18. KAPITEL
»Carlos.« Toni spähte über seine breite Schulter. »Es ist alles in Ordnung.«
»Wer ist das?«, flüsterte er und zeigte mit dem Kopf auf den großen Mann am anderen Ende des Foyers.
»Das ist mein Vorgesetzter, Howard", flüsterte Toni zurück.
Howard erstarrte plötzlich und drehte sich zu ihnen um. Seine Nasenlöcher blähten sich gefährlich auf, als sein Blick an Carlos hängen blieb. Er humpelte zu ihnen. »Sie sind Carlos?«
»Ja.« Carlos betrachtete Howard vorsichtig.
»Ich bin Howard Barr. Können wir uns unter vier Augen unterhalten, bitte?« Er zeigte auf das Büro der Sicherheitsleute.
Carlos nickte und folgte ihm.
Was zum Henker? Toni schlich ihnen vorsichtig nach, damit sie sehen konnte, wie die beiden Männer im Büro verschwanden. War Howard schwul? Auch wenn sie schwören könnte, dass die beiden aufeinander mit Misstrauen und nicht mit Gefallen reagiert hatten.
Sie schlenderte den Flur hinab auf das Büro zu. Mensch, sie traute sich einfach nicht, bei ihnen reinzuplatzen. Ihre Aufmerksamkeit wanderte kurz zu dem geheimnisvollen verschlossenen Raum neben dem Spielzimmer. Sie rüttelte am Türgriff, hatte aber kein Glück.
Nach einer Weile öffnete sich die Bürotür. Carlos kam mit verwirrtem Gesichtsausdruck heraus.
»Alles in Ordnung?«, fragte sie.
»Ja.« Laptop und Papierrolle waren noch immer in seiner Hand. »Gerade ist etwas sehr merkwürdiges passiert.«
Toni zuckte zusammen. »Keine Details bitte.«
»Howard hat mir einen Job angeboten.«
»Was? Du würdest als Tagwache arbeiten, genau wie ich?«
Carlos nickte. »Ich habe eine gewisse... Gabe, die man bei MacKay Security and Investigations besonders zu schätzen weiß.«
»Du meinst Kampfsport?«
»Das auch.« Carlos fuhr sich mit der Hand durch die langen schwarzen Haare. »Ich habe Howard gewarnt, dass ich schon immer ein Streuner war, aber er hat gesagt, sie haben auf der ganzen Welt Kunden, die betreut werden wollen, und ich kann von einem Ort zum anderen pendeln, wie ich will.«
»Hat er dir von den Vampiren erzählt?«, flüsterte Toni.
»Nein, er hat sie Kunden genannt. Ich werde es mir überlegen. Die Bezahlung ist ausgezeichnet, und ich habe jede Menge Ausgaben.«
»Das stimmt.« Toni wusste, dass Carlos ein paar Waisen in Brasilien unterstützte. Das war eines der ersten Dinge, die Sabrina und sie an ihm gemocht hatten. Er bezahlte auch für seine eigene Ausbildung und für seine Forschungsreisen nach Südamerika und Malaysia. »Howard ist ein netter Chef. Er war Defensive Lineman bei der NFL, aber er ist lieb wie ein riesiger Teddybär.«
Carlos warf ihr einen strengen Blick zu. »Ja, das ist mir auch aufgefallen. Also, wo können wir in Ruhe über die Pläne für Sabrina sprechen?«
Toni führte ihn den Flur hinab, bis sie zu einem Raum mit der Aufschrift »Konferenz" kamen. Sie spähte hinein und schaltete das Licht an. »Hier ist es gut.«
Ohne Umschweife machte sich Carlos direkt an die Arbeit. Er schloss seinen Laptop an und breitete dann die Papierrolle aus. »Ich habe den Grundriss von Shady Oaks aufgezeichnet, damit Ian weiß, wohin genau er teleportieren muss.« Er klopfte mit dem Finger auf ein Rechteck mit der Aufschrift »Station drei".
Toni beugte sich vor, um die Karte zu betrachten. »Die ist wirklich gut.« Carlos würde einen ausgezeichneten Angestellten von MacKay Security and Investigations abgeben.
»Menina, ich weiß, ich habe dich wegen Ian aufgezogen, aber ich frage mich, ob es klug ist, sich mit ihm einzulassen.
