14. KAPITEL
Ein klingelndes Geräusch riss Toni aus dem Schlaf. Wo war sie? Oh ja richtig, der Silberraum bei Romatech Industries.
Ein Lichtblitz lenkte sie ab, und sie erstarrte, als sie merkte, dass sie nicht allein im Zimmer war. Dann erkannte sie den rotgrünen Kilt, die breiten Schultern und den Pferdeschwanz, der sich an den Spitzen lockte.
Das rote Licht des Ausgangsschildes warf einen düsteren Schein auf den Raum. Ian zog eine Flasche Blut aus der Mikrowelle. Das musste das Klingeln gewesen sein. Sie warf einen Blick auf den Nachttisch. Zeit, aufzustehen und sich für die Arbeit fertig zu machen. Das Rascheln der Laken, als sie sich aufsetzte, zog Ians Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich zu ihr um.
»Oh, ich wollte dich nicht aufwecken.«
»Ist schon gut. Ich muss sowieso aufstehen.«
»Wenn du willst, kannst du ausschlafen.«
Sie ließ sich sofort auf das Bett zurückfallen. »Oh Gott, ja.«
Er lachte leise. »Wir werden am Tag alle hier sein. Es gibt im Keller ein paar Schlafzimmer, alle mit Überwachungskameras. Howard ist im MacKay-Büro und wacht über uns.«
Toni sah hinauf zur Kamera in der Ecke. Das rote Licht zeigte an, dass sie eingeschaltet war.
»Es gibt ein zweites Büro für die Tagwache", fuhr Ian fort. »Sie überwachen die sterblichen Angestellten und das Gebäude. Ich habe gehört, dass es oben tagsüber ziemlich geschäftig zugeht. Jede Menge Sterbliche, die synthetisches Blut herstellen, es in Flaschen abfüllen und an Krankenhäuser und Blutbanken versenden.«
»Macht ihr euch keine Sorgen, dass die sterblichen Angestellten über einen Vampir im Todesschlaf stolpern?«
»Die Sterblichen haben keinen Zugang zum Keller. Man braucht einen besonderen Kartenschlüssel, damit der Fahrstuhl bis hier hinabfährt und um das Treppenhaus zu betreten. Ich habe für dich einen auf den Tisch gelegt.«
»Habe ich irgendwas verpasst, während ich geschlafen habe?«
Gelangweilt zuckte er mit den Schultern. »Das Stadthaus ist angegriffen worden.«
»Was?« Sie setzte sich auf. »Die Malcontents waren dort?«
»Aye. Phineas hat einen umgebracht. Er war sehr stolz auf sich. Jedrek hat versucht, sich mit mir zu teleportieren, aber ich habe ihm eine Stichwunde in den Arm verpasst und mich befreit.«
»Liebe Güte", flüsterte Toni. Das war furchtbar. »Geht es dir gut?«
»Aye.« Ian trank seine Flasche leer und spülte sie aus. »Heute Nacht werden sie sicher einen neuen Angriff starten, also solltest du dich ausruhen, solange du kannst.«
»Okay. Ich gehe nur kurz ins Badezimmer.« Als sie fertig war, schloss sie die Tür hinter sich. Ihre Augen mussten sich erst wieder an die in rotes Licht getauchte Dunkelheit gewöhnen. Ian war nicht mehr in der Küche.
Als sie sich wieder hinlegen wollte, bemerkte sie ihn. Er lag auf der anderen Seite des Bettes auf den Decken und trug immer noch seinen Kilt, ein weißes T-Shirt und Kniestrümpfe.
»Was machst du da?« Sie sah sich im Zimmer um.
Es gab nur ein Bett. Vielleicht konnte sie die Sessel zusammenschieben und sich dort...
»Ich werde dich nicht belästigen, Toni. Bald bin ich nicht einmal mehr in der Lage, mich zu bewegen.« Er faltete seine Hände auf seinem Bauch und sah zur Decke. »Auch wenn ich natürlich hoffe, dass du dich nicht an mir vergehst, solange ich mich nicht verteidigen kann.«
Sie schnaubte. »Klar. Weil es kaum etwas Unwiderstehlicheres gibt als eine Leiche.«
Als er sie ansah, musste er lächeln. »Wenn es dir nicht gefällt, neben mir zu schlafen, kann ich mich auch auf den Boden legen. Wenn ich erst mal tot bin, merke ich keinen Unterschied mehr.«
»Ich hatte schon Freunde, die ungefähr genauso sensibel waren", murmelte sie, während sie mit sich selbst rang, ob sie sich neben ihn legen sollte oder nicht.
