11. KAPITEL

 

Am Samstag sah Toni Ian vor Sonnenaufgang nicht mehr. Er hatte sich direkt in den vierten Stock teleportiert, ohne ihr auch nur Hallo zu sagen. Wie war das Interview gelaufen? Ging er ihr aus dem Weg? Eine der Frauen, mit denen er sich getroffen hatte, gefiel ihm. Aber er hatte auch angedeutet, dass er gern mit ihr ausgehen würde. Es war alles so verwirrend.

Viermal am Tag ging sie die Treppen hinauf, um zu kontrollieren, ob alles in Ordnung war. Sie stand dann einfach da, starrte ihn in seinem Todesschlaf an und suchte nach Antworten, die ihr sein schönes ausdrucksloses Gesicht nicht geben konnte.

Direkt nach Sonnenuntergang kamen Dougal und Phineas in die Küche, um ihren Durst zu stillen. Toni hatte sich schnell ein Sandwich gemacht, ehe sie zu ihrem Treffen mit Carlos aufbrechen musste.

»Samstagabend.« Phineas nahm einen Schluck aus seiner aufgewärmten Flasche Blut. »Ich wette, du hast ein heißes Date.«

»Irgendwie schon.« Sie stellte ihren leeren Teller in die Spüle. »Warum kommt Ian nicht runter? Hat er keinen Hunger?

»Oben ist ein kleiner Kühlschrank mit einem Vorrat an Blut", erklärte Dougal. »Trotzdem wünschte ich, er würde runterkommen.«

»Yeah. Das Interview kann nicht so schlimm gewesen sein.« Phineas trank noch etwas aus seiner Flasche.

Nicht ganz so optimistisch wiegte Dougal den Kopf hin und her. »Gregori hat gesagt, es war sogar sehr schlimm.«

Tonis Herz geriet augenblicklich ins Stolpern. »Warum? Was ist passiert?«

Dougal zuckte mit den Schultern. »Gregori wollte gestern keine Details verraten. Aber sie zeigen das Interview heute Abend im Fernsehen.«

Sie würde es sich ansehen müssen. Hoffentlich kam es, ehe sie sich mit Carlos traf. Armer Ian. Versteckte er sich in seinem Zimmer, weil es ihm peinlich war? »Wisst ihr, diese ganze Dating-Geschichte ist doch völlig außer Kontrolle geraten. Die Frauen sind vor zwei Stunden zurückgekommen. Es sind etwa zwanzig, und sie kampieren draußen auf dem Gehweg.«

»Zwanzig Schnecken? Sind die heiß?« Phineas raste aus der Küche.

Toni rannte ihm nach und sah, wie er den Alarm ausstellte. »Phineas, nicht! Die sind so schon schlimm genug. Immer wenn ich aus dem Fenster sehe, fangen sie an zu brüllen.«

»Cool.« Phineas riss die Tür auf und wurde dafür sofort mit Gekreische belohnt. »Ladys.« Er hob seine Hände. »Darf ich vorstellen, Dr. Phang, der Liebesdoktor.«

»Wir wollen Ian!« Sie rannten vor und warfen dabei leere Bierflaschen um.

»Vorsichtig", warnte Toni Phineas.

»Ladys, ihr seid am richtigen Ort. Ich bin ein enger Freund von Ian...«

»Frag ihn, ob er was davon will!« Eines der Mädchen stieß einen langen Schrei aus und hob ihr T-Shirt, um ihre Brüste aufblitzen zu lassen.

»Das ist ein guter Anfang", sagte Phineas. »Noch jemand?«

»Hör auf.« Toni knallte die Tür zu und starrte Phineas wütend an. »Du solltest dich schämen.«

Schuldgefühle löste sie mit ihren Worten bei Phineas nicht aus. Er grinste nur.

Dougals Mundwinkel zuckten, als er die Alarmanlage wieder aktivierte. »Komm mit, Dr. Phang. Wir müssen zu Romatech.«

»Aber das Interview fängt in fünf Minuten an.« Phineas preschte ins Wohnzimmer und fand die Fernbedienung. »Wollt ihr das etwa nicht sehen?«

»Ich schon.« Toni machte es sich auf der kastanienbraunen Couch gemütlich, die auf den Breitbildfernseher ausgerichtet war.

»Ich gehe zur Arbeit.« Dougal warf Phineas einen warnenden Blick zu. »Ich erwarte dich dort in fünfzehn Minuten.«

»Okay, okay", stimmte Phineas ungeduldig zu. »Aber gib zu, Alter, du wirst es dir bei Romatech ansehen.«

Dougal lächelte, »Vielleicht", und verschwand.

Phineas streckte sich auf der Couch neben Toni aus und stellte den Fernseher an. »Siehst du den? Das ist Stone Cauffyn. Er liest die Nightly News.«

Toni hörte zu, wie der Vampirnachrichtensprecher eintönig daherredete. Plötzlich ging ihr Handy los.

