17. KAPITEL

 

Ian ging den Korridor hinab. »Damen oder Herren?«

»Wie bitte?«, fragte Toni.

»Welche Toilette ist dir lieber? Ich möchte mich frisch machen.«

»Oh. Damen, glaube ich. Wenn es dir nichts ausmacht.«

Wie hätte |s anders sein können. »Solange es leer ist.« Er öffnete die Tür zur Damentoilette. »Hallo?«

Toni folgte ihm hinein und blickte unter die Türen der Kabinen.

»Romatech ist sonntagnachts ziemlich leer. Nur ein paar Leute, die zur Messe hier sind.« Er drehte einen Wasserhahn auf und wusch sich die Hände am Waschbecken.

Sie stellte sich neben ihn. »Du erscheinst nicht im Spiegel. Ich kann mich selbst sehen. Und du bist nicht da. Das ist so gruselig.«

»Danke.« Wasser lief in seine hohlen Hände und Ian spritzte es sich ins Gesicht. Blut rann den Abfluss hinab. »Jetzt verrate mir deine Geheimnisse.« Er zog Papiertücher aus dem Spender und trocknete sich ab.

»Vorsicht", warnte sie ihn. »Sonst drückst du die Scherben tiefer rein.«

»Offensichtlich kann ich nicht sehen, was ich tue.« Er warf das Papiertuch in den Müll.

»Lass mich.« Sie befeuchtete ein Papierhandtuch und faltete es zu einem Polster. Dann tupfte sie ihm vorsichtig die Stirn ab.

»Deine Geheimnisse?«

»Schon gut.« Sie zog eine Scherbe aus seinem Haar und warf sie in den Müll. »Nachdem meine Großmutter starb, als ich dreizehn war, haben sie mich in ein Internat in Charleston gesteckt. Da ging es mir sehr elend, bis ich Sabrina getroffen habe.«

»Deine Mitbewohnerin?«

»Ja. Sie kam zur Schule, nachdem ihre Eltern beide bei einem Flugzeugabsturz ums Leben gekommen waren. Sie war ein Einzelkind, also richtig allein. Zuerst fand ich es ganz cool, dass es an der Schule endlich jemanden gab, dem es noch schlechter ging als mir. Aber dann habe ich sie kennengelernt, und wir sind beste Freundinnen geworden. Eigentlich eher wie Schwestern.«

»Aye.« Das konnte Ian nachvollziehen. Connor und Angus waren immer wie ältere Brüder für ihn gewesen.

Toni warf das blutige Papiertuch in den Müll und machte sich ein neues Polster. Sie betupfte seine Wangen. »Sabrina und ich haben einen Masterplan für unsere Zukunft entworfen, und daran haben wir seit Jahren gearbeitet. Du weißt, dass einige Prominente Waisenkinder aus dem Ausland adoptieren?«

»Aye.«

»Das wollen wir im großen Stil aufziehen. Wir wollen ein Waisenhaus führen, das eine wirklich liebevolle Umgebung bietet, wie die Familie, die wir uns immer gewünscht haben. Und wir retten Kinder auf der ganzen Welt. Ich habe Wirtschaft und Soziologie studiert, damit ich das Waisenhaus leiten kann, und Sabrina macht ihren Master in Pädagogik, damit sie die Schule leiten kann. Und Carlos hat schon ein paar Waisenkinder für uns.«

Das hatte Ian nicht erwartet. Das war ein riesiges Unterfangen. »Dafür braucht ihr jede Menge Geld.«

Toni wischte ihm vorsichtig das Kinn ab. »Sabrinas Eltern haben ihr ein riesiges Erbe hinterlassen. Fünfundachtzig Millionen.«

Erstaunt hob Ian seine Augenbrauen.

