10. KAPITEL
»Ach du meine Güte", flüsterte Toni, als sie durch den Spion in der Vordertür spähte.
Es war neun Uhr an einem Freitagmorgen, die verabredete Zeit für die Ankunft der Babysitter, aber Toni zweifelte daran, dass die zwei Mädchen mit rosagestreiften Haaren Shanna Draganesti und Gregoris Mutter waren. Sie klopften noch einmal an der Tür.
Toni betätigte die Gegensprechanlage. »Kann ich Ihnen helfen?«
»Wo ist Ian?«, verlangte eines der Mädchen zu wissen. »Wir haben versucht anzurufen, aber immer ist nur ein Band dran.«
»Ja", stimmte das zweite Mädchen zu. »Er sagt, er ist vergeben, aber das glauben wir nicht. Wir wollen ihn sehen!«
Toni stöhnte. Die Nachricht, die Ian auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hatte, funktionierte nicht. Einige seiner Verehrerinnen griffen zu drastischeren Taktiken. »Bitte kommen Sie heute Abend wieder.«
»Damit die Konkurrenz ihn vor uns bekommt? Bestimmt nicht!«
Konkurrenz? Toni stapfte ins Wohnzimmer und spähte aus dem Fenster.
Liebe Güte! Da draußen gingen mehr als ein Dutzend Mädchen den Fußweg auf und ab. Sie hielten Poster in die Luft. »Nimm mich, Ian!« »Ian ist so heiß!« Ein Mädchen hatte ein glitzerndes Diadem auf dem Kopf, und auf ihrem Poster stand »Ich bin Ians strahlende Prinzessin!«
»Du liebe Zeit.« Toni zog ihr Handy aus der Tasche und rief Howard an.
»Scheibenkleister", murmelte er. »Die müssen seine Adresse gespeichert haben, ehe Vanda sie hat löschen lassen. Wir sind fast da. Wir parken hinten. Bis in ein paar Minuten.«
»In Ordnung.« Toni legte auf und sammelte dann ihre Lernsachen in der Küche zusammen.
Schon bald hörte sie Stimmen auf der hinteren Veranda. Sie spähte durch das Fenster und sah, wie Howard mit seinen Schlüsseln hantierte. Neben ihm stand eine ältere Dame mit ergrautem Haar und eine jüngere blonde Frau, beide mit schweren Taschen in den Händen. Neben ihnen stand ein kleiner Junge.
Sie schaltete die Alarmanlage aus und öffnete die Tür. »Hi. Danke, dass ihr gekommen seid.«
»Kein Problem.« Howard schritt durch die Küche hindurch direkt in die Empfangshalle. »Ich werde versuchen, die Mädchen vorne loszuwerden.«
»Okay.« Toni wendete sich an die ältere Frau, um ihr zu helfen, ihre Taschen auf den Küchentisch zu stellen. »Sie müssen Radinka sein.«
»Danke, ja.« Radinka nahm ihre Hand und blickte sie neugierig an. »Interessant", murmelte sie.
Die hübsche Blonde stellte ihre Taschen selbst auf den Tisch. »Hi, ich bin Shanna.«
»Nett, Sie kennenzulernen.« Toni streckte eine Hand aus, doch Shanna zog sie freundschaftlich in eine feste Umarmung.
»Ich habe gehört, dass du neulich Nacht angegriffen worden bist.« Shanna klopfte ihr auf den Rücken. »Ich bin so froh, dass du jetzt in Sicherheit bist. Geht es dir gut?«
»Ja.« Toni war überrascht, wie lieb und... normal Shanna war. Wer hätte jemals geglaubt, dass sie die Frau eines mächtigen untoten Zirkelmeisters war? Und neben ihr stand ein engelsgleicher kleiner Junge.
»Das ist mein Sohn, Constantine.« Shanna fuhr ihm durch die blonden Locken.
Toni beugte sich vor. »Hi, Constantine.«
Er lächelte vorsichtig und vergrub dann schnell sein Gesicht im Mantel seiner Mutter.