Gähnend schloss er die Augen. »Bald bin ich weg.«
Sie setzte sich auf die Bettkante. »Tut es weh?«
»Zu wissen, dass eine wunderschöne Frau neben mir liegt und ich sie nicht anfassen kann?« Er öffnete seine Augen, die jetzt belustigt funkelten. »Das ist die reinste Folter. Aber nicht mehr lange.«
»Ich meinte, tut es weh, jeden Morgen zu sterben?«
Er lag da und ließ seinen Blick langsam über ihren Körper wandern, als wollte er sich jedes kleinste Detail für immer einprägen. Ihre Haut kribbelte bei diesem Blick. Gerade als sie dachte, er würde nicht antworten, begann er leise zu sprechen: »Es ist, als würde man in ein schwarzes Loch fallen, so schwarz und tief, dass dort kein Licht hinkommt, keine Gefühle, keine Gedanken.« Er blinzelte langsam, und das Funkeln in seinen Augen verblasste. »Ich wünschte, ich könnte träumen.«
»Von was würde ein Vampir träumen? Riesigen Fässern voller Blut? Einem glänzenden neuen Sarg mit Lederbezügen?«
»Nay, ich hätte einen herrlichen Traum.« Der Anflug eines Lächelns umspielte seine Lippen, als seine Augen sich schlössen. »Von dir.« Sein Gesicht erschlaffte.
Mir? Tonis Herz überschlug sich. Er würde von ihr Träumen? Sie beugte sich vor, um ihn zu betrachten. »Bist du schon tot?«
Es kam keine Antwort. Er lag einfach da, der atemberaubendste Mann, den sie je kennengelernt hatte. Ihr Blick ruhte auf dem Grübchen in seinem Kinn. Neulich hatte sie es berühren wollen. Sie hatte die Hand ausgestreckt, aber dann doch nicht den Mut gehabt.
Jetzt hätte sie den Mut. Aber nicht die Gelegenheit. Sie blickte zur Überwachungskamera hinauf. Howard durfte nicht sehen, wie sie Ians Gesicht berührte.
Sie schlüpfte unter die Decke und legte sich auf den Rücken neben ihn. Gott steh' ihr bei, sie wollte sich gegen seinen toten Körper kuscheln. Das war auf so viele verschiedene Arten falsch.
Sie rollte sich zur Seite und kehrte ihm den Rücken zu. So falsch. Und doch fing es an, sich richtig anzufühlen.
****
Gott sei Dank arbeitete Sonntagabend eine andere Rezeptionistin bei Shady Oaks. Toni hatte sich Sorgen gemacht, dass Doris dort sein und sich an ihre Sexsuchtgeschichte erinnern würde. Sie versuchte, etwas anders auszusehen, indem sie ihre Brille aufsetzte, statt Kontaktlinsen zu tragen, und sich eine Strickmütze über die blonden Haare zog.
Carlos hatte sie bei Romatech abgeholt. Die Sonne stand noch am Himmel und Howard hatte ihr versichert, bestens aufzupassen, also konnte sie gehen. Trotzdem spürte sie wieder das unangenehme Gefühl der Zerrissenheit. Ian hatte geglaubt, die Malcontents würden noch einmal angreifen. Sie hasste es, ihnen nicht helfen zu können, wenn es so weit war.
»Wir möchten Sabrina Vanderwerth besuchen", verkündete sie nun an der Rezeption.
»Sie müssen sich hier eintragen und dieses Formular ausfüllen.«
Währen Carlos sie in die Liste eintrug, füllte Toni schnell das Formular aus, inklusive Sabrinas Namen und ihrer Identifikationsnummer.
Die Rezeptionistin verglich das Formular mit ihren Akten, den gleichen Akten, in die Toni am Abend zuvor geblickt hatte. »Ich brauche Ihre Ausweise.« Sie studierte ihre Führerscheine und füllte dann Namensschilder für sie aus.
