einem der Monitore. Er hielt eine kleine goldene Schachtel in der Hand.

Howard öffnete die Tür. »Ja?«

»Das hier wurde am Eingang abgegeben. Für Toni Davis.«

»Danke.« Howard schloss die Tür und reichte Toni das Geschenk.

Sie betrachtete es misstrauisch. »Meinen die, ich falle noch mal darauf rein?«

Howard lächelte. »Das ist echt. Ich habe gesehen, wie Ian es letzte Nacht online bestellt hat.«

»Wirklich?« Sie griff nach der Schachtel und öffnete das goldene Geschenkband. In der Schachtel lag auf einem Wattebett ein wunderschönes filigranes Goldherz. Ein Strahlen stahl sich auf ihr Gesicht. Durch das filigrane Design war offensichtlich, dass sich in dem Herz nichts versteckte. Es war rein.

Im Deckel der Schachtel steckte eine Nachricht.

Meine liebste Daytona,

Du hast den Sonnenschein zurück in mein Leben gebracht.

Ian

Sie drückte die Nachricht gegen ihre Brust, und ihr Herz zog sich vor lauter Glück zusammen. In diesem Augenblick wusste sie, egal, was passierte, sie konnte nichts falsch machen, solange sie ihrem Herzen folgte.

****

Als Ian am Donnerstagabend erwachte, wies er Dougal und Phineas an, besonders wachsam zu sein. Jedrek würde nach seinem Todesschlaf vollkommen geheilt sein und plante ohne jeden Zweifel, seine beschämende Niederlage im Horny Devils zu rächen.

Während Phineas und Dougal ihre Runde im Gebäude von Romatech und auf dem Grundstück zogen, rief Ian Angus an, um ihn auf dem Laufenden zu halten und zusätzliche Wachen anzufordern. Angus war immer noch bei Jean-Luc in Texas. Da Jack und Zoltan vorhatten, bald nach Europa zurückzukehren, erklärten sie sich einverstanden, ein paar Nächte in New York zu verbringen, ehe sie sich ostwärts teleportierten. Sie würden noch vor Sonnenaufgang eintreffen.

Ein schneller Blick auf die Monitore im Sicherheitsbüro sagte ihm, wo Toni sich befand. Sie war in der Cafeteria, zusammen mit Sabrina, Carlos und Teddy. Er betrachtete den Bildschirm genau. Toni trug das Herz, das er ihr bestellt hatte.

Das war ein gutes Zeichen. Sie lachte mit Carlos und Teddy. Sabrina aß stumm und warf ab und zu einen misstrauischen Blick zu Carlos.

Laut Howard waren Carlos und Teddy vor einer Stunde eingetroffen und hatten Bewerbungsunterlagen für MacKay Security and Investigations ausgefüllt. Carlos würde eine ausgezeichnete Wache abgeben, wenn er nicht beschäftigt damit war, mehr von seiner Art aufzuspüren. Mit Teddy hatte Ian allerdings andere Pläne. Er machte kurz in Shannas Praxis halt, um eine Akte herauszuholen, und ging dann weiter zur Cafeteria.

Tonis hübsche grüne Augen leuchteten auf, als er sich ihnen näherte. Ihre Hand legte sich auf das goldene Herz auf ihrer Brust. »Danke.«

»Gern geschehen.« Er küsste sie auf die Wange und begrüßte dann die anderen.

Sabrina sah ihn neugierig an. »Er trägt einen Kilt", flüsterte sie Toni zu.

»Er ist ein Schotte aus dem Mittelalter", flüsterte Toni zurück.

»Oh.« Sabrina machte große Augen.

»Wir haben noch Nachos übrig.« Carlos zeigte auf einen Teller auf dem Tisch. »Aber ich nehme an, du hast kein Interesse.«

»Ich habe schon gegessen.« Ian setzte sich ans Ende des Tisches.

»Irgendwer, den wir kennen?« Carlos bernsteinfarbene Augen funkelten. »Autsch.« Er warf Toni einen wütenden Blick zu.

Ian lächelte, weil er den Tritt unter dem Tisch gehört hatte. »Ich trinke meistens AB positiv. Das ist meine Lieblingssorte.« Als Tonis Wangen sich zu einem hübschen Rosa verfärbten, atmete er tief ein. »Riecht an dir einfach himmlisch.«

Sie errötete noch stärker. »Du kannst einen Unterschied zwischen den Blutgruppen riechen? Und du kannst sagen, welche Gruppe jemand hat?«

»Aye.« Als Sabrina das Gesicht verzog und sich abwendete, wurde Ian klar, dass er lieber das Thema wechseln sollte. Er klopfte auf die Akte, die er aus Shannas Praxis mitgebracht hatte. »Das hier ist etwas, an dem Roman und Shanna arbeiten, seit Constantine mit drei Monaten angefangen hat zu schweben.«

Er blickte zu Sabrina und Teddy. »Ich sollte es euch wohl erklären. Roman Draganesti ist der Besitzer von Romatech und der Erfinder von synthetischem Blut.«

»Ich habe ihnen schon gesagt, wer wer ist", informierte Toni ihn.

