1. KAPITEL
Die Luft vibrierte vor Bassgitarren und wilder Lust. Hier war er genau richtig.
Ian MacPhie schlenderte durch das renovierte Lagerhaus. Seine Schritte glichen sich dem Rhythmus der hämmernden Drums an. Das Horny Devils war der beste Ort, den er sich denken konnte, um eine Frau zu finden. Der Nachtclub quoll über vor Frauen. Alle bezaubernd, alle Vampire.
Durchdringend rote und blaue Laser sausten hier und da an ihm vorbei und beleuchteten die kaum verhüllten hüpfenden Körper der Frauen, die nahe an der Bühne tanzten. Sie wogten mit der Musik wie das wilde Meer bei Hochwasser, und er ließ sich von der gierigen Unterströmung zu ihnen ziehen.
Eines der roten Lichter blitzte an ihm vorbei, erhellte sein Gesicht und ließ ihn einige Sekunden lang erblinden. Kurz stieg Panik in ihm auf. Was, wenn keine dieser Frauen ihn attraktiv fand? Was, wenn er zwölf Tage lähmender Schmerzen ertragen hatte, um älter auszusehen... und hässlich?
Als Vampir konnte er sein neues Gesicht nicht im Spiegel betrachten. Er war auf einigen Digitalfotos aufgetaucht, die bei Jean-Lucs Hochzeit entstanden waren, jedenfalls glaubte er das. Den fremden Mann auf den Bildern kannte er zumindest nicht. Heather hatte ihm versichert, dass er gut aussah, aber sie war so eine glückliche Braut gewesen, dass sie an diesem Tag einfach alles für schön gehalten hatte.
Während Ians Augen sich an die Umgebung gewöhnten, stellte er fest, dass der kurze Anflug von Panik nicht bemerkt worden war. Keine der Frauen sah ihn an. Sie hatten sich alle zur Bühne gewendet, und ihre Blicke klebten an einem männlichen Tänzer, der den Laufsteg auf und ab stolzierte und einen indianischen Federschmuck auf dem Kopf trug. Die Kriegsbemalung auf seiner haarlosen Brust stellte einen Pfeil dar, der gen Süden zeigte, wo ein Bündel strategisch platzierter Adlerfedern sein Kriegsbeil bedeckte.
Ian atmete tief durch und versuchte, die Situation einzuschätzen. Sicher, die Damen hatten ihn noch nicht bemerkt, aber er hatte auch noch nicht wirklich versucht, ihre Aufmerksamkeit zu erregen. Diese Mädchen waren auf jeden Fall in lüsterner Stimmung, also standen seine Chancen gut. Zeit, sein neues Gesicht auf die Probe zu stellen.
Was sollte er eigentlich sagen? Jean-Luc hatte bei Heather mit Charme und Witz Erfolg gehabt. Das würde er auch hier versuchen. »Guten Abend, Ladys.«
Das Dröhnen der Musik war so laut, dass nur zwei der weiblichen Vampire ihn hörten. Sie drehten die Köpfe und musterten ihn ungeniert von oben bis unten.
»Nicht schlecht«, rief eine der anderen zu.
Ian schenkte ihnen, hoffte er wenigstens, ein charmantes Lächeln, auch wenn es etwas ins Wanken geriet, als er sah, dass eine der beiden schwarzen Lippenstift trug. Er nahm an, moderne Mädchen hielten das für schön, aber ihn erinnerte es eher an die Beulenpest.
»Schöner Kilt«, brüllte das Mädchen mit den schwarzen Lippen. »Niedliche Knie.«
»Bist du kein Tänzer?«, brüllte die andere.
»Nay. Erlaubt, dass ich mich vorstelle. Ich bin Ian Mac...«
»Oh, ich dachte, der Kilt wäre ein Kostüm!« Eine der beiden Mädchen lachte. »Ziehst du dich ernsthaft so an?«
Nun brach auch die mit den schwarzen Lippen in Gelächter aus.
»Wir wollen schon mehr als deine Knie sehen!«
Ian zögerte. Er brauchte eine witzige, charmante Antwort. »Ich bin mir sicher, das ließe sich einrichten.«
Leider blieb sein Versuch, charmant zu flirten, vollkommen unbemerkt. Das plötzliche Ansteigen der grellen Schreie lenkte die beiden Mädchen ab, und sie drehten sich wieder zur Bühne um. Federn flogen, und die Frauen sprangen auf und ab, entschlossen, ein gefiedertes Souvenir einzufangen.
»Bitte entschuldigt«, versuchte Ian die Aufmerksamkeit der beiden Mädchen wieder auf sich zu lenken. »Darf ich euch zu einem Drink einladen?«
»Die gehört mir!« Das schwarzlippige Mädchen schob ihre Freundin zur Seite, damit sie sich eine Feder schnappen konnte.