Die ältere Frau lachte leise. »Wenn er dich besser kennt, ist er nicht mehr so schüchtern. Gregori hat mir gesagt, er hat dich gestern Abend kennengelernt. Er war sehr beeindruckt davon, wie du getanzt hast.«
Toni lachte. »Er ist wirklich lustig.«
»Ja.« Radinka kniff die Augen zusammen. »Aber ich glaube nicht, dass er dein Schicksal ist, Kleines.«
Toni blinzelte. »Ich - ich suche gerade niemanden...«
Shanna berührte ihren Arm. »Mach dir keine Sorgen. Radinka versucht immer, alle zu verkuppeln.«
Radinka schnaubte. »Mit versuchen hat das nichts zu tun. Ich kann sehen, wenn zwei Herzen zueinander gehören.« Sie zeigte auf ihre Schläfen. »Ich bin ein Medium, weißt du.«
»Oh. Wie nett.« Das klang blöd, aber Toni wusste nicht, was sie sonst sagen sollte.
»Man braucht aber keinen Hellseher, um zu wissen, dass ein gelangweiltes Kind zum Problem werden kann.« Radinka stellte eine der Taschen auf den Boden. »Deshalb haben wir für den Kleinen Spielzeug mitgebracht.«
Constantine wühlte in der Tüte und nahm ein großes Bilderbuch heraus, dann machte er es sich damit in einem Küchenstuhl gemütlich. »Ich will lesen lernen.«
»Das ist ja toll.« Toni lächelte ihn an, und er lächelte schüchtern zurück, mit Grübchen in seinen Wangen.
»Onkel Connor hat gesagt, du bist nett. Er hat gesagt, du weißt, wie man jemandem ordentlich den A...«
»Oh, oh, Onkel Connor redet zu viel.« Shanna zog ihren Mantel aus und wendete sich dann an ihren Sohn. »Komm, wir ziehen die Jacke aus.«
Während Shanna die Mäntel an die Haken neben der Hintertür hängte, packte Radinka die Einkäufe aus den übrigen Taschen auf den Tisch.
»Wir waren nicht sicher, ob ihr genug Essen im Haus habt.« Radinka stellte einen Karton Milch in den Kühlschrank, und dann nahm sie den Wasserkessel vom Herd. »Ich mache uns allen eine schöne Tasse Tee.«
Constantine betrachtete die Tüten voller Obst, die noch auf dem Tisch lagen. »Darf ich eine Banane haben?«
»Hier, Schatz.« Shanna gab ihm eine und verstaute den Rest ebenfalls im Kühlschrank.
Toni wollte Constantine gerade ihre Hilfe anbieten, als sie merkte, dass er sie gar nicht brauchte. Er schälte die Banane und biss dann ein Stück ab, während er sein Buch betrachtete.
Er zeigte auf ein Wort. »Heißt das Haus?«
Sie sah über seine Schulter. »Ja, genau.« Was für ein kluger kleiner Junge er war. Sie fragte sich, ob Shanna ihn aus einer früheren Beziehung mitgebracht hatte. Vampirmänner konnten doch wohl bestimmt keine Kinder zeugen. »Danke, dass ihr heute gekommen seid.«
»Das machen wir gern.« Shanna hängte die leeren Taschen auf den Haken neben ihren Jacken. »Gegen Mittag wird ein Baum geliefert. Wir schmücken immer einen für die Wachen.«
»Oh, das ist ja nett.« Bei allem, was in ihrem Leben gerade so passierte, hatte Toni ganz vergessen, dass Weihnachten vor der Tür stand.
Radinka stellte drei Tassen und Untertassen auf die Anrichte. »Wir haben draußen diese Frauen mit ihren Plakaten gesehen. Ich kann nicht glauben, wie dämlich die sich benehmen.«
»Ja.« Toni setzte sich neben Constantine. »Es ist verrückt.«
Shanna schüttelte den Kopf. »Armer Ian. Ich habe gehört, er musste wirklich leiden, um älter auszusehen.«
Radinka machte ein abwertendes Geräusch, als sie in jede Tasse einen Teebeutel legte. »Gregori hat mir gesagt, er macht ein Fernsehinterview mit Corky Courrant.«
Shanna verzog ihr Gesicht. »Das kann doch nur Ärger geben.«
»Warum?«, wollte Toni wissen.