Versteh mich nicht falsch, er ist ein netter Kerl, aber er ist ein Vampir.«
»Er würde mich nie beißen.« Toni wurde rot, als sie sich an den herrlichen Kuss letzte Nacht erinnerte. »Wenigstens nicht, um von mir zu trinken.«
Carlos legte die Stirn in Falten. »Nachdem wir Sabrina gerettet haben, solltest du den Job hier kündigen und vergessen, dass es Vampire gibt.«
»Das wäre ziemlich unhöflich, findest du nicht? Ian nur wegen seiner Superkräfte zu missbrauchen, und ihm dann Adios zu sagen. Und wie kommst du dazu, mir zu sagen, ich solle aufhören, wenn du gerade anfangen willst?«
»Du hast Pläne mit Sabrina. Ich nicht. Und die Wahrheit ist nun mal, dass Ian nicht von deiner Art ist.«
Sie stemmte ihre Hände in die Hüften. »Du überraschst mich, Carlos. Ich dachte, gerade du wärest verständnisvoll und tolerant.«
»Ich toleriere alles, was zwei Menschen miteinander tun wollen, aber er ist eben kein Mensch.«
»Er ist menschlicher als alle, die ich kenne. Und ich liebe ihn.«
»Du kennst ihn gerade erst eine Woche.«
»Und in der Zeit ist verdammt viel passiert.« Toni presste eine Hand gegen ihre Brust. »Ich werde langsam ein anderer Mensch. Ich fühle mich, als würde ich endlich erwachsen werden - jemand der fähig ist und stark und wertvoll. Ich bin kein verwundetes Kind mehr. Und mir gefällt, was da mit mir passiert. Ich werde es nicht aufgeben.«
»In Ordnung.« Carlos berührte ihre Schulter. »Ich freue mich sehr für dich.«
Sie umarmte ihn und ging dann ans Fenster, um durch die Jalousien zu spähen. »Die Sonne ist untergegangen. Ich hole Ian.«
»Okay. Und zieh dich um. Zieh dich ganz schwarz an.« Carlos ging zu seinem Laptop. »Und gib mir dein Handy.«
»Warum?« Sie zog es aus der Tasche ihrer Khakihosen.
»Weil du einen neuen Klingelton brauchst.« Er nahm ihr Telefon. »Die Liebe ist für dich nicht länger ein Schlachtfeld.«
»Aber einen schönen", warnte sie ihn, bevor sie losging, um Ian zu finden.
Er war im Silberraum, immer noch in seinem Pyjama, und beendete gerade sein Frühstück.
Lächelnd sah sie ihn an. »Ich habe deine Nachricht bekommen. Danke, dass du uns hilfst.« Sie kramte in ihrem Koffer und fand eine schwarze Cargohose. »Carlos will, dass wir uns ganz schwarz anziehen.«
Ian hob seine Augenbrauen. »Machen wir es gleich heute Nacht?«
»Ja. Ist das in Ordnung?«
»Aye.« Ian stellte seine leere Flasche in die Spüle. »Ich sollte den Großteil der Nacht hierbleiben, falls Jedrek etwas versucht, aber deine Freundin zu teleportieren kann nicht so lange dauern.«
Sie fand ein schwarzes T-Shirt, aber es hatte leider leuchtend weiße Buchstaben auf der Brust. Bin ich verrückt oder was? Sie zeigte es Ian. »Das perfekte T-Shirt, um in ein Irrenhaus einzubrechen.«
»Man will für jede Gelegenheit passend angezogen sein.« Sein Gesicht wurde ernst. »Es tut mir leid, wie ich gestern Nacht reagiert habe.«
»Du musst dich nicht entschuldigen. Es war falsch von mir, je auch nur darüber nachzudenken, euer Geheimnis zu verraten.«
Mit einem Leuchten in den Augen setzte er zu einem Loblied an. »Du bist unglaublich weit gegangen, um deiner Freundin zu helfen. Du hast einen brutalen Angriff überlebt, du hast einen Job bei Untoten angenommen, und du hast vor, dich des Einbruchs strafbar zu machen. Diese Art von Loyalität ist selten.«
Ihre Augen wurden feucht und ihr Herz schwoll an vor Liebe. »Du sagst die schönsten Sachen.« Wie wertvoll sie wirklich war, das zeigte ihr Ian auf wunderbare Weise.