Ian, bestürzt darüber, wie die beiden einander herumstießen, trat einen Schritt zurück. Er warf einen Blick zur Bühne und musste schlucken. Bei allen Heiligen, die Frauen hatten den Tänzer gerupft wie ein Huhn. Diese modernen Frauen waren aggressiver, als ihm bisher bewusst gewesen war. Eigentlich wollte er auf der Suche nach einer Partnerin der Jäger sein.
Damit ihn die rasenden, nach Federn grapschenden Frauen nicht überrannten, trat Ian einen Schritt zurück. Vielleicht war alles nur eine Frage des Timings. Aye, Timing war sehr wichtig, wenn man auf Beutejagd war. Er würde sich zurücklehnen und den richtigen Augenblick abwarten. Früher oder später mussten die Tänzer eine Pause machen, und vielleicht ließen die Damen sich dann leichter beeindrucken.
Und während er wartete, konnte er seine Nerven mit einem ordentlichen Drink stärken. Er schlenderte zur Bar. Alles lief prima. Er suchte nach einem Mädchen, das ehrlich, treu, hübsch und intelligent war. In dieser Reihenfolge. Und natürlich musste sie sich wahnsinnig in ihn verlieben.
Letzteres war etwas schwierig. Wie schaffte man es, dass sich das perfekte Mädchen in einen verliebte? Seine angeblich niedlichen Knie würden dazu wohl nicht ausreichen.
Die Barkeeperin hatte ein Telefon an einem Ohr und ihre Hand auf das andere gedrückt, um die laute Musik zu dämpfen. »Klar, sprich weiter. Du bist aus Kalifornien? Heiliger Strohsack, das ist weit weg.«
Neben ihr tauchten wie aus dem Nichts zwei junge Frauen auf. Sie hatten die Stimme der Barkeeperin als Anhaltspunkt genutzt, um sich an den richtigen Ort zu teleportieren.
»Willkommen im Horny Devils.« Die Barkeeperin lächelte und legte den Hörer auf. »Was wollt ihr trinken?«
»Zwei Blood Lite«, bestellte eines der kalifornischen Mädchen. Sie klappte ihr glitzerndes, mit Strasssteinen beklebtes Handy zu und ließ es in ihre glänzende Handtasche fallen.
Das zweite Mädchen zeigte auf die Bühne. »Oh mein Gott, ist der heiß!«
Die Mädchen vergaßen ihre Drinks und flitzten auf die Bühne zu.
Ian hob eine Hand zum Gruß. »Guten Abend, Ladys.«
Ohne ihn eines Blickes zu würdigen, rauschten sie an ihm vorbei, nur Augen für den tanzenden Indianer, dem lediglich zwei Federn geblieben waren.
Wohin war die Welt gekommen, wenn ein Mann mit ehrlichen Absichten sich mit einem männlichen Stripper messen musste? Ian seufzte. Wie beeindruckte man moderne Frauen von heute? Vielleicht konnte Vanda ihm einen Rat geben. Mit ihrem violetten, strubbeligen Haar und ihrer Lycra-Kleidung hatte sie sich zu einer sehr modernen Frau entwickelt. Und zu einer sehr erfolgreichen, wie es schien, wenn sich die Vampire schon von der Westküste herteleportierten, um ihren Club zu besuchen.
Ian ließ sich auf einem Hocker an der Bar nieder und erhielt ein strahlendes Lächeln der Barkeeperin. Miss Cora Lee Primrose trug vielleicht keine Reifröcke mehr und hatte ihre blonden Haare auch nicht mehr zu Löckchen gelegt, aber sie klang immer noch wie eine Südstaatenschönheit aus der Zeit des Bürgerkriegs.
»Hallo«, begrüßte sie ihn, »möchtest du das Neueste aus der Fusion Cuisine verkosten?«
»Es gibt etwas Neues?« Er war zu lange fort gewesen.
»Jepp. Nennt sich Blier. Synthetisches Blut vermischt mit...«
»Bier?«
Cora Lee sah enttäuscht aus. »Hattest du schon welches?«
»Nay. Nur gut geraten. Ich nehme ein Glas.« Ian zog einen Fünfer aus seinem Sporran und legte ihn auf die Theke, während Cora Lee ein Glas mit bernsteinfarbener Flüssigkeit füllte. Der Duft nach Blut und Hefe ließ ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen. Bei allen Heiligen, es war Jahrhunderte her, seit er das letzte Mal Bier geschmeckt hatte.
»Bitte sehr.« Cora Lee stellte das Glas vor ihn hin.