»Und Howard hat Teddy und mir von eurem Krieg gegen die Malcontents erzählt", fügte Carlos hinzu.

»Gut.« Ian öffnete die Akte. »Roman und Shanna erwarten ein zweites Kind. Heather und Jean-Luc planen ebenfalls, Kinder zu bekommen.«

»Redest du von Kindern, die halb Vampir sind?«, fragte Sabrina und rümpfte die Nase.

»Aye. Nur so können wir Väter werden.« Ian warf einen Blick zu Toni und fragte sich, wie es ihr gefallen würde, so ein Kind zu gebären.

Ihr Blick begegnete seinem und durchdrang ihn. Wusste sie, woran er dachte? Wusste sie, wie heftig er dabei war, sich in sie zu verlieben?

Carlos räusperte sich.

Ian löste seinen Blick und zog einige große Fotos aus der Akte. Er legte sie auf den Tisch. »Das hier ist ein Anwesen im Staat New York, das Roman vor Kurzem erworben hat. Es gibt dort ein Herrenhaus, weitere Gebäude, einen Pool, Tennisplätze und hundertzwanzig Hektar Land.«

»Wow.« Teddy griff nach einem der Fotos. »Das ist riesig.«

Toni betrachtete ein Bild des Haupthauses. »Es ist schön dort.« Sie reichte das Foto an Sabrina weiter.

»Beeindruckend.« Carlos sah sich eine Luftaufnahme des ausladenden Geländes an. »Roman muss extrem reich sein.«

»Aye, aber er will damit nicht seinen Reichtum zeigen. Roman hält diesen Besitz geheim. Ihm und Shanna wurde vor einiger Zeit klar, dass die Kinder einen sicheren Ort brauchen würden, an dem sie ausgebildet und in ihren besonderen Fähigkeiten trainiert werden können.«

Teddy sah von dem Foto, das er betrachtet hatte, auf. »Ihr wollt das Haus in eine Schule verwandeln?«

»Aye.« Ian gab ihnen den Rest der Fotos. »Ihr versteht, dass die Sache streng geheim gehalten werden muss? Die Kinder, die diese Schule besuchen, sind einzigartig.«

»Was ist mit Werkindern?«, fragte Carlos. »Wären sie dort willkommen?«

»Ja.« Ian nickte. »Jedes Kind mit außergewöhnlichen Fähigkeiten. Oder einfach Kinder, die zu viel wissen. Heathers Tochter fällt in diese Kategorie.«

»Das ist so cool!« Teddy schaute sich die verschiedenen Fotos an. »Eine Schule für zukünftige Superhelden! Würden sie auf dem Campus wohnen?«

»Könnten sie.« Ian zuckte mit den Schultern. »Einige der Vampirkinder könnte man auch teleportieren, wenn sie lieber zu Hause wohnen wollen.«

»Das ist großartig.« Toni gab Sabrina ein weiteres Foto. »Ich kann es kaum abwarten, dir Constantine vorzustellen. Er ist so klug und süß. Und er kann schon schweben und sich teleportieren.«

Sabrina blieb stumm und starrte die Fotos an.

»Sieh dir das an.« Carlos zeigte auf das Foto, auf dem ein See zu sehen war. »Dort gibt es eine Insel. Die wäre perfekt für meine Kinder. Dort könnten sie ihre Fähigkeiten als Panther ausprobieren, ohne die anderen Kinder in Gefahr zu bringen.«

Toni beugte sich vor. »Das ist eine ausgezeichnete Idee.«

»Das größte Problem, vor dem Roman und Shanna stehen", fuhr Ian fort, »ist es, Lehrer und Verwalter zu finden, denen man vertrauen kann.«

»Ich bin dabei", sagte Teddy.