Er warf einen Blick zur Überwachungskamera und deutete dann mit dem Kopf in Richtung Badezimmer. »Musst du dich umziehen?«
»Richtig.« Toni sammelte ihre schwarzen Sachen zusammen und eilte ins Badezimmer. Ein Schauder durchlief sie, als sie Ian bemerkte, der ihr folgte und die Tür hinter ihnen schloss. »Was...?«
Er zog sie in seine Arme und bedeckte ihre Lippen mit seinen. Ihre Sachen fielen zu Boden, als ihre Lippen miteinander verschmolzen.
Er saugte an ihrer Unterlippe und knabberte dann vorsichtig an ihrem Hals hinab. »Brauchst du keine Hilfe beim Ausziehen?«
»Du Unhold.« Sie fuhr mit den Fingern durch sein weiches Haar.
Er zog an ihrem marineblauen Polohemd und glitt mit den Händen darunter. »Ich will dich.« Mit seinen rot glühenden Augen inspizierte er das Badezimmer. »Das ist eine... Herausforderung.«
»Ian.« Sie legte ihre Hände an seine Wangen. »Wir haben jetzt keine Zeit. Und ich will eigentlich auch keinen Quickie im Badezimmer.«
Seine Mundwinkel zogen sich nach oben. »Nicht sehr romantisch, was?«
Sie grinste. »Ich finde dich sehr romantisch, aber Carlos wartet unten, und wir haben eine Aufgabe zu erledigen.«
»Verstehe.« Ohne böse zu sein, küsste er sie rasch auf den Mund und verließ dann den Raum.
Sie zog sich um und fand ihn in der Küche, wo er sich einen schwarzen Pullover über den Kopf zog. Er hatte schwarze Lederhosen an und sah hinreißend verwegen aus. Sollten sie nicht doch schnell ins Badezimmer gehen, schoss es ihr durch den Kopf.
»Gehen wir.« Sie nahm ihren Mantel und fuhr mit Ian im Fahrstuhl ins Erdgeschoss hinauf. »Wir haben heute den Ballsaal für die große Party vorbereitet.«
»Phineas hat versprochen, mir die moderneren Tänze beizubringen, damit ich mit dir tanzen kann. Ich kann nur Menuett, Walzer und ein paar Polkas.«
Sie lächelte ihn breit an, als sie den Fahrstuhl verließen. »Du willst mit mir tanzen?«
»Aye, Phineas meint, ich muss wissen, was man unter pop blocking und jam-on-it versteht.«
Sie lachte. »Du willst in einem Kilt Hip-Hop tanzen?«
»Eigentlich werde ich ein Weihnachtsmannkostüm anhaben, genau wie neunundneunzig andere Männer.«
»Wieso habt ihr so viele Weihnachtsmannkostüme?« Sie deutete auf die verschlossene Tür gegenüber der Zahnarztpraxis. »Was hat es mit dieser geheimen Weihnachtswichtel-Geschichte auf sich?«
»Wenn ich es dir verrate, ist es kein Geheimnis mehr.«
Sie gab ihm einen Klaps auf den Arm. »Ich habe dir auch meine Geheimnisse verraten.«
»Nicht alle. Ich weiß immer noch nicht deinen vollständigen Namen.«
»Ich sehe zurzeit keinen Grund, ihn dir zu sagen.«
»So schlimm kann es nicht sein. Mein Name ist Ian David MacPhie.«
»Das ist ein guter Name. Den zu gestehen ist leicht.« Sie öffnete die Tür zum Konferenzzimmer. »Hier sind wir. Carlos hat alles geplant.«
»Ich bin es eigentlich gewöhnt, meine eigenen Pläne zu machen.« Er marschierte mit gerunzelter Stirn in den Raum. »Guten Abend, Carlos.«
»Hi, Ian. Schicke Hosen. Mir gefällt das Leder. Hier ist dein Handy, Toni.«
Sie steckte das Telefon in ihre Hosentasche.
Ian betrachtete den Plan von Shady Oaks.
»Das hier ist Station drei.« Carlos zeigte darauf. »Dort halten sie Sabrina fest. Direkt hinter der Eingangstür gibt es eine Aufsicht, aber ich habe eine Hintertür entdeckt. Meinst du, du kannst dich unentdeckt dort hineinteleportieren?«
Ian sah ihn ausdruckslos an. »Bei der NASA haben sie mich jedenfalls nicht entdeckt.«
Carlos hob eine Augenbraue. »Ich nehme das als ›Ja‹.«
Toni unterdrückte ein Grinsen. Hoffentlich bekamen die beiden jetzt keinen Streit.