»Ich behalte Ihre Ausweise hier, bis Sie zurückkommen und sich abmelden.« Sie reichte ihnen die Namensschilder zum Anknipsen. »Die hier müssen Sie die ganze Zeit tragen. Sie dürfen nichts Persönliches, keine Nahrungsmittel oder Getränke auf die Station mitnehmen. Verstanden?«
»Ja.« Toni ging bereits auf die Aufsicht zu, die ihre Handtasche durchsuchte und sie und Carlos abtastete.
Er schloss die Tür auf. »Folgen Sie dem Weg über den Hof, und dann nach rechts zu Station drei.«
Während sie den Hof überquerten, sah Toni sich um. In jedem Gebäude stand eine Aufsicht. Es war unheimlich. Das ganze Gebäude wirkte wie ein Gefängnis.
Carlos öffnete ihr die Tür zu Station drei und folgte Toni dann in ein kleines Foyer. Die Aufsicht dort überprüfte ihre Namensschilder und nahm ihre Anträge, die in eine Metallschublade gesteckt wurden. Sie war direkt mit der Schwesternstation verbunden, die ganz in Glas eingefasst war.
»Legen Sie Ihre Mäntel und Ihre persönlichen Dinge in diese Kiste.« Die Aufsicht zeigte auf einige Plastikkisten auf einem Tisch.
Während sie die Kisten füllten, betrat ein stämmiger Krankenpfleger die Schwesternstation und betrachtete ihre Formulare. »Kommen Sie an die Tür", sprach er durch eine Gegensprechanlage.
Ein Brummen erklang, und die Metalltür öffnete sich.
Der Krankenpfleger bedeutete ihnen einzutreten. Toni bemerkte, dass auf seinem Namensschild Bradley stand. Und der Flur roch nach Desinfektionsmitteln und Verzweiflung.
»Besuch für mich?«, fragte ein junger Mann, der auf Cordhausschuhen über den Flur auf sie zuschlurfte. Sein Spiderman-Pyjama war zerknittert, und die rote Farbe zu Rosa ausgewaschen.
»Die sind nicht wegen dir hier, Teddy", knurrte Bradley. »Geh zurück in euren Aufenthaltsraum.«
»Okay.« Teddy fuhr mit der Hand durch sein dunkles Haar, das in der Mitte einen weißen Streifen hatte, und ihn wie ein Stinktier aussehen ließ. Er schlurfte den Flur wieder hinab.
»Hier entlang.« Bradley führte sie nach rechts. »Sabrina dürfte sich im Aufenthaltsraum für Frauen befinden. Wir trennen hier nach Geschlechtern, außer zu den Mahlzeiten. So ist es besser, weil wir immer mal einen Sexsüchtigen dabei haben.«
Toni zuckte zusammen.
»Hier sind wir.« Bradley zeigte auf einen offenen Bereich und schlenderte dann den Flur wieder hinunter.
Eine Krankenschwester saß hinter einem Tresen und beobachtete alles. In der Mitte des schlichten weißen Raumes standen zwei Tische, umgeben von orangefarbenen Plastikstühlen. Noch mehr Plastikstühle standen an den Wänden. Ein Fernseher, hoch in einer Ecke angebracht, spielte einen Zeichentrickfilm, bei dem der Ton ausgestellt war. Die Luft war stickig und warm. Erdrückend.
Zwei Frauen mittleren Alters saßen an der Wand, dem Fernseher gegenüber, und starrten ihn gebannt an. Die Hand der einen zuckte immer wieder, und der Mund der anderen stand offen. Ihre Augen sahen tot aus. Tonis Herz zog sich in ihrer Brust zusammen.
In der Ecke saß eine junge Patientin neben einem männlichen Besucher, vielleicht ihrem Mann? Beide waren stumm, als wüssten sie nicht mehr, was sie miteinander reden sollten.
Als sie Sabrina entdeckte, brach ihr das Herz. Sie trug einen Flanellpyjama und ein blaues T-Shirt. Ihr Haar, normalerweise weich und glänzend blond, war stumpf und kraus. Sie saß an einem Tisch, baumelte mit den Füßen und betrachtete eine Zeitschrift. Ihre Sneaker hingen lose an ihren Füßen. Die Schnürsenkel hatte man entfernt.