»Sie erbt erst dann, wenn sie den College-Abschluss gemacht hat. Ihre Eltern wollten nicht, dass sie bloß nutzlos von ihrem Treuhandfond lebt.«

Ian nickte langsam, obwohl seine Gedanken rasten. Wenn Toni so große Pläne hatte, warum war sie dann hier und arbeitete als Wachposten? Und sie hatte auf keinen Fall vor zu bleiben. Es wäre furchtbar selbstsüchtig von ihm, wenn er versuchen würde, sie hierzubehalten, wo sie doch so edle Pläne für die Zukunft hatte.

»Alles verlief genau nach Plan, bis letzten Sonntag", fuhr Toni fort. »Sabrina wurde im Central Park angegriffen. Sie ist mit gebrochenen Rippen, Prellungen und... Bissspuren ins Krankenhaus eingeliefert worden.«

»Malcontents.«

»Ja. Sie war hysterisch, als die Polizei sie befragt hat. Sie hat behauptet, dass Vampire sie angegriffen hätten.«

»Diese Idioten. Sie hätten ihre Erinnerung löschen müssen.«

Sie riss ihre Augen auf und starrte ihn an. »Du findest in Ordnung, was die gemacht haben?«

»Nein, natürlich nicht. Aber jeder Vampir, egal ob gut oder schlecht, weiß, dass es nichts Wichtigeres gibt, als unsere Existenz geheim zu halten.«

Ihre heftige Reaktion war überzogen, dachte Toni schuldbewusst, während sie die schmutzigen Papiertücher wegwarf. Sie zog noch mehr Handtücher aus dem Spender. »Lass uns deine Knie sauber machen.«

Hinknien musste sie sich dazu nicht, Ian schwebte nach oben, bis seine Knie auf Höhe des Waschbeckens waren. »So ist es einfacher.«

»Oh.« Sie sah zu ihm hoch. »Das ist praktisch.«

»Danke. Zurück zu deiner Geschichte...«

»Richtig.« Sie zog behutsam seine Kniestrümpfe hinab. »Sabrinas Fond wird von ihrer Tante und ihrem Onkel verwaltet. Ihr Onkel ist Psychiater, und er hat sie als psychotisch und unter Wahnvorstellungen leidend diagnostiziert. Er hat sie in eine Nervenklinik eingewiesen.«

»Oh. Ich begreife. Dann liegt sie also im psychiatrischen Krankenhaus Shady Oaks?«

»Ja.« In ihren Augen blitzte Wut auf. »Ihr Onkel will ihr Geld, also wird er dafür sorgen, dass sie nie entlassen wird. Carlos und ich haben sie heute Abend besucht, und es war einfach schrecklich.«

Ian senkte sich auf den Boden ab. »Dort warst du vor der Messe?« Kein Wunder, dass sie so verletzlich gewesen war.

Toni nickte. »Ich kann sie nicht im Stich lassen, wie meine Grandma. Ich muss sie da rausholen.«

Er drückte ihre Hand. »Und du dachtest, dazu brauchst du meine Hilfe? Hast du deshalb den Job als meine Wache angenommen?«

»Ich brauche deine Hilfe wirklich, aber ganz so ist es nicht gewesen. Nachdem Sabrina angegriffen wurde, hat sie mich gebeten, die Vampire zu finden, die ihr das angetan haben, um zu beweisen, dass sie nicht an Wahnvorstellungen leidet.«

Ian versteifte sich. »Du warst im Park, um dich angreifen zu lassen?«

»Ich hatte nicht gedacht, dass etwas passiert, weil ich nicht geglaubt habe, dass es Vampire wirklich gibt. Aber...«

»Du bist hinterrücks angegriffen worden", beendete er ihren Satz. »Du hättest sterben können, wäre Connor nicht gekommen.«

»Glaub mir, ich weiß, wie knapp es war. Connor hat angeboten, meine Erinnerungen zu löschen, aber das konnte ich nicht machen, nicht, wo ich jetzt wusste, dass Sabrina recht hatte. Also habe ich den Job angenommen und gehofft, dabei die Beweise zu finden, die ich brauche.«