Er nahm einen langen Zug und leckte sich dann den rötlichen Schaum von den Lippen. »Ausgezeichnet.«
Lächelnd schaute sie ihn an. »Freut mich, dass es dir schmeckt. Bist du neu in der Stadt?«
Teufel noch eins. Er hatte gedacht, ihr Lächeln bedeutete, dass sie ihn erkannt hatte, aber das hatte sie nicht. Er nahm noch einen Schluck Blier, um den Schmerz zu ertränken. Cora Lee war fünfzig Jahre lang Teil von Romans Harem gewesen, hatte im gleichen Haus gewohnt, in dem auch Ian lebte und als Wachmann tätig war. Hatte er sich so sehr verändert?
»Ich bin es, Ian.«
Ihre blauen Augen wurden rund. »Ian?«
»Aye. Ian MacPhie.«
»Du kannst nicht Ian sein. Der ist nur ein Junge.«
Er starrte düster in sein Bierglas. Es war ein Wunder, dass er nicht wahnsinnig dabei geworden war, fünf Jahrhunderte lang wie ein Kind behandelt zu werden. »Du hast mich immer gebeten, dein Korsett enger zu schnallen. Du musst gedacht haben, ich wäre zu jung, um zu sehen, wie sich deine Hüfte rundet, oder wie dein Korsett deine Brüste...«
»Also so was, ich hätte nie...!« Cora Lee trat einen Schritt zurück.
»Nay, mit mir nicht, das ist sicher.«
Sie schnaubte. »Ich würde mich nie einem Kind hingeben.«
»Ich bin dreihundert Jahre älter als du«, knurrte er.
Sie legte ihren Kopf zur Seite und betrachtete ihn genau. »Ich muss schon sagen, deine Augen sehen Ians wirklich erstaunlich ähnlich.«
»Das könnte daran liegen, dass ich Ian bin.«
»Bist du sicher?«
»Natürlich bin ich sicher. Wer sollte ich sonst sein?«
Misstrauisch betrachtete sie ihn. »Es ist nur... ich erinnere mich nicht daran, dass du so...«
»Charmant bist?«
»Brummig.« Sie seufzte. »Ian war so ein wohlerzogener freundlicher Junge. Ich mochte ihn wirklich gern.«
»Verdammt noch mal, ich bin nicht gestorben. Ich sehe jetzt nur zwölf Jahre älter aus.«
»Heiliger Strohsack. Wie hast du das angestellt?«
Ian zögerte. Romans Wachdroge hielt er lieber geheim. »Ich habe etwas... gegessen. In Texas.«
»Etwas gegessen? Du wolltest älter aussehen?«
»Aye.«
»Aber warum sollte man so etwas Furchtbares tun?«
Er knirschte mit den Zähnen. Jahrhundertelang hinter einem fünfzehn Jahre alten Gesicht eingesperrt zu sein war die Hölle auf Erden gewesen. Wenn Cora Lee sich das nicht denken konnte, na ja, dann musste er es ihr auch nicht erklären. »Vielleicht will ich bloß flachgelegt werden.«
Sie schnaufte. »Und du warst immer so ein netter Junge.«
»Aye.« Er kippte den Rest seines Bliers hinunter.
Cora Lee betrachtete ihn und legte die Stirn in Falten. »Wenn du hast, was du wolltest, warum bist du dann noch so brummig?«
»Ich bin nicht brummig!«
Ihre Augen wurden plötzlich groß. »Ach, ich verstehe. Du bist noch gar nicht flachgelegt worden. Vielleicht kann ich da helfen.«
Verdammt, er konnte alleine auf Jagd gehen. Ihm fiel auf, dass die Musik leiser geworden war. Der indianische Tänzer hatte die Bühne verlassen, und die weiblichen Eingeborenen wurden rastlos. Jetzt war ein guter Ratgeber gefragt. »Ist Vanda da? Ich muss sie sprechen.«
»Nur einen Augenblick.« Cora Lee eilte an einen Tisch, an dem ein weiblicher Vampir saß und mit einigen männlichen Kunden sprach. »Pamela! Du errätst nie, wer der Typ da drüben ist.«
Wollte Cora Lee ihn mit Lady Pamela Smythe-Worthing verkuppeln? Nein. Verdammt, nein. Die britische Viscountess aus der Regency-Ara war auch Teil von Romans Harem gewesen, und sie hatte fünfzig Jahre damit verbracht, ihn von oben herab zu behandeln.
Lady Pamela stand auf und betrachtete ihn. Ihr gerüschtes Empirekleid war wohl Vergangenheit. Sie hatte sich ganz der modernen Zeit hingegeben und trug einen roten Minirock und ein schwarzes Lederjäckchen.