Ohne ihr zu antworten, dachte Shanna laut nach. »Ich sollte Ian eine Nachricht hinterlassen und ihn bitten, es nicht zu tun. Ist er im Keller?«
»Nein, er ist aus seinem Sarg herausgewachsen. Er ist im obersten Stock.« Toni druckste ein wenig herum. »Im Schlafzimmer deines Mannes.«
Shanna lachte. »Na, dann ist das mein Sport für heute. Ich bin gleich wieder da.« Sie ging eilig aus der Küche.
Toni war versucht, mit ihr zu gehen. Sie hatte Ian am Morgen nur einmal kurz gesehen, ehe sie ihren Achtuhrbericht abgeliefert hatte. Sie war um halb sieben aufgestanden und hatte gerade in der Küche gefrühstückt, als Phineas und Dougal sich einen Snack geholt hatten, ehe sie im Keller schlafen gingen. Obwohl sie es gehofft hatte, war Ian direkt in den vierten Stock gegangen, ohne noch einmal nach ihr zu sehen.
Warum wich er ihr aus? Womöglich hatte es tatsächlich mit einer der Vampirfrauen gefunkt, dachte Toni besorgt.
Der Kessel begann zu pfeifen, und Toni kam mit einem Ruck wieder in der Gegenwart an. Sie musste aufhören, so viel an Ian zu denken.
Howard schlenderte in die Küche. »Diese Frauen sind wahnsinnig! Eine von denen hat mich mit ihrem Plakat geschlagen, als ich gesagt habe, Ian ist nicht da.«
»Das ist wirklich schlimm. Sie scheinen tatsächlich sehr entschlossen.«
Radinka gab Howard eine Tasse Tee. »So ein Unsinn. Sind die immer noch da?«
»Ich habe sie überzeugen können zu gehen, aber ich fürchte, die kommen wieder.« Howard trank einen Schluck Tee. »Ich sehe lieber mal nach den Jungs. Ist Ian immer noch im obersten Stock?«
»Shanna ist schon auf dem Weg nach oben.« Radinka stellte auch vor Toni eine Tasse Tee.
»Dann fange ich im Keller an.« Howard kippte den Rest seines Tees in einem Zug hinunter und verließ dann die Küche, immer noch über die durchgeknallten Frauen murrend.
»Heißt das Auto?« Constantine sah zu Toni auf und zeigte dann auf ein weiteres Wort.
Sie sah in das Buch. »Ja, heißt es.« Er hatte seine Banane aufgegessen. »Möchtest du etwas trinken?«
»Darf ich Milch haben?«
»Klar.« Toni suchte in allen Schränken, fand aber keine Plastikbecher. Sie würde ihm ein Glas geben müssen. Sie stellte es vor ihn hin, und er trank, ohne zu zögern.
Sie setzte sich neben ihn. »Wie alt bist du, ungefähr vier?«
Er grinste mit einem Schnurrbart aus Milch. »Ich bin fast zwei.«
Toni sperrte den Mund auf und schloss ihn dann schnell wieder, weil sie nicht wollte, dass der kleine Junge sich schämte. »Bist du... sicher?«
»Im März wird er zwei.« Radinka goss etwas Milch in ihren Tee. »Er ist ziemlich clever, was?«
Mehr als clever, dachte Toni. Man konnte ihn fast als Wunderkind bezeichnen.
»Gehört Toni zu uns?«, fragte Constantine.
Radinka legte den Kopf zur Seite und betrachtete Toni eingehend. »Sie weiß es vielleicht noch nicht, aber ich glaube schon.«
Was sollte das heißen? Toni nippte verwirrt an ihrem Tee.
»Soll ich dir zeigen, was ich kann?« Constantine trat vom Tisch zurück und drehte sich auf der Stelle.