Ein kalter Schauer durchfuhr Ian. »Du hattest vor, unsere Existenz zu beweisen?« Er ließ ihre Hand los. »Du hast einen Eid abgelegt, uns nie zu verraten.«

Toni zuckte zusammen. »Ich weiß.«

»Verstehst du nicht, wie wichtig unser Geheimnis ist? Wenn unsere Existenz bekannt wird, gäbe es Millionen Sterbliche, die uns vernichten wollen. Vampirjäger würden mit ihren blutigen Pflöcken auf uns Jagd machen. Wissenschaftler würden an uns Experimente durchführen oder uns sezieren. Und wenn sie je herausfinden, welche heilenden Eigenschaften unser Blut hat, jagen sie uns wie Tiere und bluten uns aus. Aufgedeckt zu werden bedeutet, vernichtet zu werden.«

Toni erblasste. »Ich wollte niemandem schaden. Ich dachte, ich könnte den Beweis an einen Psychiater oder einen Anwalt weitergeben, der das Ganze vertraulich behandelt. So wie euer Father Andrew.«

»Das ist ein furchtbar großes Risiko. Du kannst nicht garantieren, dass jemand den Mund hält, besonders, wenn er in uns eine ernste Bedrohung für die Menschheit sieht.«

»Die Malcontents sind eine ernste Bedrohung.«

»Du kannst nicht die verraten, ohne uns zu verraten! Und wir sind die Einzigen, die sie bekämpfen können. Ich kann nicht glauben, dass du unser Leben derart aufs Spiel setzen würdest.« Er wendete sich von ihr ab.

»Ich habe zuerst nicht begriffen, wie freundlich ihr seid. Als ich einige Tage mit euch verbracht hatte, wusste ich, dass ich euch nie verletzen könnte.«

»Das ist ja zu nett von dir.« Ian starrte sie wütend an. »Das hättest du mir von Anfang an sagen sollen.«

»Ich wusste nicht, ob ich dir vertrauen kann. Es hat eine Weile gedauert, dich kennenzulernen.«

Was sollte Ian darüber denken? An ihm nagte bloß das Gefühl, hintergangen worden zu sein. »Ich - ich muss darüber nachdenken.« Er wandte sich zur Tür.

Niedergeschlagen folgte Toni ihm. »Ian, du musst wissen, dass ich dir nie schaden könnte.«

Seine Gedanken überschlugen sich. »Geh schlafen, Toni. Wir sehen uns morgen.«

»Ian, es tut mir leid.«

Jetzt noch ihr gequältes Gesicht zu sehen, wäre zu viel für ihn gewesen, also marschierte er zurück ins Wartezimmer.

Shanna war bereit, sich um ihn zu kümmern. Er setzte sich auf den Behandlungstisch und dachte nach, während Shanna ihm die Scherben aus dem Gesicht und den Knien entfernte.

Wie konnte Toni auch nur daran denken, ihr Geheimnis zu verraten? Vielleicht verstand sie nicht, wie wichtig es war. Aber Connor hatte es ihr doch sicherlich erklärt.

Man musste ihr zugestehen, dass sie ehrenvolle Absichten gehabt hatte. Sie versuchte, ihre Freundin Sabrina zu retten. Ian würde das Gleiche für seine Freunde tun. Aber sie hatte vorgehabt, seine Art zu verraten. Bei dem Gedanken zog sich sein Magen zusammen.

Als Shanna fertig war, ging er den Flur hinab. Toni hatte einen Vertrag unterschrieben, mit dem sie schwor, sie zu beschützen. Wie konnte sie da einen Verrat planen?

Aber sie hatte es nicht getan. Sollte er sie für etwas verurteilen, was sie vorgehabt hatte, ehe sie Vampire wirklich kannte? Nach dem Angriff der Malcontents war ihre Schlussfolgerung, dass alle Vampire böse waren und verraten werden mussten, nur zu logisch.