Beim Nähertreten bemerkte sie, dass es keine Zeitschrift war, die Sabrina sich ansah, sondern ein Malbuch. Sie blätterte die Seiten um, bis sie eine fand, die noch nicht ausgemalt war.
Dann zog sie einen abgebrochenen pinkfarbenen Wachsmalstift aus einer Plastikdose und begann zu malen.
Das sollte eine Topstudentin an der NYU sein, die es die letzten sechs Semester immer auf die Liste der besten Studenten ihres Jahrgangs geschafft hatte? Toni schloss fest ihre Augen. Ich werde nicht vor ihr weinen. Ich werde stark sein.
»Ich könnte ihren Onkel umbringen", flüsterte Carlos.
Toni atmete tief durch und zwang sich zu einem Lächeln. »Hi, Sabrina!«
Bri drehte sich ihnen zu. Ihr Gesicht war ausdruckslos, dann blinzelte sie. »Toni! Carlos!« Sie stand auf. »Ihr kommt mich besuchen.«
»Natürlich.« Toni umarmte sie. »Wir haben uns solche Sorgen um dich gemacht.«
»Du siehst gut aus, Menina.« Carlos umarmte sie und setzte sich ihr dann am Tisch gegenüber.
Toni setzte sich neben sie. »Wie geht es dir?«
»Okay.« Bri streckte ihren Arm aus, um ihnen das blaue Plastikband um ihr Handgelenk zu zeigen. »Sie haben mich zu Blau befördert. Ich bin so froh, dass ich nicht mehr Gelb bin.«
»Was stimmt nicht mit Gelb?«, fragte Toni.
»Das ist für selbstmordgefährdete Patienten.« Bri nahm einen grünen Stift aus der Dose. »Nicht, dass ich das je war.«
»Das ist gut", flüsterte Toni.
»Sie stufen nur erst mal jeden als selbstmordgefährdet ein, der herkommt", erklärte Bri ihnen.
»Ich frage mich, warum", murmelte Carlos und sah sich im tristen Raum um.
»Ich war so einsam", fuhr Bri fort. »Ich musste alle Mahlzeiten allein essen, und ich musste hier alleine rumsitzen, während die anderen in der Turnhalle waren.«
»Hi, Sabrina.«
Sie drehten sich um und sahen Teddy, der langsam in den Raum geschlurft kam.
Er legte den Kopf schief. »Du hast Besuch?«
»Teddy!« Bradley kam auf ihn zu marschiert. »Wie oft soll ich dir noch sagen, dass du im Raum für die Männer bleiben musst?«
»Okay.« Teddy schlurfte den Flur wieder zurück.
»Bekloppter Irrer", murmelte Bradley, während er ihm folgte.
»Ich bin nicht irre", widersprach Teddy.
Sabrina machte sich wieder ans Ausmalen, als wäre alles ganz normal. »Ich habe Teddy heute beim Essen getroffen. Ich glaube, er ist einsam. Niemand kommt ihn je besuchen.« Sie lächelte Toni an. »Ich bin froh, dass du gekommen bist.«
Ich werde nicht weinen. Toni lächelte zurück. »Ich bin auch froh.«
»Teddy ist nicht verrückt", flüsterte Bri. »Er ist nur sehr traurig. Er hatte einen Autounfall mit seiner Freundin, und sie ist dabei ums Leben gekommen. Er war der Fahrer, deswegen fühlt er sich schuldig.«
Niemand verstand diese Situation besser als Toni. »Es ist schlimm, wenn man denkt, man hätte jemanden, den man liebt, im Stich gelassen.« Mit Sabrina sollte ihr das nie passieren. »Wir wollen dich wieder nach Hause holen.«
»Ich versuche, gesund zu werden. Ich habe Wahnvorstellungen.«
»Hast du nicht", sagte Toni mit Nachdruck.
»Ich muss es aber zugeben, wenn ich will, dass es mir besser geht. Das sagt der Therapeut. Macht auch nichts, hier haben viele Leute Wahnvorstellungen.« Bri lächelte. »Sogar einige der Aufsichten. Letzte Nacht haben sie gesagt, auf dem Hof läuft eine riesige schwarze Katze herum.«
Toni warf einen Blick zu Carlos, aber sein Gesicht blieb ausdruckslos.