»Oh je, sieh sich einer den schäbigen alten Kilt an.« Lady Pamelas arroganter Akzent hatte sich nicht verändert. »Er muss noch einer von diesen Barbaren aus Schottland sein. Stirbt in diesem furchtbaren Land niemand mehr eines natürlichen Todes?«
Ian hob eine Augenbraue. Sie musste einfach wissen, dass er sie hören konnte.
Cora Lee grinste. »Pamela, das ist Ian!«
Pamelas Augen weiteten sich. »Du beliebst zu scherzen. Ich werde mich furchtbar aufregen, wenn du deine Spielchen mit mir treibst.«
»Es ist wirklich Ian«, sagte Cora Lee nachdrücklich. »Er ist ganz schön gewachsen.«
»Das ist er tatsächlich.« Pamela betrachtete ihn von oben bis unten. »Ich muss schon sagen, dadurch ergibt sich natürlich eine ungemein wichtige Frage.«
»Du meinst, wie ist das passiert?«, riet Cora Lee. »Er hat gesagt, es war etwas, das er...«
»Nein«, winkte Pamela ungeduldig ab. »Die Frage ist...«, sie beugte sich näher zu Cora Lee, »... ist er noch eine Jungfrau?«
»Heiliger Strohsack!« Cora Lee kicherte. »Er hat gesagt, er will flachgelegt werden.«
»Hmm.« Gedankenverloren klopfte sich Pamela mit einem Finger an die Wange. »Eine fünfhundert Jahre alte Jungfrau. Das könnte interessant werden.«
Verdammt. Man konnte es getrost Lady Pamela überlassen, wenn man sich wie ein Zirkusclown fühlen wollte. Ian kehrte ihr einfach den Rücken zu und ging auf Vandas Büro zu.
»Moment mal!« Cora Lee rauschte in Vampirgeschwindigkeit an ihm vorbei und blockierte die Tür. »Vanda regt sich furchtbar auf, wenn wir sie unterbrechen, obwohl sie beschäftigt ist.«
»In der Tat.« Lady Pamela schlenderte zu ihnen. »Vanda ist der kluge Kopf in diesem Unternehmen.« Sie strich sich ihr langes blondes Haar hinter die Ohren. »Wir hingegen sind für die schönen Aussichten zuständig.«
»Das sind wir wirklich.« Cora Lee klimperte mit ihren Wimpern.
»Gratuliere«, knurrte Ian. War den beiden Damen klar, dass sie gerade zugegeben hatten, keinen Verstand zu besitzen? Im Stillen hob er Intelligenz auf seiner Wunschliste von Platz vier auf Platz drei.
Cora Lee öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinein. »Huuhuu, Vanda! Es will dich jemand sprechen.«
»Hoffentlich ein sexy neuer Tänzer«, knurrte Vanda. »Die Umsätze sind diesen Monat zurückgegangen.«
»Ich muss schon sagen, fantastischer Einfall!« Pamela grinste Ian verschlagen an.
Er drängte sich an ihr vorbei in das Büro.
Vanda blickte von ihrem Bildschirm auf. »Schönes Kostüm. Lass mal sehen, was du unter dem Kilt hast.«
»Oh prima!« Cora Lee klatschte in die Hände.
»In der Tat.« Pamela schloss die Tür hinter ihnen.
»Ich werde mich nicht entblößen.« Ian verschränkte die Arme und legte die Stirn in zornige Falten. »Und das ist kein Kostüm.«
»Oh, die Mädels werden den Akzent lieben.« Vanda stand auf und betrachtete ihn eingehend. Sie trug ihren üblichen violetten Overall mit einer schwarzen Peitsche um die Hüfte. »Du brauchst einen karierten Tanga passend zum Kilt.«
»Mit einer roten Quaste dran«, fügte Cora Lee hinzu.
»Die reine Wucht«, murmelte Pamela.
»Könntest du die Quaste kreisen lassen?« Vanda beschrieb mit dem Zeigefinger Kreise in der Luft.
Was zur Hölle? Ian trat auf sie zu. »Vanda...«
»Kommt, das ist dem armen Kerl peinlich.« Pamela schlenderte zu Vanda und flüsterte: »Wir glauben, er ist noch Jungfrau.«
Wütend starrte er sie an. »Vanda, erkennst du mich nicht?«
Sie lächelte verschlagen. »Schätzchen, wenn wir uns schon begegnet wären, wärest du keine Jungfrau mehr.«
Pamela lachte. »Und wer von uns bekommt die Ehre, ihn zu entjungfern?«
»Wir könnten Strohhalme ziehen«, schlug Cora Lee vor.