»Super!«, sagte Toni anerkennend.
»Ich habe es noch gar nicht gemacht", gab Constantine zurück.
»Oh, das habe ich nicht gewusst.« Als der kleine Junge langsam an die Decke schwebte, blieb Toni vor Erstaunen der Mund offen stehen. »Das ist ja unglaublich.«
Radinka saß mit ihrer Tasse Tee am Tisch. »Er ist wirklich etwas ganz Besonderes.«
»Ich bin wieder da.« Shanna kam in die Küche. Sie nahm ihren Tee und sah sich um. »Wo ist Tino?«
Ein Kichern von der Decke ließ sie aufblicken, und Shanna schnaubte. »Ich hätte es wissen müssen.« Sie sah Toni schelmisch an. »Ich habe versucht, ihm beizubringen, die Deckenventilatoren sauber zu machen.«
»Er - er schwebt.« Toni konnte es noch immer nicht fassen.
Constantine kicherte und machte einen Überschlag nach vorn.
»Oh, jetzt gibst du ja an.« Shanna nippte etwas am Tee. »Du solltest sehen, wie er und sein Daddy Basketball spielen.«
»Ich habe Daddys Treffer blockiert, weil ich mich in den Korb gesetzt habe", prahlte Constantine.
»Er - er ist wirklich Romans Sohn?«, fragte Toni. »Wie...?«
»Roman ist ein Genie. Frag mich nicht wie, aber er hat seine DNS in menschliches Sperma verpflanzt.« Shanna tätschelte ihren Bauch. »Wir erwarten im Mai unser Nächstes. Ein kleines Mädchen.«
»Das freut mich wirklich. Herzlichen Glückwunsch.« Toni sah zu, wie Constantine auf den Boden hinabschwebte. Sie konnte es noch immer nicht glauben. Shanna und Radinka tranken ihren Tee, als wären Kinder, die halb Mensch und halb Vampir waren, das Normalste von der Welt.
»Hast du gefragt, ob du darfst, ehe du geschwebt bist?«, fragte Shanna ihren Sohn.
»Ja, Mommy.« Er kletterte zurück in seinen Stuhl.
»Gut.« Shanna setzte sich ihm gegenüber. »Wir haben ihm beigebracht, mit dem Schweben vorsichtig zu sein. Wir wollen nicht, dass jeder es zu sehen bekommt.«
»Grandpa zum Beispiel.« Constantine nahm noch einen Schluck Milch.
»Leider ja", stimmte Shanna zu. »Mein Dad ist der Kopf des Stake-Out-Teams der CIA. Die wollen alle Vampire vom Erdboden verschwinden lassen.«
Das hörte sich nach Familienstreitigkeiten an. »Das muss unangenehm sein bei Familientreffen.«
»Ich kann dir sagen. Zum Glück ist mein Dad verrückt nach seinem Enkel, also ignoriert er die guten Vampire und konzentriert sich ganz auf die Malcontents. Aber wenn er herausfindet, dass Tino einige ungewöhnliche Gene geerbt hat, könnte das ein Problem werden.«
Der kleine Junge sackte über seinem Buch zusammen. »Würde Grandpa mich dann nicht mehr lieb haben?«
»Oh, Süßer.« Shanna eilte zu ihrem Sohn. »Er wird dich immer lieb haben. Wir lieben dich alle so sehr.«
»Das tun wir.« In Radinkas Augen glitzerte es, während sie den kleinen Jungen ansah.
Ein stechender Anflug von Neid machte sich in Toni bemerkbar. Wie viel Glück hatte dieser Junge, so sehr geliebt zu werden. Sie hatte sich immer nach der Liebe ihrer Mutter gesehnt, aber sie nie zu spüren bekommen. Ihre Mutter hatte den Mann ihrer Träume geheiratet und zwei weitere Kinder bekommen. Toni war bei ihnen nie willkommen gewesen. Nur ihre Großmutter hatte sie spüren lassen, was Mutterliebe war, und sie selbst hatte die Beziehung abrupt beendet, als sie dreizehn Jahre alt gewesen war. Toni hatte sie im Stich gelassen.