»Ich ebenfalls", sagte Carlos. »Ich würde nichts lieber tun, als meine Waisen dorthin zu bringen.«

Ian sah Toni fragend an. »Was meinst du?«

»Ich meine, es war sehr klug von Shanna und Roman, so weit im Voraus zu planen. Ich glaube nicht, dass Tino an einer normalen Schule glücklich würde.« Sie wendete sich an Sabrina. »Es wäre interessant, so eine Einrichtung zu leiten, meinst du nicht?«

Sabrina stapelte die Fotos langsam. »Es ist ein schöner Ort. Eine interessante Idee.« Sie sah Toni besorgt an. »Aber das war nicht der Plan. Wir wollten Kindern helfen, die obdachlos sind, die hungern und Not leiden müssen. Dieser Constantine hat einen Milliardär zum Vater, der sich um ihn kümmern kann. Was ist mit den Kindern, die niemanden haben? Wir können ihnen nicht den Rücken kehren, nur weil diese Mutantenkinder spannender sind.«

Tonis Wangen röteten sich. »Nenn sie bitte nicht Mutanten.«

Sabrina kniff die Augen zusammen. »Du willst doch nicht etwa selbst welche bekommen?«

Eine unangenehme Stille legte sich über die Runde. Ian betrachtete Toni aufmerksam, aber sie vermied es, seinen Blick zu erwidern. Ihre Wangen röteten sich noch mehr. War es ihr peinlich, mit ihm zusammen zu sein?

Sabrina schob den Stapel Fotos von sich. »Das ist zwar bewundernswert, aber nicht unser Plan. Toni und ich haben an unserem eigenen zehn Jahre lang gearbeitet.«

Toni schloss mit einem schmerzverzerrten Ausdruck im Gesicht die Augen. In Ians Innerem breitete sich Panik aus. Was, wenn sie sich entschied, die Vampirwelt vollkommen hinter sich zu lassen? Was, wenn sie ihn verließ?

Er nahm die Fotos an sich. »Es gibt dort hundertzwanzig Hektar Land. Wir können mehr Gebäude bauen. Wir müssen keine Kinder wegschicken.«

Endlich sah Toni ihn an. »Du meinst, wir könnten dort auch ein normales Waisenhaus bauen?«

Ian nahm ihre Hand. »Wir müssten erst alles mit Roman absprechen. Aber ich will, dass du beide Welten behalten kannst. Du solltest dich nicht für die eine oder die andere entscheiden müssen.«

In ihren Augen schimmerte es feucht. »Das wäre so schön.«

»Sieh dir das Feld neben dem Herrenhaus an.« Carlos zeigte Sabrina ein Foto. »Das wäre das perfekte Fußballfeld.«

Sabrina atmete tief ein. »Ich sehe schon, wo deine Prioritäten liegen.«

»Komm schon, Sabrina.« Teddy beugte sich vor. »Das ist die coolste Möglichkeit aller Zeiten.«

Sie seufzte. »Ich denke darüber nach. Ich brauche noch Zeit, um mich... an alles zu gewöhnen.« Sie warf Carlos und Ian einen misstrauischen Blick zu. »Und ich muss noch ein Jahr aufs College. Das heißt, falls ich dorthin zurückkann, ohne dass mein Onkel sofort versucht, mich einzusperren.«

»Darüber haben wir uns unterhalten, ehe du gekommen bist.« Toni nahm sich Chips vom Teller und biss hinein. »Wir müssen Bris Handtasche aus dem Haus ihres Onkels holen und ihn irgendwie davon überzeugen, dass er sie und ihr Geld in Ruhe lassen soll.«

Carlos griff nach dem Salzstreuer und streute mehr Salz auf die Chips. »Die Polizei ist heute vorbeigekommen und hat nach Bri, Teddy und Toni gesucht. Wir müssen die Sache klären, ehe irgendwer von uns verhaftet wird.«

Während er die Fotos zurück in die Akte schob, dachte Ian nach. »Wo lebt dieser Onkel?«

»Westchester.« Carlos verdrückte eine Handvoll Chips. »Ich war schon mal da. Ich glaube, ich könnte das Hausmädchen dazu bringen, mir Bris Sachen auszuhändigen.«

»Ich sollte selbst gehen", murmelte Sabrina tapfer.

Ian schüttelte den Kopf. »Nay, du bist sicherer hier mit Teddy.« Er stand auf. »Carlos, fahr du Toni zum Haus dieses Onkels. Dann ruft mich an und ich teleportiere mich zu euch. Ich muss vorher noch etwas erledigen.«

»Was?«, fragte Toni. »Was hast du vor?«

»Ich habe mein Cape in Schottland gelassen. Aber Roman hat im Stadthaus ein Vampircape und einen Smoking. Ich muss mir erst ein Kostüm anziehen.«

Toni riss die Augen auf. »Kostüm?«

Teddy grinste. »Cool! Ich habe immer gesagt, du brauchst ein Cape.«

Sabrina runzelte die Stirn. »Was hast du mit meinem Onkel vor?

»Keine Sorge. Ich werde keine Gewalt anwenden.« Ian lächelte. »Aber ich glaube, deinem Onkel wird seine Begegnung mit Graf Dracula trotzdem keinen Spaß machen.«