»Ich werde mit keiner von euch schlafen«, knurrte Ian. »Vanda, ich bin es, Ian.«
»Was?« Vanda blinzelte und kniff dann die Augen zusammen. »Nein, das glaube ich kaum.«
»Verdammt noch mal.« Er fuhr mit der Hand durch sein langes Haar und löste dabei versehentlich eine Strähne aus dem Lederband, mit dem er es im Nacken zusammenhielt. »Ich dachte, du könntest mir die Haare schneiden, wie früher. Und ich - ich muss mit jemandem reden.«
»Ian?« Vanda ging zu ihm und betrachtete ihn aus der Nähe. »Bist du das wirklich? Was ist passiert?«
»Ich weiß es!« Cora Lee fuchtelte mit einer Hand in der Luft. »Er hat etwas gegessen.«
»Du hast etwas gegessen?« Vanda sah ihn zweifelnd an.
»Mich könnte er jederzeit anknabbern«, murmelte Lady Pamela, während sie ihm mit gesenkten Wimpern einen verführerischen Blick zuwarf.
Cora Lee legte ihre Finger an ihren Mund und kicherte.
»Ich kann dazu nicht mehr sagen.« Ian deutete mit dem Kopf auf Cora Lee und Lady Pamela. Bei ihnen wäre ein Geheimnis niemals gut aufgehoben.
Vanda nickte langsam und sah dann die zwei Blondinen an. »Ihr zwei kümmert euch um die Kunden.«
»Pah. Du willst die Jungfrau ja bloß für dich allein.« Lady Pamela stolzierte aus dem Zimmer, dicht gefolgt von Cora Lee.
Nachdem Vanda die Tür geschlossen hatte, ging sie grinsend auf Ian zu. »Ich kann es nicht glauben! Du bist erwachsen.« Sie umarmte ihn. Früher waren sie etwa gleich groß gewesen, aber jetzt reichte sie ihm gerade noch bis ans Kinn. »Was in aller Welt hast du gegessen, das dich älter gemacht hat?«
»Sag's keinem weiter, aber ich habe Romans Wachdroge getrunken. Zwölf Tage lang, also bin ich zwölf Jahre gealtert.«
»Aber du bist so viel größer und breiter... das muss schmerzhaft gewesen sein.«
Das war es. Er zuckte nur mit den Schultern. »Mein Haar ist auch ein ganzes Stück gewachsen. Ich glaube, ich könnte einen Schnitt gebrauchen.«
Sie zog das Lederband aus seinem Pferdeschwanz und trat einen Schritt zurück, um ihn sich anzusehen. »Ich glaube nicht, dass kurze Locken dir noch stehen. Du siehst jetzt irgendwie wild aus.«
Wild? Wie die Berge? Kein Wunder, dass er beim Rasieren solche Probleme hatte. In seinem Kinn war immer ein kleines Grübchen gewesen, aber jetzt fühlte es sich eher wie ein verdammter Krater an. Die meiste Zeit verfluchte er diese Unebenheit, weil er sich ständig blutig schnitt. Rasieren ohne Spiegel war verdammt schwer.
»Mir gefällt dein Haar so lang.« Vanda umkreiste ihren Schreibtisch und zog eine Schere aus der oberen Schublade. »Aber die Spitzen sind ein bisschen zerfranst, also werde ich die nachschneiden.«
»Danke.« Ian setzte sich in den Stuhl vor ihrem Schreibtisch.
Vanda zog eine Haarbürste aus ihrer Handtasche und begann, sein Haar zu entwirren. Ian schloss die Augen und genoss ihre vertraute Berührung. Sie hatte sein Haar die letzten fünfzig Jahre geschnitten, und in dieser Zeit hatte er ihr mehr anvertraut als irgendwem sonst. Selbst mehr als Connor und Angus.
Er konnte keinem anderen Mann sagen, wie frustriert er gewesen war. Connor war sein direkter Vorgesetzter, und ein harter Kerl, der seine Frustration bloß für kindisches Quengeln gehalten hätte. Angus MacKay war der Inhaber von MacKay Security and Investigations und damit Ians Boss. Er war es auch gewesen, der Ian vor dem sicheren Tod gerettet hatte, indem er ihn 1542 verwandelte. Doch Angus hatte sich immer schuldig gefühlt, ihn im Körper und hinter dem Gesicht eines Fünfzehnjährigen eingesperrt zu haben. Nay, er konnte Angus nie wissen lassen, wie unglücklich er gewesen war. Vanda jedoch hatte ihn verstanden und seine Geheimnisse bewahrt.