Als sie vor ein paar Nächten zum ersten Mal die Welt der Vampire betrat, hatte sie erwartet, einen schaurigen Ort voll von gruseligen Gestalten vorzufinden. Stattdessen hatte sie eine Gruppe aus Vampiren und Sterblichen gefunden, die mitfühlend und fürsorglich waren. Es war offensichtlich, dass sie sich umeinander kümmerten. Shanna war fünf Treppen hinaufgestiegen, nur um Ian eine Nachricht zu hinterlassen.
Gehörte sie zu ihnen? Das hatte Constantine gefragt. Und ganz plötzlich merkte Toni, dass sie zu einem Mitglied dieser ausladenden Familie werden konnte - einer Familie, die sich umeinander kümmerte und einander vertraute. Sie konnte von all dem ein Teil sein. Nie wieder ausgestoßen. Nie wieder würde sie sich so fühlen, als sei sie nicht gut genug.
Es war so... verlockend. Aber auch erschreckend, denn sie hatte ihr ganzes Leben bereits mit Sabrina geplant. Sabrina war ihre Familie, nicht diese Leute in der Vampirwelt. Sobald der ganze Mist mit Sabrina aufgeklärt war, konnte Toni die Vampirwelt für immer verlassen. Vor zwei Tagen hatte ihr das noch nicht schnell genug gehen können. Jetzt aber begann sie, sich... gewollt zu fühlen. Und wertgeschätzt. Zum ersten Mal merkte sie, dass es noch eine andere Möglichkeit gab, ihr Leben zu gestalten.
»Alles in Ordnung, Liebes?«, fragte Radinka.
»Ich - ich sollte gehen.« Sie warf einen Blick auf die Uhr über der Spüle. »Meine Klausur fängt in einer Stunde an.«
Constantine legte seine kleine Hand auf ihren Arm. »Alles wird gut, Toni.«
Ihr Arm kribbelte, als eine Welle warmer Energie von der Hand des kleinen Jungen ausging. Sie erstarrte, aber dann entspannte sie sich urplötzlich, als die Energie sich mit beruhigender Sanftheit über sie ergoss. Ihre Spannung löste sich und hinterließ das Gefühl von Wohlbehagen. Und das Gefühl, dass sie einfach alles schaffen konnte.
Sie sah den kleinen Jungen an, und er lächelte. In seinen leuchtend blauen Augen stand eine Intelligenz geschrieben, die in einem so jungen Kind erschreckend wirken sollte, aber sie war zu wunderbar, um sich Sorgen zu machen. Constantine strahlte Güte aus, und er ließ sie damit wissen, dass sie keine Angst haben musste.
Er zog seine Hand zurück und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf das Bilderbuch. Toni sammelte ihre Sachen zusammen und verabschiedete sich. Auf dem Weg zur U-Bahn-Station wiederholte sie die Frage des kleinen Jungen immer wieder in ihren Gedanken. Gehört Toni zu uns? Wie weit ließ sie sich in diese neue Welt hineinsaugen? Würde es ihr schwerfallen, sie wieder aufzugeben, wenn sie gehen musste? Nicht so schwer, wenn sie ihre gesamte Erinnerung löschten. Aber wie konnte sie die Erinnerung an Constantine und die anderen aufgeben?
Wie konnte sie es aufgeben, Ian wiederzusehen?
****
Am Abend feierte Toni das Ende ihrer College-Ausbildung mit einer großen Schüssel Dreifachschokoladeneiskrem auf einem Doppelschokoladenbrownie, als Ian die Küche betrat.
»Guten Abend.«
Mit vollem Mund stand sie da und schluckte. »Hi.«
Er öffnete den Mund, um etwas zu sagen, und schien sich dann doch anders zu entscheiden. Er schlenderte zum Kühlschrank und nahm eine Flasche Blut heraus. Dann zögerte er und stellte sie wieder weg.