Aber sie hatte alle getäuscht. Er hatte sich geschworen, dass eine zukünftige Partnerin treu und ehrlich sein musste. War er deshalb so frustriert von der Sache? Er sah Toni als eine potenzielle Partnerin an. Gott weiß, er begehrte sie. Sein Verlangen nach ihr war schmerzhaft. Er dachte die ganze Zeit nur an sie. Aber konnte er ihr vertrauen?

Nachdem er eine Stunde lang zu keinem Ergebnis gekommen war, beschloss er, sich einen Rat zu holen. Er teleportierte sich in Vandas Büro im Horny Devils. Nachdem sie den Schock über sein verletztes Gesicht überwunden hatte, erzählte er ihr alle Details von Tonis Geschichte.

Vanda saß hinter ihrem Schreibtisch und legte die Stirn in Falten. »Diese kleine Schlampe.«

Ian erstarrte. »Das hat sie nicht verdient. Sie versucht ja nur, eine Freundin zu retten, die sich in Gefahr befindet.«

Vanda hob ihre Augenbrauen. »Verteidigst du sie jetzt? Ich dachte, du bist wütend auf sie.«

»Ich bin nicht wütend.« Er ging im Büro auf und ab. »Ich bin verwirrt.«

»Warum? Das Problem lässt sich so leicht lösen.«

Er blieb stehen. »Meinst du?«

»Klar. Feuer die Kleine und lösch ihre Erinnerungen. Dann ist sie keine Bedrohung mehr, und du kannst sie endgültig aus deinem Leben streichen.«

Aus seinem Leben? Ihn erfasste eine Woge der Panik. Wie konnte er es ertragen, sie zu verlieren? »Aber... was ist mit ihrer Freundin?«

»Wen interessiert das? Sie schuldet dir schließlich kein Geld.«

»Sie ist in einer Nervenklinik eingesperrt...«

»Ja, ja, von ihrem bösen Onkel. Schluchz. Sie ist nur eine Person. Eine Sterbliche. Und Toni war bereit, uns alle wegen ihr in Gefahr zu bringen.«

»Nur, weil es ihr so viel bedeutet", wendete Ian ein.

»Mit dem Problem steht sie nicht allein da", murmelte Vanda.

Genervt schaute Ian seine Freundin an. »Schön, ich gebe es zu. Sie bedeutet mir etwas. Ich wäre nicht so aufgebracht, wenn es nicht so wäre.«

»Vor einer Woche hast du noch geschworen, dass du auf jeden Fall einen Vampir willst. Ich habe eine Liste mit zwanzig Vampirfrauen genau hier, alle von mir abgesegnet, die darauf brennen, dich kennenzulernen. Du kannst gleich heute Abend anfangen.«

Vor einer Woche hätte sich das wunderbar angehört. Aber jetzt kannte er Toni, und alles hatte sich verändert. »Ich will mich mit keiner anderen verabreden. Du kannst mein Profil von dieser Dating-Seite löschen.«

»Ian, sie hat vorgehabt, uns alle zu verraten.«

»Aber sie hat es nicht getan. Sie hat nie irgendetwas getan, das uns geschadet hat.« Er war endlich in der Lage, ihre Zwickmühle zu erkennen. Sie wollte Sabrina retten, weil sie ihre Freundin liebte. Und sie hatte ihn nicht verraten, weil er ihr auch etwas bedeutete. Als sie auf dem Parkplatz verzweifelt nach ihm gesucht hatte, stand in ihrem Gesicht echte Verzweiflung geschrieben. Er bedeutete ihr wirklich etwas. Aber andererseits konnte sie es nicht ertragen, ihre Freundin im Stich zu lassen. Ihr Herz wurde in zwei Stücke gerissen.

Alles, was er tun musste, war, ihr bei der Rettung von Sabrina zu helfen. Dann würde sie nicht länger in zwei Richtungen gezerrt werden. Sie konnte sich ganz ihm zuwenden.