Bri nahm einen lila Stift aus der Dose. »Ich muss Jasmins Haar lila malen. Die haben alle schwarzen Malstifte weggenommen, weil sie zu deprimierend sind.«
Es fiel Toni verdammt schwer, die Ruhe zu bewahren. Wie sollte man an diesem Ort bleiben und nicht depressiv werden? »Bri, ich habe getan, was du gesagt hast. Ich war im Central Park, um zu sehen, ob mich dort Vampire angreifen.«
Während sie weitermalte, schüttelte Bri den Kopf. »Vampire sind nicht echt.«
»Du hast recht", sagte Carlos schnell und sah Toni dann durchdringend an, als sie unterbrechen wollte. »Du solltest deinem Onkel sagen, dass du einen Fehler gemacht hast. Du warst von dem Angriff einfach traumatisiert. Aber jetzt geht es dir besser, und er sollte dich hier rauslassen.«
Diese Strategie konnte nicht gelingen, das wusste Toni. Bri brauchte das Okay ihres Onkels, um entlassen zu werden, und das würde er nie geben.
Bri ließ den lila Stift zurück in die Dose fallen. »Onkel Joe will, dass ich hierbleibe, bis ich richtig auf die Medikamente eingestellt bin. Das dauert wohl noch ein paar Wochen.«
Oder für immer, dachte Toni ironisch. Solange Onkel Joe Bris Zukunft in der Hand hatte, gab es keine mehr für sie.
Sie hatte unbedingt die Existenz von Vampiren beweisen wollen, um Bri zu helfen. Und jetzt zweifelte sie daran, ob Onkel Joe überhaupt irgendeinen Beweis akzeptieren würde. Es lag einfach nicht in seinem Interesse, Sabrina je aus diesem Krankenhaus zu entlassen.
Während die Minuten verstrichen, wuchs in Toni die Panik. Carlos erkundigte sich nach dem alltäglichen Leben hier, zum Beispiel, was es zum Abendessen gegeben hatte. Toni fiel es sogar schwer zu atmen.
»Möchtest du das Bild?«, fragte Bri, als sie mit dem Ausmalen fertig war.
»Ja.« Toni zwang sich zu einem Lächeln.
Bradley kam zu ihnen und verkündete: »Besuchszeit ist vorbei.«
»Morgen machen wir Weihnachtsstrümpfe und stellen einen Baum auf.« Bri gab Toni das Bild. »Kannst du wiederkommen?«
»Natürlich. Ich meine, ich versuche es.« Es war ziemlich wahrscheinlich, dass Onkel Joe ihr den Zugang verweigern würde, sobald er ihren Namen auf der Besucherliste entdeckte.
»Gehen wir.« Bradley machte eine ungeduldige Handbewegung.
Das Paar in der Ecke trennte sich. Der Mann eilte den Flur hinab. Die Frau sank in ihren Stuhl und begann, stumm zu weinen.
»Hier entlang bitte.« Bradley starrte sie wütend an.
Toni umarmte ihre Freundin und eilte dann schnell fort, ehe Bri die Tränen in ihren Augen sehen konnte. Sie folgte Carlos zurück ins Foyer und zuckte zusammen, als die schwere Metalltür sich mit einem endgültigen Klicken hinter ihnen schloss.
Sie zogen langsam ihre Mäntel an und sammelten ihre Sachen zusammen, sodass der andere Besucher vor ihnen gehen konnte. Einige Minuten, nachdem er das Gebäude verlassen hatte, machten sie sich auf den Weg über den Hof.
Die kalte Luft war wie eine Ohrfeige in ihren Gesichtern und brachte ein Gefühl der Dringlichkeit mit sich. »Wir müssen sie hier rausholen", flüsterte sie.
»Ich weiß", antwortete Carlos. »Ich versuche schon den ganzen Abend, mir einen Plan zu überlegen.«
»Ihr Onkel lässt sie nie raus.« Tonis Stimme wurde vor Panik immer lauter. »Wir müssen sie...«
»Schh", warnte Carlos sie. Er zeigte auf eine Eiche und den dicken Ast, der über die Mauer reichte. »Ich könnte versuchen, sie auf den Baum zu bekommen, aber wie schaffen wir sie von dieser Station weg? Das verdammte Haus ist besser verschlossen als der Keuschheitsgürtel einer Nonne.«
»Wir müssen irgendwas tun.«
»Ich finde keinen Weg hier raus.«
Sie packte Carlos am Arm. »Sag das nicht! Es muss einen Weg geben.« Sie mussten nur an den Wachen und den verschlossenen Türen vorbei. »Oh meine Güte, ich weiß, wie wir es schaffen können.«
»Wie?«, fragte Carlos.
