12. KAPITEL
»Hat das hier irgendeinen Sinn?« Toni stapfte durch den Schnee an einer drei Meter hohen Mauer entlang. Carlos hatte darauf bestanden, dass sie erst die Fassade von Shady Oaks inspizierten, ehe sie die Lobby betraten. Der Besucherparkplatz war vorne, und der Parkplatz für Angestellte an der Ostseite. Hinten gab es einen bewachten Lieferanteneingang. Gerade befanden sie sich an der Westseite und durchkämmten ein Gebiet, auf dem es tatsächlich nicht wenige schattige Eichen gab.
Als sie keine Antwort auf ihre Frage bekam, drehte sie sich zu Carlos um.
Er war verschwunden.
»Carlos?« Sie wirbelte herum, und ihre Handtasche rutschte von ihrer Schulter. »Carlos, wo bist du?«
»Schh, nicht so laut.«
Sie folgte dem Klang seiner Stimme und entdeckte ihn hoch oben auf einer Eiche, wo er auf einem dicken Ast lag, der über die Steinmauer reichte. Liebe Güte, das musste etwa zehn Meter hoch sein. »Carlos, was machst du da?«
Fassungslos beobachtete sie, wie er vom Baum sprang und leichtfüßig landete. »Wie hast du das gemacht?«
»Die richtige Frage ist, warum. Ich musste über die Mauer sehen. Es gibt einen Innenhof. Alle Gebäude führen dorthin. Ich glaube, die Gebäude mit Nummern darauf sind die Stationen, auf denen die Patienten liegen. Die anderen Gebäude sehen wie eine Cafeteria, eine Sporthalle und ein Schwimmbad aus. Ist ein schicker Laden.«
»Das konntest du alles vom Baum aus sehen?«
»Ja, und noch besser, ich habe ein paar Patienten gesehen, die um den Whirlpool herumsaßen und geraucht haben. Es stand eine Aufsicht dabei.« Er ging auf den vorderen Parkplatz zu.
»Inwieweit ist das hilfreich?« Toni rückte ihre Tasche zurecht und folgte ihm.
»Jede Information ist hilfreich. Und jetzt gehe ich zuerst in die Lobby und sehe mich um. Du wartest hier und lässt dich nicht von den Überwachungskameras erwischen.«
»Aber...« Sie blieb stehen, als sich die automatischen Türen hinter ihm schlössen. »Toll. Ich warte dann einfach hier draußen in der Eiseskälte.«
Die runde Auffahrt war mit weißen Statuen und schneebedeckten Buchsbaumhecken gesäumt. Sie konnte durch die großen Fensterscheiben in die Lobby sehen. Es sah dort warm und gemütlich aus, mit Ledersofas und bequemen Sesseln. Carlos hatte recht, Shady Oaks war ein schicker Laden.
Er kam heraus und hielt ein Blatt Papier in der Hand. Außerhalb der Reichweite der Überwachungskameras gesellte er sich zu ihr. Das Papier stopfte er in die Tasche seines Ledermantels.
»Was war das?«, fragte Toni.
»Bewerbungsunterlagen. Pass auf, so sieht es drinnen aus. Die Rezeption liegt hinter dem Informationspult. Es gibt zwei verschlossene Türen auf jeder Seite der Lobby, die in den Ost- und den Westflügel führen. Die hintere Wand der Lobby ist aus Glas und führt auf den Innenhof. Es gibt eine Tür, aber davor sitzt eine Aufsicht.«
»Also kommen wir nicht auf den Hof?« Sie seufzte. »Ist wahrscheinlich auch egal, weil wir nie zu den Stationen kommen werden.«
»Den Hof kann man betreten. Du vergisst die praktische schattige Eiche.«
Sie verzog das Gesicht. »Auf den Baum komme ich nie rauf.«
»Musst du ja nicht. Ich mache das. Und ich kann hoffentlich die Aufsicht und die Rezeptionistin in der Lobby ablenken. In der Zeit siehst du dir die Patientenliste an, die ich auf dem Schreibtisch der Rezeption gesehen habe. Wenn du Sabrinas Namen findest, schreibst du dir ihre Identifikationsnummer auf. Wir bekommen ohne die nicht einmal die Erlaubnis, mit ihr zu telefonieren.«
»Okay.« Toni stampfte sich den Matsch und den Schnee von den Stiefeln. »Ich fühle mich nicht sonderlich wohl mit diesem Spionagekram.« Wie kam es eigentlich, dass Carlos darin so gut war? »Wie willst du es schaffen, die abzulenken?«
Schon wieder zu spät. Carlos war bereits auf dem Weg. Er sprintete um die Ecke des Gebäudes, ohne Zweifel auf dem Weg zu seinem neu erkorenen Lieblingsbaum.