»Keinen Hunger?« Sie schaufelte sich mehr Eiskrem in den Mund.
»Ich habe schon gegessen.« Voller Nervosität schien er gleichsam durch den Raum zu streifen, während sein Kilt um seine Knie schwang.
»Hast du den Weihnachtsbaum im Wohnzimmer gesehen? Er ist wirklich schön. Shanna und Constantine haben ihn geschmückt.«
»Aye, ist nett.« Er streifte weiter.
Seine Nervosität war offensichtlich. »Machst du das Interview heute Nacht?«
»Ich glaube schon.« Er ballte seine Hände zu Fäusten, während er auf und ab ging. »Aber ich habe dabei ein ungutes Gefühl.«
»Shanna meinte, du solltest es lieber lassen. Hast du die Nachricht gesehen, die sie dir hinterlassen hat?«
»Aye, aber Vanda hat wirklich hart gearbeitet, um die Sache hinzubiegen. Ich will sie nicht enttäuschen.« Er seufzte. »Sie hat auch noch mehr Dates für mich verabredet.«
Toni stach auf ihren Brownie ein. »Noch mehr Vampirfrauen?«
»Aye.« Er lehnte sich gegen die Anrichte und verschränkte seine Arme vor der Brust.
Und was war mit dem Kuss im Auto? Toni war fast gewillt, ihn darauf anzusprechen, aber sie war es gewesen, die darauf bestanden hatte, die ganze Sache nicht mehr zu erwähnen. Sie hatte den Kuss einen Fehler genannt. Sie warf einen Seitenblick auf Ian. Sah er das ebenso?
Und was war mit diesen Momenten, wenn ihre Blicke sich trafen und die ganze Welt dahinzuschmelzen schien? Toni hätte schwören können, dass etwas zwischen ihnen beiden geschah. Etwas wie ein riesiger Magnet zog sie zueinander hin. Oder machte sie sich nur lächerlich? Sie stellte ihre Schüssel in die Spüle. Der Appetit war ihr vergangen.
»Toni, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, aber...«
Würde er ihr sagen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte? »Ja?«
»Ich kann mich nicht sehen, wenn ich mich rasiere. Ich habe mich gefragt, ob ich in Ordnung aussehe. Für das Interview, verstehst du.«
»Oh. Okay. Lass mal sehen.« Sie ging näher an ihn heran und untersuchte seine Wangen, seinen Kiefer, seinen kräftigen Hals und sein Kinn mit dem Grübchen darin. Sie spürte, wie ihr eigenes Gesicht warm wurde. »Für mich sieht alles in Ordnung aus.«
Ihr Blick begegnete seinem, und ihr Herz machte einen kleinen Sprung. Verdammt, so wie sie ihn kannte, hatte er das gehört. Sie trat einen Schritt zurück.
»Ich habe oben keine Haarbürste. Ich habe meine Haare einfach zusammengenommen.«
»Ich habe eine.« Sie kramte durch ihre Handtasche auf dem Küchentisch und zog eine Bürste heraus. Sie wollte sie ihm gerade anbieten, als ihr klar wurde, dass das eine Chance war, sein Haar tatsächlich zu berühren. Mit klopfendem Herz zeigte sie auf einen Stuhl am Tisch. »Setz dich.«
Das tat er.
Sie starrte seinen Hinterkopf und seine Schultern an. Selbst von hinten war sein Bild umwerfend. Sie löste das Lederband um seinen Pferdeschwanz und ließ es auf den Tisch fallen. Dann fuhr sie mit der Bürste durch sein dichtes Haar. Es glänzte in Wellen bis auf seine Schultern hinab. Seine sehr breiten Schultern.
»Du hast gewelltes Haar.« Sie strich mit der Hand über die Wellen. Sein Haar war genauso weich wie in ihrer Vorstellung.
»Als ich es noch kurz getragen habe, war es lockig", sagte er. »Danke für deine Hilfe. Ich - ich will für das Interview gut aussehen, aber ich will auch nicht eitel erscheinen.«
Sie lächelte. »Ich halte dich nicht für eitel.« Umwerfend, aber nicht eitel. Sie band sein Haar zu einem Pferdeschwanz zusammen. Sie ließ sich Zeit und strich alle seidigen Strähnen an seinen Schläfen und hinter seinen Ohren glatt.