»Ich schaffe das.«
»Ich warte im Wagen auf euch. Ich kann hier oder hier parken.« Er zeigte auf den Besucherparkplatz und den Lieferanteneingang an der Hinterseite des Gebäudes.
»Benutz den Parkplatz", sagte Ian. »Das ist weniger auffällig-«
»Einverstanden.«
Ian sah ihn von der Seite an. »Du arbeitest so nicht zum ersten Mal.«
Carlos rollte die Karte zusammen. »Meine Forschungen haben mich schon an seltsame Orte und in seltsame Situationen geführt.«
»Was für eine Art Forschung?«
»Ungewöhnliche, ursprüngliche Kulturen, meistens in Südamerika und Südostasien.« Er ging an seinen Laptop. »Diesen Weg werde ich benutzen, um uns zum Hotel zu fahren. Ein unauffälliges Haus in Queens. Ich habe im Voraus und bar bezahlt.«
Ian sah es sich einen Augenblick lang an. »Sieht gut aus. Ich muss hier erst nach dem Rechten sehen, also fährst du mit Toni hin. Dann kann sie mich anrufen, und ich teleportiere mich und treffe euch dort.«
»Einverstanden.« Carlos schloss seinen Laptop. »Los geht's.«
****
Als sie bei Shady Oaks ankamen, parkte Carlos seinen Jaguar in einem dunklen Winkel. Toni rief Ian an, und er tauchte wenige Sekunden später neben ihr auf dem Parkplatz auf.
»Ich komme mit dir.«
»Nay. Ich kann nicht zwei Leute gleichzeitig teleportieren.«
Sturer Kerl. »Dann gehst du eben zweimal.«
Carlos stieg aus der Fahrertür. »Was ist los?«
»Toni will sich unbedingt in Gefahr bringen", murmelte Ian.
»Du musst mich aber mitnehmen", sagte Toni nachdrücklich, »woher willst du sonst wissen, welche da drinnen Sabrina ist?«
»Ich nehme an, sie kann mir ihren Namen sagen.«
Warum war der Mann immer so rechthaberisch? »Sie schläft vielleicht. Oder wenn sie wach ist, schreit sie vielleicht und löst den Alarm aus. Wenn ich da bin, kann ich sie beruhigen.«
»Ich glaube, Toni hat recht", stand Carlos ihr bei.
Dankbar lächelte sie ihn an.
Mit knirschenden Zähnen gab Ian nach. »Na gut.«
»Von Westen her ist es am einfachsten", schlug Carlos vor.
»Ich schaffe das schon", knurrte Ian. »Komm, Toni.«
Sie ging neben ihm her über den Parkplatz auf die Westseite des Gebäudes zu. »Carlos will nur helfen. Er macht sich wirklich etwas aus Sabrina.«
»Und aus dir.«
War er etwa eifersüchtig? »Wir sind nur gute Freunde.«
»Tut mir leid, wenn ich so störrisch wirke", murmelte Ian, »aber ich bin es einfach gewohnt, solche Arbeiten allein zu erledigen.«
»Warum?«
Er schwieg lange, während sie an der Westmauer entlanggingen. Endlich antwortete er. »Ich wollte nie mit den anderen zusammenarbeiten, weil sie mich automatisch wie ein Kind behandelt haben.«
»Oh. Das tut mir leid. Es muss furchtbar frustrierend gewesen sein, ewig wie ein Fünfzehnjähriger auszusehen.«
»Fast fünfhundert Jahre lang.« Er sah zu ihr herüber. »Ich bin froh, dass du mich nie so gesehen hast. Du kennt mich nur als Mann, als den Mann, der ich innerlich die ganzen Jahre über war.«
»Du bist ein wunderbarer Mann, Ian.«
Er nahm ihre Hand. »Oh, deine armen Finger sind ja fast gefroren.« Er legte ihre Finger zwischen seine.
»Das ist die Eiche, auf die Carlos geklettert ist.« Sie zeigte mit ihrer freien Hand darauf. »Der Hof liegt direkt hinter der Mauer.«
Er ließ ihre Hand los. »Ich sehe es mir mal an.«
Es war schon merkwürdig, ihn dabei zu beobachten, wie er an den oberen Rand der Mauer schwebte.
»In Ordnung. Komm.« Er streckte seine linke Hand nach ihr aus.