Die Schere schnappte. »Seit wann bist du wieder in der Stadt?«
»Seit heute Nacht.«
»Hast du dich aus Texas herteleportiert?«
»Nay. Ich war in Schottland.«
»Oh.« Sie schnitt weiter. »Als ich das letzte Mal von dir gehört habe, warst du in Texas und hast Jean-Luc bewacht.«
»Da war ich auch. Letzten Sommer.«
Das Schnippen hörte einen Augenblick auf. »Ich habe gehört, Phil war auch da.«
»Aye.« Interessierte Vanda sich für Phil? Er war eine der Tagwachen in Romans Stadthaus gewesen, als der Harem noch dort gelebt hatte. Soweit Ian wusste, hatte Phil sich von den Damen immer ferngehalten. Das war eine von Angus eisernen Regeln. Ein Wachposten durfte sich nie mit seinen Schützlingen einlassen.
Vanda schnitt weiter. »Und wie geht es Phil?«
»Gut.« Ian fragte sich, ob sie von Phils Geheimnis wusste.
»Kommt er zurück nach New York?«
»Irgendwann schon. Er bildet gerade Jean-Lucs neue Tagwache aus.« In der Zwischenzeit hatte Connor einen neuen sterblichen Wachposten, Tony, eingestellt, der im Stadthaus leben würde, bis Phil zurückkehrte. Ian war ihm noch nicht begegnet, aber er fragte sich, ob auch Tony ein Gestaltwandler war.
»Was hast du in Schottland gemacht?«, fragte Vanda.
»Nicht viel. Nachdem ich so schnell gewachsen bin, hat Angus darauf bestanden, dass ich mir ein paar Monate freinehme, um... mich zu erholen.«
»Dann war es wirklich schmerzhaft.« Sie beugte sich über seine Schulter und sah ihn an. »Geht es dir jetzt wieder gut?«
»Aye.« Das stimmte nicht ganz. In weniger als vierzehn Tagen mehr als zwölf Zentimeter zu wachsen hatte etwas Gewöhnung bedurft. Er musste riesige Mengen synthetisches Blut trinken, um seinen größeren Körper zu füllen. In den Highlands hatte er einige wichtige Reparaturen an seinem kleinen Schloss ausführen lassen. Er hatte nachts bei den Bauarbeiten geholfen und dabei seinen größeren Körper mit Muskeln gepolstert. Trotzdem stolperte er immer noch über seine riesigen Füße und schnitt sich beim Rasieren. »Es geht mir gut.«
Mit einem zweifelnden Schnauben machte sie sich wieder ans Schneiden. »Wie war Schottland?«
»In Ordnung.« Er war immer begeistert, wenn er nach Schottland zurückkehrte, weil es seine Heimat war und seine Seele mit Frieden erfüllte. Aber nach ein paar Nächten merkte er dann wieder, dass jeder Sterbliche, den er aus seiner Vergangenheit kannte, gestorben war. Und dann begann die Einsamkeit.
Vanda seufzte. »Ich habe das Gefühl, du verschweigst mir vieles. Ich dachte, du willst reden.«
»Ich rede doch.«
»Ich habe nicht mehr die ganze Nacht Zeit wie früher. Ich muss mich um mein Geschäft kümmern.«
Es entstand eine Pause, in der nur das klickende Geräusch der Schere zu hören war. Wie konnte er einfach geradeheraus sagen, dass er die wahre Liebe finden, heiraten und danach jahrhundertelang wunschlos glücklich sein wollte, sich aber nicht sicher war, wie man so etwas anstellte? »Wie geht es dem Geschäft?«
»In Ordnung.« Sie warf ihre Schere auf den Schreibtisch und bürstete seine Haare mit mehr Kraft als unbedingt nötig war. »Redest du jetzt, oder muss ich meine Peitsche benutzen?«
Ian grinste. Vanda spielte gerne die Harte, aber sie bellte nur und biss nicht. »Also gut. Ich rede. Mit meinem neuen, älteren Gesicht habe ich mir gedacht...«
»Der Wahnsinn. Ist dein Gehirn etwa auch gewachsen?«
»Sehr lustig. Ich bin heute Nacht hergekommen auf der Suche nach...« Er konnte einfach nicht einer Frau sagen. Vanda würde ihn wahrscheinlich auslachen. »Ich habe einen Krater in meinem Kinn.«
Sie lachte. »Das ist ein Grübchen.« Sie legte ihren Kopf zur Seite und betrachtete ihn eingehend. »Machst du dir Sorgen darüber, wie du aussiehst?«
»Nein, natürlich nicht.« Er rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her.
Sie setzte sich auf den Rand ihres Schreibtischs. »Hat dir noch niemand gesagt, wie du aussiehst?«
»Männer sprechen nicht von solchen Kleinigkeiten. Jean-Lucs Frau hat gesagt, ich sehe... gut aus.«
Vanda schnaubte.