»Du bist sehr sanft", flüsterte er.
Sie beugte sich vor, um das Lederband vom Tisch zu nehmen, und ihre Brüste streiften seinen Kopf. Als er zu ihr aufsah, stockte ihr der Atem. »Geht es dir gut? Deine Augen sind irgendwie blutunterlaufen.«
»Ich bin etwas müde.«
»Oh.« Dass Vampire müde werden konnten, hatte sie nicht gewusst. Sie wickelte das Lederband im Nacken um sein Haar.
»Ich weiß nicht, was ich tragen soll, Beinkleider oder einen Kilt.«
»Der Kilt ist gut. Er... passt zu dir. Und du willst schließlich du selbst sein. Ich meine, wenn eine Frau dich nicht um deiner selbst willen liebt, ist sie ja nicht die Richtige für dich.«
Er schwieg.
Sie trat einen Schritt zurück. »Hast du jemanden getroffen, der dir gefallen hat?«
»Aye. Habe ich.«
Das hatte sie eigentlich nicht hören wollen. »Verstehe. Na, ich bin hier fertig.«
»Danke.« Er stand langsam auf. »Als ich Vanda anvertraut habe, dass ich meine wahre Liebe suche, habe ich ihr gesagt, ich will einen weiblichen Vampir, der ehrlich ist, treu, intelligent, und hübsch.«
Tonis Herz sank. Dass passte wohl kaum auf sie.
»Aber jetzt wird mir klar, dass zur Liebe mehr gehört als nur ein paar eingehaltene Voraussetzungen.«
»Das stimmt.« Sie ließ die Bürste in ihre Tasche gleiten.
Er ging bis an die Küchentür, dann zögerte er. »Wenn du nicht meine Wache wärest, könnte ich mit dir ausgehen.«
Mit einem Sprung katapultierte ihr Herz sich wieder an seinen Platz. Er wollte mit ihr ausgehen?
Er runzelte die Stirn. »Aber wenn du nicht mehr meine Wache bist, löscht man deine Erinnerungen. Dann weißt du nicht mehr, wer ich bin.«
»Ich weiß.« Ihr Herz zog sich zusammen. »Das ist irgendwie... traurig.«
»Aye, das ist es.« Er drehte sich um und verließ den Raum.
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Kurz nach zehn rief Carlos an. »Ich bin auf dem Weg nach Hause.«
Toni hatte schon ihren Pyjama an und fläzte sich auf dem Bett. »Wie war dein Date?«
»Gut. Maria hat mich in Dr. Proctors Arbeitszimmer gelassen, und ich habe eine Kopie des Testaments gefunden. Sabrina kann den Großteil ihrer Treuhandfonds nicht erben, ehe sie nicht einen College-Abschluss hat. In der Zwischenzeit bleibt ihre Tante Gwen die Bevollmächtigte.«
»Dann versuchen die mit aller Macht zu verhindern, dass Bri den Abschluss macht?« Toni setzte sich keuchend auf. »Carlos! Was, wenn die vorhaben, sie für immer in der Irrenanstalt einzusperren?«
»Ich fürchte, genau das haben sie vor", murmelte Carlos. »Aber hab keine Angst. Ich habe herausgefunden, wo Dr. Proctor arbeitet. Shady Oaks psychiatrisches Krankenhaus. Ich habe angerufen, aber die wollten mir nicht bestätigen, dass Sabrina dort eine Patientin ist.«
»Wir müssen sie finden.«
»Ich weiß, Menina. Das werden wir auch. Triff dich morgen nach der Arbeit mit mir, und dann fahren wir gemeinsam nach Shady Oaks.«
»Okay.« Toni legte auf. Sie würde Sabrina finden. Und sie würde sie aus dem Krankenhaus befreien. Sie würde sie nicht im Stich lassen.