Und das wollte er mehr als alles andere. Er wollte, dass es Toni freistand, ihn zu lieben. Er wollte sie mehr als alles andere.

****

Toni wachte langsam auf. An Durchschlafen war in dieser Nacht nicht zu denken gewesen, weil ein schweres Gewicht gegen ihre Brust drückte. Ian. Sie hatte ihn verloren. Erst als sie sich jetzt auf den Rücken drehte, merkte sie, dass sie nicht alleine war.

»Ian?« Sie setzte sich auf.

Erleichtert atmete sie auf. Er konnte nicht wütend auf sie sein, wenn er zu ihr ins Bett gestiegen war, richtig? Letzte Nacht hatte sie befürchtet, ihre Beziehung wäre vorbei. Er hatte so traurig ausgesehen.

Jetzt wirkte er vollkommen friedlich. Er lag auf dem Rücken und hatte die Hände auf dem Bauch gefaltet.

Sie sah nach der Uhr auf dem Nachttisch. Viertel vor neun? Sie hatte den Wecker auf halb sieben gestellt. Er musste ihn ausgeschaltet haben, ehe er zu ihr ins Bett geklettert war.

Zum ersten Mal, seit sie ihn kannte, trug er keinen Kilt. Er hatte Flanellpyjamahosen an, rot-grün karierte natürlich, worüber sie lächeln musste. Blut und Schmutz hatte er abgeduscht. Sie beugte sich näher zu ihm, um nach den Schnittwunden in seinem Gesicht zu sehen. Sie sahen schon viel besser aus. Sie hob eine seiner Hände. Die Wunden dort hatten sich geschlossen, und die Narben verblassten bereits. Bei Sonnenuntergang würde er wieder aussehen wie ein junger Gott.

Plötzlich wurde ihr klar, dass sie mit einem Toten Händchen hielt. Und sie zuckte nicht zurück, und sie ließ auch nicht los. Warum machte ihr das keine Angst? Liebevoll betrachtete sie ihn. Er war immer noch der gleiche mutige Krieger, der Gregori geholfen hatte, der gleiche selbstlose Held, der darauf bestanden hatte, dass sie sich in Sicherheit brachte, während er blutete, der gleiche liebe Mann, der sie so leidenschaftlich geküsst und dann die ganze Verantwortung dafür übernommen hatte.

Sie stieg aus dem Bett und ging ins Badezimmer. Am Spiegel klebte eine Nachricht.

Toni,

ich will dabei helfen, deine Freundin zu retten.

Verzeih mir, dass ich so ein Esel war.

Ian

Mit einem Lachen drückte sie den Zettel gegen ihre Brust. Ian verstand sie. Sie konnte ihm vertrauen. Und Sabrina würde gerettet werden. Sie rannte ins Schlafzimmer zurück. »Danke, Ian. Danke.«

Er lag einfach nur da.

Sie setzte sich auf das Bett und lächelte ihn an. »Du bist kein Esel. Du bist ein wunderbarer Mann.«

Und sie war dabei, sich wirklich in ihn zu verlieben.

Wie konnte sie ihn auch nicht lieben? Er war der liebste, süßeste, attraktivste Mann, den sie je kennengelernt hatte.

Sie betrachtete sein Gesicht, während die Liebe weiter in ihr anschwoll. Das hier war ganz anders als ihre letzten beiden Beziehungen. In diese Affären hatte sie sich gestürzt, weil die Abweisung ihrer Mutter sie zur Verzweiflung getrieben hatte. Sie hatte jemanden gebraucht, damit sie sich geliebt fühlte.

Dieses Mal war es anders. Sie hatte sich nicht in Ian verlieben wollen. Zum ersten Mal ging es nicht um sie und ihr Bedürfnis, geliebt zu werden. Es ging nur um Ian und die Liebe, die sie zu ihm verspürte. Das war ihr bei der Explosion schmerzlich bewusst geworden, als sie um sein Leben fürchten musste.