»Wir teleportieren sie hier raus.«
»Das können wir nicht.«
»Aber wir kennen jemanden, der es kann.«
»Du willst diesen Vampir fragen, diesen Ian?«, fragte Carlos. »Und du bist dir sicher, dass man ihm vertrauen kann?«
»Ich glaube schon. Ich hoffe es.« Er hatte angeboten, ihr zu helfen. Und je länger Toni darüber nachdachte, desto sicherer war sie sich, dass es der einzige Weg war.
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Toni bestand darauf, dass Carlos sie direkt zurück zu Romatech fuhr. Es war dunkel, als sie ankamen. Die Wache am Eingang erkannte sie und winkte sie durch.
Carlos stellte das Auto neben der Eingangstür ab. »Ich weiß, dass du mit Ian allein sprechen willst, aber halt mich auf dem Laufenden. Wir müssen die Sache sorgfältig planen.«
»Okay.« Sie zog ihre Strickmütze ab und fuhr sich durch die Haare. Sie wollte für ihr Gespräch mit Ian ordentlich aussehen.
»Wenn Bri erst mal raus ist, müssen wir einen sicheren Platz für sie finden. Wir können sie nicht einfach zurück in ihre Wohnung bringen.«
»Warum nicht?« Toni steckte ihre Brille in ihr Etui und ließ es in ihre Handtasche fallen. In der Ferne sah sie alles etwas verschwommen, aber für ein Gespräch von Angesicht zu Angesicht würde es reichen. Sie klappte den Blendschutz hinab, um sich im Spiegel zu betrachten.
»Toni, ihr Onkel wird vielleicht den Verdacht hegen, dass wir hinter ihrem Verschwinden stecken, und uns wegen Entführung anzeigen.«
Daraufhin zögerte sie. Sie klappte den Blendschutz wieder hoch. »Aber Bri würde doch freiwillig mitkommen.«
»Bist du sicher? Nach allem, was sie durchgemacht hat, glaubst du, sie vertraut dem nächsten Vampir, der ihr über den Weg läuft?«
»Na ja, ich habe das gemacht. Allerdings hatte ich einen guten Grund dazu. Ich habe versucht, Bri zu helfen.« Wieder drohten Tränen zu fließen. »Wir müssen sie da einfach rausholen.«
»Das finde ich auch. Mir gefällt nicht, was diese Medikamente aus ihr machen. Sie hat allen Willen zu kämpfen verloren. Sie ist nicht mehr sie selbst.«
»Ich weiß.« Toni atmete zitternd ein. Sie hatte ihre Gefühle kaum noch unter Kontrolle.
Carlos tätschelte ihren Arm. »Das wird schon wieder, Menina.« Er warf einen Blick in den Rückspiegel. »Was zur Hölle ist das?«
Toni blickte über ihre Schulter. Der Parkplatz war gut ausgeleuchtet, und sie entdeckte einen kleinen Mann, gut verpackt gegen die Kälte, der auf die Eingangstür von Romatech zustapfte. Er hatte eine große schwarze Mülltüte über einer Schulter. »Er trägt irgendwas Sperriges.«
»Er?« Carlos sah nach hinten und dann wieder in den Spiegel. »Er taucht im Spiegel nicht auf. Ich sehe nur einen Sack, der durch die Luft schwebt.«
»Echt?« Toni klappte den Blendschutz hinunter, um in den Spiegel zu sehen. Tatsächlich, der Müllsack bewegte sich von allein. »Das sieht so merkwürdig aus. Er muss ein Vampir sein.«
Sie saßen im Wagen und sahen zu, wie der kleine Mann durch die Eingangstür ging.
»Ich frage mich, was in der Tüte ist", murmelte Toni.