Mist. Er hatte doch gewusst, dass Heather log.
Vanda schüttelte den Kopf. »Gut ist eine riesige Untertreibung. Du bist absolut umwerfend.«
In Ians Herz keimte Hoffnung auf. Vielleicht bestand doch noch die Chance, dass sich die richtige Frau in ihn verlieben würde. »Du - du willst nicht nur nett sein?«
»Bin ich dir je besonders nett vorgekommen?«
»Zu mir warst du jedenfalls immer nett.«
»Na ja.« Sie rückte die Peitsche um ihre Hüfte mit einem genervten Blick zurecht. »Du erinnerst mich an meinen jüngsten Bruder. Aber ich nehme an, ich kann dich jetzt nicht mehr wie ein Kind behandeln.«
»Tut mir leid, dass ich dir den Spaß verderbe«, knurrte er.
»Ich freue mich wirklich für dich, Ian. Es muss aufregend sein, endlich erwachsen zu werden«, besänftigte Vanda ihn lächelnd.
»Aye.« Er trommelte mit den Fingern auf seiner Stuhllehne.
Ihr Lächeln verflog. »Du siehst nicht sehr begeistert aus. Was ist los?«
»Jetzt, wo ich älter aussehe... suche ich nach...«
»Ja?«
»Einer Frau.«
Ihre Mundwinkel zuckten. »Na, das ist ein Anfang.« Plötzlich weiteten sich ihre Augen. »Oh mein Gott, bist du wirklich noch Jungfrau?«
»Nay! Ich bin fast fünfhundert Jahre alt. Worauf zum Henker sollte ich wohl warten?«
»Lady Pamela sagte vorhin, sie glaubt, du bist eine. Und du hast es nicht geleugnet.«
»Das ist nichts, was ein Mann in der Öffentlichkeit ausbreiten sollte. Es ist Privatsache.«
Vanda lachte leise. »Du bist so altmodisch. Sex ist nichts, wofür man sich schämen muss.«
»Ich bin nicht...« Er konnte es nicht leugnen. Bei allen Heiligen, es beschämte ihn. »Es ist nicht der Sex, weißt du. Es ist die Art, auf die ich an die Sache herangehen musste. Es - es hat sich nie richtig angefühlt.«
Es tat gut, dass Vanda ihn ernst nahm. »Wir haben alle Dinge getan, die wir bereuen, um zu überleben.«
»Das war mehr als nur bedauerlich. Ich habe mich nicht ehrenhaft verhalten.« Noch nie hatte er darüber gesprochen.
»Was hast du getan?«
Ian nahm sein schulterlanges Haar im Nacken zusammen und schlang sein Lederband darum. »Nachdem Angus mich verwandelt hat, hat er mir erklärt, wie ich mich ernähren kann. Im Austausch gegen Blut sollte ich den Frauen zu Diensten sein und sie befriedigen.«
Vanda atmete geräuschvoll ein. »Für mich hört sich das gut an.«
Beschämt wendete Ian seinen Blick ab. »Ich wusste nicht, wie. Ich war erst fünfzehn, weißt du, also bin ich zuerst in die Bordelle gegangen, um etwas zu lernen. Ich - habe sehr schnell gelernt.«
»Das ist nicht so furchtbar.«
»Es war furchtbar, nachdem ich mit den Bordellen aufgehört habe. Die Frauen wollten sich nicht verführen lassen, weil sie dachten, ich wäre noch ein Kind. Ich wurde so hungrig, also habe ich Gedankenkontrolle benutzt, damit ich in ihren Augen älter aussehe. Ich habe sie glücklich zurückgelassen, aber...«
»Du hast dich schuldig gefühlt dabei?«
Ian verschränkte seine Hände ineinander. »Aye. Ich habe sie getäuscht. Jede Beziehung, die ich jemals hatte, basierte auf Täuschung und Betrug. Das könnte ich nie wieder ertragen.«
»Verstehe.«
Er setzte sich auf. »Und jetzt kann ich zum ersten Mal im Leben ehrlich sein. Ich kann endlich die richtige Frau für mich finden.«
Vanda lächelte. »Dann bist du hier richtig. Mit deinem hübschen Gesicht dürftest du keine Probleme haben, jemanden für die Nacht zu finden.«
»Ich will nicht nur eine Nacht. Ich habe jahrhundertelang Bettgeschichten gesammelt. Ich will die wahre Liebe finden, das gleiche Glück wie Roman, Angus und Jean-Luc.«
Aus Vandas Lächeln wurde eine Grimasse. »Dann bist du hier falsch. Die Ladys, die hierherkommen, interessieren sich normalerweise nicht für feste Bindungen.«
Ian sackte in seinem Stuhl zusammen. »Und wie kann ich sie dann finden?«