Sie berührte das Grübchen an seinem Kinn. Sie konnte vor ihm nicht davonlaufen. Das würde bedeuten, vor ihrem eigenen Herzen davonzulaufen.

Nach dem Duschen zog sie sich an und ließ Ian dann sicher verschlossen im Silberraum zurück. Als sie im Erdgeschoss den Fahrstuhl verließ, war sie überrascht von den vielen Menschen. Lebendige Menschen. Sie gingen eilig die Flure auf und ab. Die meisten von ihnen trugen weiße Laborkittel. Sie alle hatten Romatech-Namensschilder an ihre Brusttaschen geheftet.

Auf dem Weg in das Büro von MacKay Security rief sie Carlos von ihrem Handy aus an. »Rate Mal? Ian will uns wirklich dabei helfen, Sabrina zu retten.«

»Das ist toll!« Carlos senkte seine Stimme. »Also, sag mir, Menina, was hast du gemacht, um ihn zu überzeugen?«

»Ich habe mit ihm geredet.«

»Ach komm, du musst doch besonders... freundlich zu ihm gewesen sein.«

»Carlos, wir müssen Bri so schnell wie möglich befreien. Meinst du, wir können es heute Nacht schaffen?«

»Ja.« Seine Stimme wurde ernster. »Ich arbeite einige Pläne aus und komme heute Nachmittag bei dir vorbei.«

»Gut.« Toni legte auf und begab sich in das Büro der Sicherheitsfirma. Howard saß hinter dem Schreibtisch und hatte sein verbundenes Bein auf einem Stuhl hochgelegt.

»Tut mir leid, dass ich verschlafen habe.« Sie setzte sich neben ihn.

»Kein Problem.« Er deutete auf die Monitore. »Hier ist nicht viel los. Die Tagwache räumt den Mist auf dem Parkplatz auf.«

Toni blickte auf den Monitor, der den Parkplatz zeigte. Ein Abschleppwagen räumte das ausgebrannte Auto aus dem Weg. »Was hat die Polizei zu letzter Nacht gesagt?«

Howard genehmigte sich einen Donut. »Die sind es gewöhnt, dass Romatech bombardiert wird. Ich habe dem diensthabenden Beamten gesagt, dass wir von einer Gruppe psychotischer Fanatiker anvisiert werden, die gegen die Herstellung von synthetischem Blut sind. Was gewissermaßen auch stimmt, wenn man es genau nimmt.«

Ja, viel psychotischer als die Malcontents konnte man kaum werden. Toni überflog die übrigen Monitore. Einer zeigte ein Schlafzimmer mit mehreren Doppelbetten. Dort lagen Phineas und Dougal im Todesschlaf bewegungslos ausgestreckt. Der Silberraum erschien auf einem weiteren Monitor. Na toll. Hatte Howard gesehen, wie sie Ians Gesicht berührt hatte? »Findet die Tagwache es nicht komisch, dass wir hier drinnen sitzen und Toten beim Schlafen zusehen?«

»Die haben ihr eigenes Büro. Bei uns halten die sich raus.« Howard schob den Karton mit Kuchen in ihre Richtung. »Willst du einen Donut?«

»Klar.« Sie suchte sich einen einfachen aus. »Also, was ist passiert, während ich geschlafen habe?«

»Connor hat Roman, seine Familie und Radinka um etwa drei Uhr morgens in Sicherheit gebracht. Niemand weiß, wohin. Das ist besser so, weil Ekel wie dieser Jedrek einem ins Gehirn eindringen können.«

»Jedrek ist der, der Gregori angegriffen hat?«

»Jepp.« Howard aß den letzten Bissen Donut und leckte sich seine Finger.