Carlos hob die Augenbrauen. »Eine Leiche?«
Toni gab ihm einen Klaps. »Diese Vampire sind nicht so.«
»Du kennst sie seit einer Woche, Toni. Woher willst du wissen, zu was sie fähig sind?«
»Sie haben mich gerettet, als ich in Schwierigkeiten war. Lass uns einfach hoffen, dass sie Sabrina auch retten können.« Sie öffnete ihre Wagentür und stieg aus. »Ich rufe dich morgen an.«
Carlos winkte und fuhr dann zurück zum Eingangstor.
Das große Foyer, das sie jetzt betrat, war mit glänzenden Marmorböden und riesigen Topfpflanzen ausgestattet, in denen sich Überwachungskameras und Metalldetektoren versteckten. Sie bog in den linken Korridor ein und ging zum Büro von MacKay Security.
Der kleine Vampir mit dem vollen Müllsack war auf halbem Weg den Gang hinab. Er blieb an der Tür stehen und gab eine Nummer in das Tastenfeld ein.
Die Tür gegenüber öffnete sich, und Shanna kam heraus. »Laszlo! Wie schön, Sie zu sehen.«
»Mrs. Draganesti.« Der kleine Mann verbeugte sich leicht. »Wie geht es Ihnen?«
»Ganz gut.« Sie ging näher zu ihm. »Was haben Sie mitgebracht?«
Er öffnete die Tüte, und sie spähte hinein.
»Laszlo, die sind wunderbar! Danke!«
Er wurde rot. »Ich sollte jetzt hineingehen.« Er beeilte sich, mit seinem mysteriösen Sack durch die Tür zu kommen.
Was zum Henker ging hier vor? »Was ist los?« Toni ging auf die verschlossene Tür zu.
»Toni!« Shanna umarmte sie. »Hast du schon meine Praxis gesehen?« Sie zeigte auf die Zahnarztpraxis gegenüber.
»Nein.« Es schien so, als wollte Shanna das Thema wechseln.
»Du musst dir noch einen Termin holen", fuhr Shanna fort. »Jeder Angestellte von MacKay bekommt jedes Jahr zwei Gratisuntersuchungen. Na ja, nicht gratis. Angus bezahlt dafür. Hast du Angus schon kennengelernt?«
Sie versuchte auf jeden Fall, das Thema zu wechseln. »Nein, habe ich nicht.«
»Hi, Mommy! Hi, Toni!«, rief Constantine.
Toni entdeckte ihn etwa einen Meter über dem Boden schwebend in dem Zimmer neben Shannas Praxis. Das musste sein Spielzimmer sein. Die Tür war zweiteilig und die untere Hälfte verschlossen. Damit Constantine auf den Flur sehen konnte, musste er seine Schwebekünste einsetzen.
»Hi, Constantine.« Toni spähte in sein Zimmer. Es war voller Spielzeug, Bücher, Plüschtiere, einem Doppelbett und einigen bequemen Sesseln. »Wow, du hast eine Menge Kram.«
»Das kannst du laut sagen", murmelte Radinka und stellte ein paar Bücher zurück ins Regal. »Ihr zwei solltet euch beeilen, sonst kommt ihr zu spät zur Messe.«
»Okay.« Shanna beugte sich über die Tür, um ihren Sohn zu umarmen. »Ich komme später wieder, Spatz.« Sie ging den Korridor hinab, blieb aber noch einmal stehen, als Toni ihr nicht folgte. »Kommst du nicht mit?«
»Es tut mir leid, aber ich muss mit Ian sprechen.« Toni zeigte auf das Sicherheitsbüro.