»Ich kann nicht...« Als sein Körper ein Stück nach unten sackte, nahm er einfach ihre Hand und zog sie in seine Arme. Dann schwebten sie nach oben.
Sie schlang ihre Arme um seinen Hals.
Seine Zähne blitzten weiß in der Dunkelheit auf. »Du musst mich nicht würgen, Kleines. Ich lasse dich nicht fallen.«
»Tut mir leid.« Sie versuchte, sich zu entspannen. »Ich bin nicht daran gewöhnt, eineinhalb Meter über dem Boden zu schweben.«
»Das da drüben ist Station drei, aye?« Er zeigte darauf.
Sie blinzelte über den spärlich beleuchteten Hof. »Ja.« Bestimmt konnte er sehr viel besser sehen als sie.
»Siehst du den schattigen Bereich an der rechten Seite des Gebäudes? Nahe am Hintereingang. Dorthin teleportieren wir uns zuerst.«
»Okay.« Sie machte sich bereit. Das schwarze schwindelerregende Gefühl legte sich über Toni, und dann stolperte sie, als ihre Füße wieder auf festen Boden trafen.
»Ruhig.« Er führte sie auf die Hintertür zu. Sie war natürlich abgeschlossen, aber durch das Glasfenster konnten sie einen schlichten Flur erkennen, und auf beiden Seiten davon Türen. Die Türen standen offen, und durch sie schien Licht auf den glänzenden Linoleumboden.
Eine Krankenschwester tapste in weißen Sportschuhen den Gang hinab. »Acht Uhr! Licht aus!«
Die Lichter gingen eines nach dem anderen aus und ließen den Flur nur von der Notbeleuchtung düster erhellt zurück. Die Krankenschwester ging davon, wahrscheinlich zur Schwesternstation am Haupteingang.
»Das müssen die Schlafzimmer sein", flüsterte Ian. Er zog sie an seine Seite. »Los geht's.«
Wieder verschluckte sie die Dunkelheit, und dann stand sie auf einmal neben Ian im Flur. Die Luft war heiß und stickig. Sie übernahm die linke Seite, Ian die rechte. Sie bewegten sich schweigend vorwärts und überprüften die Namensschilder neben den Türen.
Nach vier Türen entdeckte sie den Namen Vanderwerth, Sabrina. Sie winkte Ian heran, und sie beide schlüpften in das dunkle Zimmer. Sie konnten das Einzelbett auf einer erhabenen Plattform kaum erkennen. Es gab keine Schränke, nur offene Regale, wie für Bücher. Nirgendwo konnte man etwas verstecken. Keine Lampen, keine Spiegel. Unter der einfachen Decke lag ein Körper zusammengerollt. Sabrinas blondes Haar glänzte matt auf dem Kissen.
Toni hockte sich neben sie. »Bri, kannst du mich hören?« Sie berührte ihre Schulter.
Bri stöhnte. »Lass mich in Ruhe, du Ekel.«
»Sabrina, ich bin es, Toni.«
»Toni?« Sie rollte sich auf den Rücken. »Du kannst nicht Toni sein.«
»Ich bin Toni. Ich bin hier, um dich rauszuholen.«
Sabrina rieb sich die Augen. »Ich träume nur. Ich habe schlimme Wahnvorstellungen.«
»Nein, hast du nicht.« Toni nahm ihre Hand und drückte fest zu. »Ich bin es wirklich. Jetzt komm. Wir verschwinden hier.«
Bri bemühte sich, sich aufzusetzen. »Ich bin echt müde. Kannst du nicht morgen früh wiederkommen?«
»Nein, wir verschwinden sofort.« Toni wurde klar, dass ihre Freundin zu sehr unter Drogen stand, um klar zu denken. Sie fand ihre Hausschuhe neben dem Bett und zog sie ihr an.
»Das dauert zu lange", flüsterte Ian. »Ich nehme sie einfach und dann raus hier.«
Bri blinzelte Ians dunklen Schatten an. »Wer bist du?«
»Er ist ein Freund", erklärte Toni. »Ian. Er hilft uns dabei zu fliehen.«
Bri kicherte. »Fliehen? Man kann von hier nicht fliehen.«
»Nicht so laut, bitte", flüsterte Ian. Er spähte aus der Tür, um den Flur zu überprüfen. »Beeilt euch. Ich höre jemanden kommen.«
»Der redet echt niedlich", flüsterte Bri.