»Vielleicht kann ich helfen.« Sie erhob sich. »Ich habe mir selbst schon überlegt, einen netten Kerl zu finden, deshalb habe ich mich online auf einer Seite angemeldet.« Vanda setzte sich hinter den Schreibtisch und klickte. »Das hier ist die heißeste neue Seite für Singles.«
Ian beugte sich über den Schreibtisch, bis er den Bildschirm sehen konnte. Er überflog die Seite namens ›Single in the City.‹ Sie bewarb sich mit mehr als einer halben Million Mitglieder, alle in der Umgebung von New York. »Das ist nichts für mich. Ich kann mich nicht mit einer Sterblichen verabreden.«
»Warum nicht?«
»Habe ich dir doch gesagt. Ich weigere mich, einer Frau, die ich umwerbe, etwas vorzutäuschen. Ich muss sie belügen, bis ich weiß, dass man ihr vertrauen kann. Und dann, wenn ich meine wahre Natur gestehe, kann sie mir nicht mehr vertrauen. Das würde nie funktionieren.«
»Das sehe ich anders. Bei Roman und Shanna hat es funktioniert.«
»Er hat sie aber nicht von Anfang an umworben. Erst wollte er nur einen Zahnarzt. Die Liebe ist durch Zufall ins Spiel gekommen. Und glaub mir, sie war sehr aufgebracht, als sie die Wahrheit herausgefunden hat.«
Vanda zuckte mit den Schultern. »Sie ist drüber weggekommen.«
»Ich werde keine Frau, die ich umwerbe, belügen. Also muss sie ein Vampir sein. Ein Vampir versteht, was ich durchgemacht habe. Eine Sterbliche würde nie verstehen, wie ich in der Vergangenheit Frauen missbraucht habe. Und das könnte ich ihr auch nicht zum Vorwurf machen.«
»Wenn sie dich liebt, versteht sie es.«
»Ich habe mich schon entschieden. Ich will nur einen Vampir.«
Vanda seufzte. »Okay, aber ich glaube, du schränkst dich damit ein.«
»Und sie muss aus der Flasche trinken, ehrlich sein, treu, intelligent und hübsch.«
»Jetzt schränkst du dich sogar extrem ein.« Vanda betrachtete den Bildschirm mit gerunzelter Stirn. »Zu deinem Glück kann man aber erkennen, wer Vampir ist und wer nicht.« Sie klickte auf ihr Profil. »Siehst du das?«
Interessiert las Ian, was dort geschrieben stand.
Ich genieße das Leben in vollen Zügen. (V)
»Alle Vampire schmuggeln diese Vs in ihre Profile«, erklärte Vanda. »Das ist unser Geheimcode, damit wir wissen, wer wir sind. Wenn jemand dich um ein Treffen bittet, und sie kein V in ihrem Profil hat, lehnst du einfach ab.«
Ians Herz klopfte schneller. So hatte er sich die Jagd nach seiner wahren Liebe nicht vorgestellt, aber es war viel besser als Nichts. »Das könnte tatsächlich funktionieren.«
»Natürlich funktioniert es. Ich habe eine Digitalkamera hier.« Vanda öffnete eine Schublade. »Wir machen ein Foto von dir und füllen dein Profil aus. Das kann ein paar Stunden dauern.«
»Stunden?«
»Das Profil ist ziemlich ausführlich. Du musst einen Aufsatz schreiben.« Ihre Miene hellte sich auf. »Ich weiß! Ich mache das.«
»Du? Warum?«
»Weil ich eine Frau bin, und ich weiß, was Frauen hören wollen. Das ist brillant!« Sie griff sich einen Stift und einen Notizblock.
Ihr Angebot war sehr verlockend, weil Ian keine Ahnung hatte, was er in einem Aufsatz schreiben sollte. »Denk daran, es ist mir wichtig, dass du ehrlich bist.«
»Natürlich. Aber überleg mal, Ian. Wir können nicht in dein Profil schreiben, dass du fünfhundert Jahre alt bist.«
»Ich bin vierhundertachtzig.«
Sie klopfte mit dem Stift auf das Papier und wartete.
»Na schön.« Er stöhnte. »Du kannst sagen, ich bin siebenundzwanzig.«
»Toll.« Sie schrieb die Zahl auf. »Und wie groß bist du?«
»Eins siebenundachtzig.« Er runzelte die Stirn. »Und schreib, ich will eine ehrliche und treue Frau. Und intelligent und schön auch.«
»Kein Problem. Und jetzt lächele und zeig mir deine Grübchen.« Sie hob ihre Kamera. »Und mach dir keine Sorgen. Ich werde dich unwiderstehlich machen.«