»Liebe Güte.« Toni marschierte auf der Stelle, um sich die Füße aufzuwärmen. Sie musste ihm einen Augenblick Zeit geben. Sie atmete eine dichte Wolke eisiger Luft aus und schlenderte dann in die Lobby. Showtime. Die automatische Tür schloss sich hinter ihr, und die Aufsicht und die Rezeptionistin sahen sie beide an.
Die Besuchszeit war schon lange vorbei, also war sie ganz allein.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte die Rezeptionistin und sah sie über den Rand ihrer schwarzen Lesebrille hinweg an.
Mit einem schnellen Blick erfasste sie die Situation. Sie konnte den Innenhof hinter der Scheibe kaum sehen. Der Whirlpool war schwach beleuchtet, und sie konnte die Schatten der Patienten, die sich dort aufhielten, ausmachen. Ihre Zigaretten leuchteten als kleine orangefarbene Punkte auf, wenn sie einen Zug nahmen.
Die Rezeptionistin räusperte sich.
»Ah, ich habe mich gefragt...« Toni näherte sich dem Informationspult und entdeckte die Patientenliste, die unter dem Ellenbogen der Rezeptionistin feststeckte. »Wie lässt man sich in dieses Krankenhaus einweisen? Ich habe eine Freundin mit einem ernsten Problem.«
Die Rezeptionistin sah sie schief an. »Und was genau ist das Problem Ihrer Freundin?«
Anscheinend dachte diese Frau, sie sprach von sich selbst, also spielte sie mit. »Na ja, ich - also, meine Freundin ist süchtig nach... Sex. Jeder Menge Sex. Die ganze Zeit. Sie kriegt nicht genug.«
»Verstehe.« Die Rezeptionistin schürzte die Lippen. »Normalerweise muss ein Psychologe sie zu uns überweisen. Sie sind doch in psychologischer Behandlung? Ich meine, Ihre Freundin.«
Toni grinste verlegen. »Okay, erwischt. Und ja, ich hatte einen Therapeuten, aber seine Frau hat mich dabei erwischt, wie ich ihm auf dem Rücksitz seines Hummers an seinem... Hummer gelutscht habe, also...«
Die Rezeptionistin nahm ihre Brille ab. »Sie hatten eine sexuelle Beziehung mit Ihrem Therapeuten?«
»Klar. Ich schlafe mit allen meinen Therapeuten. Und mit meinen Ärzten, meinen Lehrern, dem Klempner und dem Taubenfreak auf dem Dach.« Wo zum Henker blieb Carlos? »Wissen Sie, das ist eine echte Krankheit.«
Plötzlich ertönten Schreie im Hof, und die Aufsicht sprang auf, um durch das Fenster zu sehen.
Die Rezeptionistin stand auf. »Was ist los?«
»Keine Ahnung", antwortete die Aufsicht, »die Patienten rennen wie wild durch die Gegend.«
Die Schreie wurden lauter und angsterfüllter. Was zum Henker machte Carlos da? Toni sprang auf, als ein Patient mit der Hand gegen die Fensterscheibe schlug.
»Hilfe!«, schrie er. »Lasst mich rein!«
Die Aufsicht gab eine Zahlenfolge in ein Tastenfeld ein.
»Du sollst sie nicht in die Lobby lassen", warnte die Rezeptionistin ihn.
In genau demselben Augenblick füllte ein lautes Brüllen die Luft und brachte die Fenster zum Beben. Die Schreie auf dem Innenhof verstärkten sich.
Eine Frau warf sich mit voller Wucht gegen das Glas. »Hilfe! Es hat mich angegriffen!«
Nachdem die Aufsicht endlich eine Tür geöffnet hatte, stürzten zwei der Patienten herein.