»Er ist Schotte.« Toni half Bri dabei aufzustehen, und führte sie zur Tür. »Ian nimmt dich zuerst mit und holt mich dann nach.«
Bri sah zur Hintertür. »Wir können da nicht raus. Es ist abgeschlossen.«
»Ian kann dich rausbringen.« Toni zog ihre Jacke aus und gab sie Bri. »Draußen ist es kalt.«
»Sabrina, hast du Besuch?« Ein männlicher Patient schlurfte auf sie zu. Sein Batman-Pyjama war zu einem dumpfen Grau verblasst, aber die goldene Fledermaus auf seiner Brust glänzte noch.
»Hi, Teddy", antwortete Bri.
Ian stöhnte auf.
»Ich verschwinde von hier", verkündete Bri und kicherte dann.
Ian trat auf Toni zu und flüsterte. »Halt ihn ruhig. Wenn ich wiederkomme, lösche ich seine Erinnerung.«
»Okay.« Toni knöpfte ihre Jacke an Bri zu. »Hab keine Angst. Du kannst Ian vertrauen.«
Sabrina zuckte überrascht zusammen, als Ian einen Arm um ihre Schultern legte. »Was hast du...«
Gemeinsam mit Ian verschwand sie.
Teddy starrte mit weit offenem Mund. »Oh mein Gott!«
»Nicht so laut", flüsterte Toni. »Ich kann das erklären.«
»Er ist ein Superheld", rief Teddy. »Er hat sie mit seinen Superkräften gerettet!«
»Teddy, bist du schon wieder aufgestanden?«, dröhnte eine männliche Stimme aus der Ferne.
»Ach Mist, das ist Bradley", murmelte Teddy. »Ich würde hier nicht rumwandern müssen, wenn er nicht so...«
Toni packte Teddy an den Schultern. »Sag ihm nicht, dass Sabrina verschwunden ist. Verstanden?«
Er blinzelte. »Okay.«
Toni rannte in Sabrinas Zimmer, kletterte ins Bett und deckte sich bis zu den Ohren zu.
»Teddy, warum liegst du nicht im Bett?« Bradleys Stimme klang näher.
»Ich - ich habe einen Superhelden gesehen. Er war gerade noch da, und dann puff! Er ist einfach verschwunden.«
»Du bist echt verrückt", murmelte Bradley. »Mach, dass du in dein Zimmer kommst.«
»Ich bin nicht verrückt", sagte Teddy leise. Seine schlurfenden Schritte verklangen.
Toni atmete erleichtert aus. Sabrinas Flucht war immer noch geheim. Sie erstarrte, als sie ein Geräusch hörte. War Ian so bald zurück? Alle ihre Sinne schärften sich, als sie spürte, dass irgendetwas nicht stimmte. Schritte kamen auf ihr Bett zu. Sie schloss ihre Augen fest.
»Sabrina", flüsterte Bradley und streichelte ihre Haare.
Toni kam Galle die Kehle hoch. Oh Gott, sie wollte aus dem Bett springen und ihm ihre Faust gegen den Hals rammen.
Aber sie traute sich nicht. Sie konnte ihn nicht wissen lassen, dass Bri entkommen war. Sie musste Zeit schinden, damit sie sich in Ruhe entfernen konnten.
Sie schluckte verkrampft. Hatte Bri sie deshalb vorhin ein Ekel genannt? Bradley musste sie schon früher angefasst haben, als sie voller Medikamente gepumpt war.
»Sabrina", flüsterte Bradley wieder.
Es gab einen dumpfen Knall, und ein Körper fiel auf sie.
Irritiert kletterte Toni aus dem Bett und fort von Bradleys Körper. Er lag vollkommen bewusstlos da.