»Howard ist der Einzige, der im Moment da ist.« Shanna kam näher. »Die Vampire sind in der Kapelle, um dort alles zu sichern. Sie fürchten, die Malcontents werden heute Nacht einen Anschlag versuchen.«
»Was zum Beispiel?«
Shanna seufzte. »Letzten Sommer haben sie unsere Kapelle hochgejagt. Zum Glück befand sich gerade niemand darin.«
»Das ist ja furchtbar.«
»Ja.« Shanna sah zum Spielzimmer und senkte ihre Stimme. »Deshalb lasse ich Tino bei Radinka im Spielzimmer. Nur für den Fall. Komm. Du musst Father Andrew kennenlernen. Er ist toll.«
Toni folgte ihr den Korridor hinab bis ins Foyer. »Ich weiß nicht, ob ich gehen sollte. Ich bin nicht katholisch erzogen worden.«
Shanna grinste. »Ich auch nicht. Aber diese Vampire sind alle so mittelalterlich, dass sie nichts anderes kennen. Wusstest du, dass mein Mann früher Mönch war?«
»Das wusste ich nicht.« Toni folgte Shanna in den rechten Flügel. Sie fragte sich, wie alt Ian genau sein mochte, aber sie wollte keine Aufmerksamkeit auf ihr Interesse an ihm lenken. »Sind alle aus dem Mittelalter?«
»Nein. Gregori ist noch jung. Roman hat ihn 1993 verwandelt, als ein paar Malcontents ihn draußen auf dem Parkplatz angegriffen haben. Der arme Kerl hatte gerade seine Mutter von der Arbeit abgeholt.«
»Wie traurig.« Aber das erklärte immerhin, wieso er eine sterbliche Mutter hatte, die noch am Leben war. »Was ist mit Connor und... Ian?«
»Sie wurden nach irgendeiner Schlacht in Schottland um 1500 herum verwandelt. In der gleichen Nacht, deshalb haben sie sich immer nah gestanden. Roman hat Connor verwandelt, und Angus Ian.«
»Wollten sie verwandelt werden?«, fragte Toni.
»Oh ja. Sie waren beide tödlich verwundet. Entweder Verwandlung oder Tod.« Shanna betrat einen Raum auf der rechten Seite. »Das ist unser Gemeinderaum, wo wir uns nach der Kirche treffen. Ich wollte nur noch mal sehen, ob alles bereitsteht.«
Im Raum standen zwei lange Tische, beide mit langen weißen Tischdecken bedeckt. Es war offensichtlich, dass einer für Vampire gedacht war, und der andere für die Sterblichen. Auf dem Tisch für Sterbliche stand ein Tablett mit Käse und Aufschnitt, eines mit Gemüse und Dipp, und eine Schüssel Punsch, daneben noch ein Teller mit Schokoladenkeksen.
Auf dem anderen Tisch standen zwei große Schüsseln, gefüllt mit Eis und Blut in Flaschen. Die Mikrowelle stand in der Mitte, und daneben reihenweise Gläser.
»Ladys, der Gottesdienst beginnt", ertönte eine männliche Stimme vom Korridor her.
Der tiefe Singsang seiner Stimme war unverwechselbar. Tonis Herz begann schneller zu schlagen. Als sie sich zu ihm umdrehte, machte es einen Sprung.
»Wir unterhalten uns nachher.« Shanna tätschelte Tonis Arm und eilte dann aus dem Raum.
Toni ging auf Ian zu, und sein intensiver Blick brachte ihr Herz zum Rasen. »Ich muss mit dir reden.«
Er hob seine Augenbrauen. »Willst du mir endlich deine Geheimnisse gestehen?«
Alle anderen Vampire hatten ihr von Anfang an vertraut. Nur Ian hatte den Verdacht gehegt, dass sie noch andere Pläne hatte. »Woher weißt du, dass ich Geheimnisse habe?«
Er beugte sich vor und flüsterte. »Dein Herz rast. Deine Wangen brennen.« Er lächelte. »Und jetzt blitzen deine Augen in diesem wütenden, aber bezaubernden Grün.«
»Du bist wie ein menschlicher Lügendetektor.« Sie warf ihm einen bösen Blick zu. »Es ist wirklich unangenehm, nicht mehr lügen zu können.«
Während er eine Hand um ihren Ellenbogen legte, musste er ein Lachen unterdrücken. »Man sagt, Beichten sei gut für die Seele.«
Gesang drang aus der Kapelle zu ihnen. Tiefe, männliche Stimmen. Die Vampire sangen eine Hymne.
»Warum sorgt sich ein Vampir um den Zustand seiner Seele?«, flüsterte sie. »Ihr könnt ewig leben.«
»Keiner von uns lebt ewig.«
»Dann betest du um Erlösung?« Wahrscheinlich ergab das einen Sinn. Wer würde dringender Erlösung brauchen als ein Vampir?
»Ich bete um viele Dinge, Toni.« Seine Hand strich ihren Arm hinab und zögerte an ihren Fingern. »Ich bete, dass du mir genug vertraust, mir die ganze Wahrheit zu sagen.«
Und sie betete, dass er sie verstand.