Und Jedrek war es ebenfalls gewesen, der versucht hatte, Ian zu entführen. Toni seufzte. Den hatten sie wohl nicht zum letzten Mal gesehen.

Howard schob ein Blatt Papier über den Tisch. »Das ist die Liste von Kram, den wir für den Weihnachtsball erledigen müssen. Shanna und Radinka waren ziemlich traurig, dass sie uns nicht helfen können, aber ich habe gesagt, sie sollen sich keine Sorgen machen.

Toni verschlang den letzten Rest ihres Donuts. Die Liste war ungefähr eine Meile lang. »Und das muss alles vor morgen Nacht erledigt werden?«

»Keine Sorge. Das ist alles abgedeckt. Ich habe Todd Spencer eine Kopie gegeben, er ist der Produktionsleiter der Tagesschicht. Er weiß, was zu tun ist. Shanna organisiert diese Weihnachtsfeier jedes Jahr, und dann sind da noch die Konferenz der Vampire und die Gala jeden Frühling.«

»Todd muss ein Sterblicher sein. Weiß er von den Vampiren?

Howard rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. »Todd weiß eine Menge. Er ist bereits dabei, einige Arbeiter anzuweisen, Tische und Stühle aufzustellen.«

»Der erste Punkt ist das Dekorieren des großen Weihnachtsbaums", las Toni laut von der Liste vor. »Ich kann mich an keinen Baum erinnern.«

»Der wird gegen Mittag geliefert.« Howard trank aus seinem Kaffeebecher.

Toni überflog die Liste. Nummer zehn war, die Band bestätigen. Eine Telefonnummer stand daneben. »Ich kann ja dann die Band anrufen.«

Howard lachte kurz. »Warte lieber bis heute Abend. Die High Voltage Vamps würden im Moment nicht mal eine Glühbirne anwerfen.«

»Das ist eine Vampirband?«

»Ja, die spielen auf allen großen Vampirfeiern und Hochzeiten.« Howard stand auf und humpelte zur Tür. »Komm mit. Ich zeige dir den Ballsaal.«

Rechts von der großen Eingangshalle befanden sich mehrere Besprechungszimmer mit Trennwänden, die wie eine Ziehharmonika zusammengefaltet werden konnten. Von dem großen Ballsaal war Toni beeindruckt. Die hintere Wand bestand zum größten Teil aus Fenstern, die auf einen Garten hinausführten. Todd Spencer beaufsichtigte gerade einige Arbeiter, die draußen eine Bühne aufbauten. Howard stellte sie einander vor.

»Freut mich, dich kennenzulernen", brüllte Todd über den Lärm, als er ihre Hand schüttelte. »Wird auch Zeit, dass MacKay eine Frau einstellt.«

Toni sah sich in dem riesigen Raum, der vor Arbeitern nur so wimmelte, um. »Wie viele Leute arbeiten hier tagsüber?«

»Mittlerweile sind es über zweihundert, auf vier Abteilungen verteilt", erklärte Todd ihr. »Forschung, Produktion, Verpackung und Versand.«

»Kann ich irgendwas helfen?«, fragte Toni.

»Du kannst beim Dekorieren helfen, wenn du magst.« Todd zeigte ihr die Plastiktonnen, in denen Weihnachtsschmuck und Grünzeug lagen.

Howard humpelte zurück ins Büro der Sicherheitsleute, um die Monitore zu bewachen, und Toni brachte ein paar Stunden damit zu, Tischdecken auszulegen und Girlanden zu arrangieren. Sie aß schnell in der Cafeteria von Romatech zu Mittag und rief dann in Shady Oaks an.

»Ich würde gerne mit Sabrina Vanderwerth auf Station drei sprechen.« Sie sagte die Identifikationsnummer auf.