Teddy stand daneben und hielt ein dickes Buch in den Händen. »Ich mag ihn nicht. Er ist ein schlechter Mann.«
»Danke, Teddy, du bist ein Held.«
Er lächelte verlegen. »Ich habe meine Medikamente nicht genommen. Ich wusste, dass ich ein Auge auf dieses Ekel haben muss.«
Ian tauchte wieder auf und entdeckte als Erstes den bewusstlosen Pfleger. »Was ist passiert?«
»Das ist eine lange Geschichte", erklärte Toni. »Aber Teddy hat mich davor bewahrt, belästigt zu werden.«
Ian trat auf Bradley zu. »Hat der Mann sich an den Frauen hier vergriffen?«
»Er hat es versucht", sagte Teddy. »Deshalb gehe ich nachts durch die Flure.«
»Bastard.« Ian legte eine Hand auf Bradleys Kopf. »So. Er schläft bis morgen. Dann kann er erklären, wieso er in Sabrinas Bett liegt.«
»Cool", flüsterte Teddy. »Du hast echt die besten Superkräfte, Mann. Wie heißt du?«
»Ian.«
Teddy runzelte die Stirn. »Alter, du brauchst einen besseren Namen als das. Und ein Cape.«
Ian lachte leise. »So einen Vampirumhang? Den habe ich noch irgendwo.«
»Das wäre echt super, Mann.«
Ian ging auf Teddy zu. »Ich muss jetzt deine Erinnerung löschen.«
Teddy wich zurück. »Nein! Das hier ist das Coolste, was mir seit Ewigkeiten passiert ist. Ich will mich daran erinnern.«
»Ian.« Toni sah ihn bittend an. Sie konnte Teddy so gut verstehen. Sie wollte ihre Erinnerungen auch nicht verlieren.
»Toni, er weiß, dass wir Sabrina geholfen haben zu fliehen.«
»Nehmt mich mit", bat Teddy.
»Nay.« Ian schüttelte den Kopf.
»Ernsthaft, Alter. Wenn du mich mitnimmst, kann ich niemandem sagen, was ihr gemacht habt. Das würde ich nicht, aber vielleicht versuchen die mich zu hypnotisieren oder so was. Ich bin nicht wirklich verrückt, musst du wissen. Nur depressiv, weil ich mich auf nichts mehr freuen konnte, aber bei euch, da könnte ich wirklich glücklich werden.«
Ian zögerte. »Wenn du erst unsere Geheimnisse kennst, gibt es kein Zurück mehr.«
»Cool.«
Für Ian barg sich in dieser Aktion ein hohes Risiko. »Du musst verstehen, dass es gefährlich ist, bei uns zu sein. Wir führen Krieg mit einigen wirklich bösen Kreaturen.«
Teddy stieß seine Faust in die Höhe. »Astrein!«
Ian sah Toni fragend an.
Unentschlossen zuckte sie mit den Schultern. »Teddy, weißt du, was du da tust?«
»Ich bin ja nicht blöd", knurrte er. »Ich habe mal die Abteilung für Mathematik an der St. Bartholomew's Academy geleitet.«
»Du bist Lehrer?«, fragte Ian interessiert.
»Ja.« Teddy sah ihn misstrauisch an. »Heißt das, ich bin nicht cool genug, um mit euch Superhelden rumzuhängen?«
»Eigentlich bist du, glaube ich, genau das, was wir ganz dringend zurzeit brauchen.« Anscheinend hatte Teddys Beruf Ians Zweifel beseitigt. »Komm.«
»Cool.« Teddy folgte ihm auf den Flur. »Beamen wir uns rauf zum Mutterschiff?«
Toni spähte aus der Tür und beobachtete, wie sie sich teleportierten. Beam mich hoch, Scotty. Sie fragte sich, warum Ian sich für Teddys Hintergrund als Lehrer interessierte. Und auch wenn Teddys Zeugnisse sicher super waren, schien er der Wirklichkeit etwas entfremdet. Doch er hatte sie gerade vor dem perversen Pfleger gerettet, das allein war Grund genug, nicht an ihm zu zweifeln.
Bradley war seitlich auf das Bett gefallen. Sie zog an seinem Körper, um ihn besser hinzulegen.
Dann bemerkte sie Bris Besitztümer in den offenen Regalen. Zwei Garnituren Kleidung und noch ein Pyjama. Sie schlüpfte in Bris Jacke und entdeckte dann im unteren Regal die Unterwäsche.
Sie blickte zu Bradley und hatte eine Eingebung. Sie nahm ein Paar von Bris Schlüpfern und steckte sie Bradley in die Hand. Dann nahm sie einen von Bris BHs und setzte ihn ihm wie eine Mütze auf den Kopf. Sollte er doch versuchen, das am kommenden Morgen zu erklären.
Im selben Moment tauchte Ian wieder auf. »Ich glaube, Teddy ist etwas enttäuscht, weil er in einem Auto sitzt und nicht in einem Raumschiff.« Er betrachtete den Pfleger. »Interessant.«
»Mir gefällt es.« Toni nahm Bris restliche Besitztümer an sich. »Gehen wir?«
Ian lächelte. »Mit dir wird es nie langweilig, Toni.« Er teleportierte sie auf den Parkplatz.