»Seht euch an, was das Ding mit mir gemacht hat!« Eine Patientin zeigte ihnen ihre Daunenjacke. Der Ärmel war aufgerissen und die Füllung quoll hervor. »Es ist ein Monster! Ein schwarzes Monster mit glühenden Augen!«
»Doris, bring sie in die Klinik", befahl die Aufsicht der Rezeptionistin. Er nahm einen Elektroschocker aus seinem Gürtel. »Keine Sorge, Leute. Ich kümmere mich um dieses... Monster.« Er warf Doris einen amüsierten Blick zu. Zweifellos nahm er an, dass die Patienten dieser Irrenanstalt verrückt waren.
Schnell eilte Doris zu den Patienten. »Kommen Sie. Hier entlang.« Sie schloss die Tür zum Westflügel auf und führte sie hinein.
Auf dem Hof ertönten immer noch Schreie, und Toni entdeckte andere Patienten, die herumrannten und an die verschlossenen Türen hämmerten. Was auch immer Carlos da machte, er jagte allen einen gehörigen Schrecken ein. In der Zwischenzeit hatte die Lobby sich geleert. Sie eilte um den Schreibtisch und studierte die Patientenliste. Auf der letzten Seite stand »Vanderwerth, Sabrina. Station drei VS48732.«
Toni kritzelte die Information auf einen Notizblock, riss die Seite ab und stopfte sie in ihre Handtasche. Sie eilte aus der Vordertür und war schon auf halbem Weg zu Carlos Wagen, als sie auf einem Stück Eis ausrutschte und den Boden unter den Füßen verlor. Sie landete unsanft auf ihrer Hüfte.
»Au. Verdammt.« Mühsam richtete Toni sich auf und humpelte zum Wagen. »Verdammt.« Sie sah in ihre Handtasche, um sicherzugehen, dass das Papier noch da war.
Nach einer langen nervenaufreibenden Minute entdeckte sie Carlos, der auf sie zugerannt kam. Was zum Henker...? Er war barfuss, hatte seine Stiefel in einer Hand und seinen Ledermantel in der anderen. Sein schwarzes Hemd war aufgeknöpft und flatterte wie wild.
Er legte den Mantel über seinen anderen Arm und zog die Autoschlüssel aus der Hosentasche. Mit einem Druck auf die Tastatur entriegelten sich die Türen.
Schuhe und seine Jacke flogen auf den Rücksitz. »Hast du die Info?«
»Ja.« Sie öffnete die Tür. »Was ist mit dir passiert?«
»Beeil dich.« Schnell stieg er ein. »Ich habe gehört, wie die Aufsicht die Polizei verständigt hat.«
Mit schmerzender Hüfte setzte sie sich auf den Beifahrersitz und schnallte sich an. »Was hast du gemacht? Ich habe so viel Geschrei gehört.«
»Es war nur eine kleine Ablenkung.« Er parkte aus und raste dann auf die Ausfahrt zu.
Sie betrachtete seine nackte Brust und seine teils aufgeknöpfte Hose. »Oh Gott. Sag nicht, du hast den Flitzer gegeben.«
»Irgendwie so.« Er bog auf die Straße ein. In der Ferne heulten Polizeisirenen. »Wir kommen morgen wieder, wenn sich die Lage beruhigt hat. Besuchszeit ist sonntags ab fünf Uhr nachmittags. Schaffst du das?«
»Ich glaube schon.« Toni kniff die Augen zusammen, als zwei Polizeiwagen mit blinkenden Lichtern an ihnen vorbeifuhren. Sie warf einen Blick über die Schulter und sah, wie sie auf den Parkplatz des Krankenhauses einbogen. Was hatte die Aufsicht dazu gebracht, die Polizei zu rufen? Sie erinnerte sich an die Frau mit der zerrissenen Jacke. Und die Worte von einem schwarzen Monster mit glühenden Augen.
Ihr Magen rebellierte. Was in aller Welt hatte Carlos getan?
****
Ian verstaute sechs Flaschen der Wachdroge im Sicherheitsraum im Keller von Romatech - ein Raum, der komplett mit Silber verkleidet war, damit sich kein Vampir hinein- oder hinausteleportieren konnte. Der Silberraum hatte seine eigene Luftversorgung und genug Vorräte an Lebensmitteln, Wasser und Blut in Flaschen, um für einen Sterblichen oder einen Vampir drei Monate lang das Überleben zu sichern.