»Ich fürchte, das geht nicht", antwortete die Rezeptionistin. »Ihr Arzt hat die strikte Anweisung gegeben, dass sie keinen Besuch und keine Anrufe von außen erhalten darf.«

Ihre Befürchtungen waren eingetreten. Onkel Joe hatte von ihrem Besuch erfahren. »Können wir da nicht eine zweite Meinung einholen? Es hilft doch der Patientin bestimmt, zu wissen, dass es hier draußen noch Menschen gibt, die sich um sie Sorgen machen.«

»Die Entscheidung ist endgültig.« Die Dame an der Rezeption legte auf.

»Mist.« Sie ging zurück in den Ballsaal, und endlich war auch der über vier Meter hohe Weihnachtsbaum geliefert worden. Sie half ein paar Stunden lang, ihn zu dekorieren, und ging dann zurück ins Büro von MacKay. »Wie läuft es hier?«

Howard zeigte auf die Monitore. »Immer noch alle tot, aber in etwa zwanzig Minuten sollten sie erwachen.«

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte, und Howard nahm ab. »Ja?« Er hörte zu und bedeckte den Hörer dann mit seiner großen fleischigen Hand. »Das ist die Wache am Eingang. Jemand ist wegen dir hier. Fährt einen schwarzen Jaguar.«

»Das muss Carlos sein.« Toni ging zur Tür.

»Carlos wer?«, fragte Howard sie.

»Carlos Panterra.«

»Name bestätigt", sagte Howard zu der Wache am Telefon. »Lasst ihn rein.«

Toni eilte zur Eingangstür und trat gerade nach draußen, als Carlos seinen Wagen parkte. Es war kühl, weil die Sonne schon unterging, und sie rieb sich ihre nackten Arme.

Carlos sah aus wie ein Spion, ganz in Schwarz gekleidet. Er deutete auf den geschwärzten Bereich, der mit orangefarbenen Verkehrskegeln abgesperrt war. »Was ist da passiert?«

»Gestern Nacht sind ein paar Vampire vorbeigekommen. Haben ein Auto hochgejagt und ein paar von uns verletzt. Nichts Schlimmes.«

Mit einem Stirnrunzeln betrachtete er den schwarzen Boden. »Willst du mir sagen, hier läuft ein Spiel Vampire gegen Vampire?«

»Meine sind die guten, die aus Flaschen trinken. Die bösen heißen Malcontents. Das sind die, die Sabrina und mich angegriffen haben. Sie hassen die Typen, für die ich arbeite.«

Carlos sah sie besorgt an. »Mensch Mädchen, du bist mitten in einen Krieg geraten.«

Sie begann zu zittern. »Ich weiß.«

»Dir ist kalt. Lass uns reingehen.« Er öffnete seinen Kofferraum und nahm einen Laptop und eine lange Rolle weißes Papier heraus. »Ich habe die Pläne mitgebracht, damit wir uns alles zusammen ansehen können. Wir machen es heute Nacht, richtig?«

»Ja.« Wenigstens hoffte sie, dass Ian damit einverstanden war, es heute Nacht zu versuchen.

Carlos zeigte auf einen Stoffbeutel. »Ich habe etwas Kleidung und Schuhe für Sabrina eingepackt. Außerdem Seile und Klebeband, nur für den Fall.«

»Gut.« Sie fragte sich zum wiederholten Mal, ob Carlos nicht doch mehr war als ein Anthropologiestudent.

Er schloss den Kofferraum und ging mit ihr zur Eingangstür. »Bist du hier sicher?«

»Ich glaube schon. Die Vampire fühlen sich sicher genug, um morgen einen großen Weihnachtsball zu schmeißen.«

»Feiern im Angesicht der Gefahr? Ich glaube, deine Vampire gefallen mir.« Carlos grinste, als er die Tür öffnete. Er trat ein, doch sein Lächeln verblasste sofort. Er schnüffelte irgendwie, und ein misstrauischer Blick trat in sein Gesicht. »Vorsicht.« Er streckte einen Arm aus, um ihr den Einlass zu verwehren.

»Was ist los?«

»Gefahr", flüsterte er.