Toni öffnete die Beifahrertür des Jaguars und spähte hinein. Teddy war auf dem winzigen Rücksitz mit Sabrina eingepfercht. Sie lehnte sich gegen ihn, die Augen schwer von den Medikamenten.
»Bri, Carlos bringt dich in ein Hotel, wo du dich ausruhen kannst", erklärte Toni ihrer Freundin.
Bri blinzelte sie an. »Ich dachte, ich wäre im Bett. Wie bin ich hierhergekommen?«
»Alles wird gut", sagte Toni nachdrücklich. »Du brauchst nur etwas Ruhe. Ich komme morgen wieder zu dir.«
»Nein.« Bri bemühte sich, sich aufzusetzen. »Lass mich nicht allein.« Ihr Gesicht verzog sich. »Ich glaube, ich werde verrückt. Ich weiß nicht, wie ich hierhergekommen bin.«
Toni krümmte sich schuldbewusst zusammen. »Okay, ich komme mit. Nur eine Minute.«
»Wir müssen uns beeilen, Menina", warnte Carlos sie.
Ian berührte ihre Schulter. »Ist schon gut. Fahr du mit deiner Freundin. Du kannst mich später anrufen, und ich teleportiere mich zu dir, um dich nach Hause zu bringen.«
Sie schlang ihre Arme um ihn und küsste ihn. »Wie kann ich dir je dafür danken?«
Seine Mundwinkel zuckten. »Ich denke mir was aus. Bis später.« Er trat zurück und verschwand.
Toni stieg in den Jaguar. »Fahren wir.«
»Hast du den Mann geküsst, Toni?«, fragte Sabrina.
»Natürlich hat sie", antwortete Teddy. »Der Superheld bekommt am Ende immer das Mädchen.«
****
Jedrek saß an seinem Schreibtisch und betrachtete das Foto von Roman Draganesti und seiner Familie. Wie konnte ein Mann gleichzeitig so klug und so dumm sein? Seine Wachdroge war fantastisch. Aber der Idiot hatte sie benutzt, damit er babysitten konnte? Wenn dieser Trottel nur einen Funken Verstand hätte, würde er die Droge seinen Highlander-Schlägern geben, damit die den Tag damit verbringen konnten, seine Feinde umzubringen, die hilflos im Todesschlaf lagen.
Es könnte immer noch passieren. Jedrek hatte doppelt so viele Tagwachen beordert. Aber so stark die Typen von der Russenmafia auch waren, er vertraute ihnen nicht gern seine eigene Sicherheit an.
Was er brauchte, war diese verdammte Droge. Dann könnte er ein paar Tage lang Vampire metzeln. Er blätterte durch den Stapel mit Fotos und labte sich an dem Gedanken, sie alle umzubringen. MacKay und seine Frau. Buchanan. MacPhie.
»Meister?« Yuri betrat das Büro, gefolgt von Stanislav. »Ihr wolltet uns sehen.«
»Wir müssen unseren nächsten Schritt planen", verkündete Jedrek.
»Morgen Nacht halten sie bei Romatech den Weihnachtsball ab", schlug Stanislav vor.
Jedrek schüttelte den Kopf. »Zu vorhersehbar.« Seine Hand blieb über dem Foto eines schwarzen Vampirs hängen. »Erinnert ihr euch an den?«
»Ja", antwortete Stanislav. »Phineas, der Verräter.«
Jedrek hob eine Augenbraue. »Ihr habt ihn noch nicht umgebracht?«
Stanislav schluckte. »Das werde ich noch, Meister.«
»Das will ich hoffen.« Jedrek sah sich die Fotos genauer an. Er hielt bei einer Sterblichen mit blonden Haaren inne. Die hatte er letzte Nacht gesehen, nachdem die Bomben losgegangen waren. Sie war über den Parkplatz gerannt und hatte MacPhies Namen gerufen. Überall auf dem Boden hatten verwundete Männer gelegen, aber sie war direkt zu MacPhie gelaufen.
»Was tun wir als Nächstes?«, fragte Yuri.
Jedrek strich mit dem Finger über das Foto der blonden Sterblichen. »Ich weiß genau, was wir tun werden.«