In der Zwischenzeit sorgten Connor und Roman dafür, dass die Formel für die Wachdroge aus allen Computerdateien gelöscht wurde. Jetzt gab es nur noch zwei Quellen für die Formel - eine CD im Silberraum und Romans Gedächtnis. Connor wollte Roman und seine Familie in ein Versteck bringen, aber Roman hielt die Situation noch nicht für schlimm genug.
Da Ian noch ein paar Urlaubstage übrig hatte, war Connor damit einverstanden, dass er sich deshalb direkt zurück ins Stadthaus teleportierte. Im Arbeitszimmer im obersten Stockwerk verband er den Computer mit dem Peilsender in Tonis Handtasche. Er zoomte auf ihren Aufenthaltsort. Shady Oaks psychiatrisches Krankenhaus? Warum sollte Carlos sie dorthin mitnehmen? Das Licht begann zu blinken. Sie bewegten sich.
Sein Handy klingelte, und er zog es aus seinem Sporran. »Hallo?«
»Ian, hier ist Vanda", flüsterte sie. »Du musst sofort in den Club kommen, aber nicht zum Eingang oder in den Hauptsaal. Teleportier dich direkt zu meiner Stimme.«
»Was ist los?«
»Komm einfach her. Jetzt!«, zischte sie.
»In Ordnung.« Er konzentrierte sich auf ihre Stimme. Einige Sekunden später kam er neben Vanda im dunklen Zimmer an.
Er sah sich um. Auf dem Boden lagen, um niedrige Tische verteilt, dick gestopfte Kissen mit Quasten aus roter, violetter und goldener Seide. Auf den Tischen flackerten Kerzen in goldenen Mosaikgläsern und tauchten den Raum in funkelndes Licht. Musik und noch mehr Licht drangen durch die Löcher des geschnitzten Holzschirms, der auf einer Seite des Raumes stand.
»Wo sind wir?«, flüsterte er.
»Im VIP-Room", antwortete Vanda. »Weil wir Haremsdamen waren, fanden wir es cool, das Ganze wie einen Harem aussehen zu lassen. Der Schirm lässt sich öffnen, damit die VIP-Kunden über die Brüstung nach unten sehen können. Aber wenn sie allein sein wollen, schließen wir den Schirm einfach.«
Ian spähte durch ein Loch im Wandschirm. Tatsächlich, unter ihnen befand sich das Horny Devils. Vor der Bühne hüpften Vampirladys fröhlich im Takt mit der Musik auf und ab, während ein männlicher Tänzer in einem schwarzen fließenden Vampircape sich vor ihnen drehte. Unter dem Cape war er bis auf eine schwarze Fliege und eine rote, glitzernde Badehose nackt.
Ian krümmte sich. Dracula würde sich in seinem Grab umdrehen.
»Übrigens haben mich alle Mädchen da unten nach dir gefragt", sagte Vanda. »Sie wollen dich kennenlernen.«
»Warum? Damit sie mich auslachen können?«
»Nein, tatsächlich wollen sie alle die Ehre, dir deine Jungfräulichkeit nehmen zu dürfen.«
»Verdammt noch mal", murmelte er. »Hast du ihnen gesagt, dass sie ungefähr fünfhundert Jahre zu spät kommen?«
»Das habe ich versucht, aber denen ist Corkys Version lieber. Ich glaube, sie meinen, dass es sie berühmt machen wird, deine Erste zu sein, und dass sie damit Sendezeit in Corkys Show bekommen.«
»Och. Dann ist es Ruhm, den sie wollen, und nicht ich. Gab es einen bestimmten Grund, aus dem du mich hergerufen hast?«
»Ich fürchte schon.« Vanda spähte durch den Schirm. »Schau mal zur Bar.«
Sein Blick wanderte zu Cora Lee, deren blonder Kopf sich nahe an einem untersetzten männlichen Vampir befand. Ians Magen zog sich zusammen, als er ihn erkannte. »Verdammter Mist.«
Besorgt sah Vanda ihn an. »Dann weißt du, wer er ist?«
»Aye. Jedrek Janow.« Ian hatte den mordlüsternen Malcontent zuletzt in der Ukraine gesehen, in jener Nacht, als er Jean-Luc und den anderen geholfen hatte, Angus und Emma zu retten. Jedrek war mit Casimir dort gewesen, doch als die Niederlage der Malcontents offensichtlich wurde, hatten sich die beiden teleportiert und ihre russischen Kameraden ihrem sicheren Ende überlassen.
Shannas Vater und sein Stake-Out-Team von der CIA hatten die russisch-amerikanischen Vampire unter ständiger Überwachung, und sie informierten Connor regelmäßig, seit es ihm gelungen war, Abhörgeräte in ihrem Hauptquartier zu installieren. Leider waren die Wanzen vor ein paar Nächten zerstört worden. Jedrek war gründlich.
»Er hält sich normalerweise in Osteuropa auf", erklärte Ian, »aber vor Kurzem hat man ihm die Verantwortung für den russisch-amerikanischen Zirkel in Brooklyn übertragen.«
»Aber er ist Pole", protestierte Vanda.
»Halb Pole, halb Russe und Casimirs rechte Hand.« Ian sah Vanda neugierig an. »Woher kennst du ihn?«
Schmerz flackerte über ihr Gesicht. »Sagen wir, er hat sich sehr gut mit den Nazis verstanden. Er ist ein bösartiger Mörder, und sein Treiben macht ihm Spaß.«
»Ein Aushängeschild für die Malcontents.« Ian spähte durch den Schirm. »Er trinkt Blier, um Cora Lee vorzumachen, er sei ein normaler Vampir.«
»Leider ist es nicht sehr schwer, Cora Lee etwas vorzumachen.«
Ian strengte sich an, aber er konnte Jedreks leise Stimme durch die laute Musik und die kreischenden Frauen hindurch nicht verstehen. »Ich muss wissen, was er sagt.«
Vanda legte die Stirn in Falten und dachte nach. »Wenn ich runtergehe, wird er mich erkennen, und - oh, ich weiß. Auf meinem Schreibtisch ist eine Gegensprechanlage, die mit der Bar verbunden ist. Ich benutze sie, wenn ich mit Cora Lee reden will. Hier entlang.«
Hinter einem durchsichtigen roten Vorhang lag eine fast verborgene Tür, die sie jetzt durchschritten. Ian folgte ihr eine Treppe hinunter und in ihr Büro.
»Ist sie das?« Er langte nach der Anlage auf dem Tisch.
»Warte. Das ist eine Verbindung in beide Richtungen", warnte sie ihn. »Wir müssen vollkommen leise sein.«
Er nickte und drückte mit dem Finger auf den Knopf.
»Dann kennst du Ian?«, fragte Cora Lee gerade.
»Sicher", antwortete Jedrek mit einem falschen Brooklynakzent. »Wir kennen uns schon ewig. Ich fasse einfach nicht, wie er jetzt aussieht.«
»Ich weiß! Ich habe ihn erst selber nicht erkannt", gestand Cora Lee. »Ich kann nicht glauben, dass er einfach so älter geworden ist.«
»Und du sagst, das ist in Texas passiert?«, hakte Jedrek nach.
»Das hat Ian jedenfalls gesagt.«
»Süße, könntest du mir noch ein Blier bringen? Das Zeug ist einfach fantastisch, Roman ist ein Genie.«
»Das ist er wirklich. Kennst du ihn auch?«
»Wer nicht? Der Kerl ist schließlich berühmt", bemerkte Jedrek beiläufig. »Aber weißt du was? Er sieht auch irgendwie älter aus.«
»Jepp, er hat plötzlich graue Schläfen bekommen.«
»Aber er ist nicht nach Texas gegangen, oder?«, fragte Jedrek.
»Nein, er war hier, als es passiert ist. Heiliger Strohsack, ich kann mir nicht vorstellen, wieso irgendwer älter aussehen will.«
»Sie würden es auf sich nehmen, wenn ein wirklich wichtiger geheimer Grund dahintersteckt", dachte Jedrek laut nach.
Vanda konnte ein erschrecktes Keuchen nicht unterdrücken, doch Ian schüttelte den Kopf, um sie daran zu erinnern, dass sie ruhig bleiben musste. Sicher hatten sie die gefährliche Situation voll erfasst. Wenn die Malcontents in der Lage wären, den Tag über wach zu bleiben, würden sie die Vampire, die hilflos in ihrem Todesschlaf lagen, einfach abschlachten.
Das Telefon auf Vandas Schreibtisch klingelte, und Ian nahm sofort den Finger vom Knopf der Gegensprechanlage, um die Verbindung zu kappen. Mit einem entschuldigenden Gesichtsausdruck ging Vanda ans Telefon.
Ian rannte die Treppe hinauf zurück in den VIP-Harem und spähte durch den Wandschirm. Cora Lee musste das Klingeln gehört haben, denn sie ging an ihr Telefon. Mit einem verwirrten Blick legte sie wieder auf. In der Zwischenzeit betrachtete Jedrek mit zusammengekniffenen Augen die Umgebung. Sein Misstrauen war geweckt.
Er könnte sich nach unten teleportieren und ihn herausfordern, dachte Ian gerade, aber ehe er das Für und Wider abwiegen konnte, verschwand Jedrek.
»Was ist passiert?« Vanda stürzte in den Raum.
»Er ist weg.«
»Verdammtes Telefon", murmelte sie. »Das war der Tänzer, den ich Dienstag gefeuert habe. Er hat gehört, dass Corky mich verklagen will, also macht er das Gleiche. Dieser Bastard.«
»Ich besorge dir den Namen von Angus' Anwalt", bot Ian ihr an. »Er ist der beste in unseren Kreisen. Und mach dir keine Sorgen wegen Corky. Ich bezahle, was es kostet, sich mit ihr zu einigen. Wegen mir darf dir kein Schaden entstehen.«
»Aber ich habe sie angegriffen.« Vanda fuhr sich mit der Hand durch ihre strubbeligen Haare. »Und jetzt noch der Mist mit Jedrek Janow. Er hört nicht auf, bis er weiß, was dich hat altern lassen. Und wenn er die Droge in die Finger bekommt...«
»Ich weiß. Die bringen uns alle im Schlaf um.«
Vanda presste eine Hand gegen ihre Stirn. »Das ist alles meine Schuld. Ich habe dich zu berühmt gemacht, und jetzt bist du in Gefahr. Jedrek wird Jagd auf dich machen. Er wird - er wird...«
»Es kommt alles wieder in Ordnung.«
»Aber ich habe einfach alles falsch gemacht", rief sie. »Du bist für mich wie einer meiner kleinen Brüder. Und die habe ich alle verloren. Ich kann es nicht ertragen, dich auch zu verlieren, nicht, wenn alles meine Schuld ist.«
»Schh.« Er zog sie in seine Arme und klopfte ihr sanft den Rücken. »Ich gebe dir nicht die Schuld, Vanda. Dein Herz ist am rechten Fleck. Aber ich wüsste es wirklich zu schätzen, wenn du Cora Lee und Pamela sagst, sie sollen ihre verdammten Klappen halten.«
»Mach ich, mach ich.« Vanda trat einen Schritt zurück und schniefte. »Und ich versuche weiter, die perfekte Partnerin für dich zu finden. Ich mache eine Liste von allen Mädchen, die dich treffen wollen, und befrage sie vorher selbst, um die auszusortieren, die nur wegen dem Ruhm hinter dir her sind.«
Ian konnte sich denken, dass das alle waren, aber er wollte auch Vandas Angebot nicht ausschlagen. »Das wäre toll. Danke.«
Sie kniff ihre Augen fest zusammen. »Ich will, dass du glücklich bist, Ian. Und in Sicherheit.« Als sie ihre Augen öffnete, blitzte Wut in ihnen. »Gott steh mir bei, wenn dieser Bastard Jedrek dir etwas antut...«
»Vanda, versprich mir, dass du wegen Jedrek Janow nichts unternehmen wirst. Überlass ihn mir und Connor.«
Mit einem tiefen Seufzer willigte sie ein. »Okay, aber sei bitte vorsichtig. Er wird Antworten wollen, und du bist derjenige, der sie ihm geben kann.«
»Ich weiß.« Ian wurde plötzlich klar, dass Jedrek gerade jetzt auf der Jagd nach ihm sein könnte. Und mit Sicherheit würde er zuerst in Romans Stadthaus nach ihm suchen. »Ich muss deinen Computer benutzen.«
Er raste die Treppe hinunter in Vandas Büro und griff mithilfe des Computers auf den Peilsender in Tonis Handtasche zu. Sie war zurück im Stadthaus. Und allein.
Ians Magen zog sich zusammen. Toni, dachte er nur, ehe er sich teleportierte.