»Love Is A Battlefield?« Phineas schnaubte. »Alter, das ist doch Mist. Love is a many-splendored thing, besonders, wenn du bei Dr. Phang bist.«

»Ich versuche es mir zu merken.« Toni eilte in die Empfangshalle, um ihren Anruf entgegenzunehmen. »Carlos?« Sie blickte zu einer Überwachungskamera. »Gerade ist es schlecht.«

»Wir müssen nach Shady Oaks. Beweg deinen hübschen Hintern her, Mädchen, damit wir loskommen.«

»Ich...« Toni warf einen Blick auf den Fernseher im Zimmer nebenan. »Ich brauche noch etwa fünfzehn Minuten.«

»Warum? Hast du nicht dienstfrei, sobald die Sonne untergeht?«

»Ja, aber...« Sie stöhnte innerlich auf. Es passierte schon wieder. Sie wurde in zwei verschiedene Richtungen gezerrt.

»Okay. Ich hole dich auf dem Weg ab. Und ehe du Einspruch erhebst, ich weiß genau, wo du bist, Menina. Ich habe Ian neulich Nacht bei Google gesucht und sein Profil und seine Adresse gefunden. Ich bin in zwanzig Minuten da.« Carlos legte auf.

»Toni, es fängt an!«, brüllte Phineas.

Sie rannte zurück zum Sofa. Auf dem Bildschirm stand in großen, fließenden Worten: »Live mit den Untoten, mit Corky Courrant.«

»Guten Abend, Freunde!« Eine Nahaufnahme zeigte ein Gesicht mit stark umrandeten Augen und prallen Lippen. »Hier ist Corky Courrant aus dem Horny Devils Nachtclub in New York City.«

Die Kamera zoomte zurück, und Toni erkannte den Nachtclub, in dem sie am Abend zuvor gewesen war. Corky saß an einem Tisch, und neben ihr ein ernst dreinblickender Ian.

»Shit, sieh dir die Titten von der an", murmelte Phineas.

»Heute Abend sprechen wir mit Ian MacPhie, der vor Kurzem ein extrem beliebtes Profil auf der Online-Datingseite ›Single in the City‹ erstellt hat.« Corky neigte ihren Kopf in Richtung von Ian. »Es freut uns sehr, dich bei uns begrüßen zu dürfen, Ian.«

»Ist mir ein Vergnügen", sagte Ian.

»Das ist nicht so schlimm", bemerkte Phineas.

»Sieht ganz gut aus", stimmte Toni zu. Mehr als ganz gut. Ian sah umwerfend aus mit seinen blauen Augen und seinem welligen schwarzen Haar. Sein grüner Pullover schmiegte sich an die breiten Schultern und die muskulöse Brust.

»Meine Freunde, dies ist eine besondere Nacht.« Corkys Lächeln verblasste, stattdessen setzte sie eine träumerische Miene auf. »Dann und wann, in den Annalen der Vampirgeschichte, erhebt sich ein Mann, der aus allen anderen heraussticht. Er ist der legendäre Held, der andere zu Symphonien und zu Epen hinreißt, dieser perfekte Mann, der die Fantasien aller Vampirfrauen bevölkert«

Ian rutschte mit gerötetem Gesicht in seinem Sitz hin und her.

»Er ist der Mann, nach dem wir uns alle sehnen", Corky sah hinüber zu Ian, »und dies ist nicht seine Geschichte.«

Erschreckt beobachtete Toni, wie Ian blass wurde.

In Corkys Augen glühte hinterhältige Freude. »Nein, heute Nacht erzählen wir die erbärmliche Geschichte eines einsamen, verzweifelten Mannes, so verzweifelt, dass er versucht, sich online zu verkaufen. Nein, Moment, er ist so armselig, dass eine Freundin ihn online verkaufen muss.«

»Was machst du da?« Vanda kam ins Bild.

»Ah, hier ist die Freundin - Vanda Barkowski. Sag mir, stimmt es, dass Ian zu ungebildet ist, um sein eigenes Profil zu schreiben?«

»Er ist nicht...«, setzte Vanda an.

»Hast du es geschrieben oder nicht?«, fauchte Corky.

»Ich habe geholfen", gab Vanda zu, »aber er ist nicht unge...«

»Ich muss mich fragen, was einen Mann zu so verzweifelten Maßnahmen treibt", fuhr Corky mit einem Lächeln fort. »Also habe ich vor der Sendung ein paar Frauen befragt, die mit Ian MacPhie gut bekannt sind. Hier sind sie...«

Der Bildschirm zeigte die blonde Barkeeperin.

»Sie sind Cora Lee Primrose, ehemaliges Mitglied von Roman Draganestis Harem?«, fragte Corky.

»Ja.« Cora Lee lächelte schüchtern. »Ian war eine unserer Wachen. Er war immer so ein lieber Junge.«

»Junge?«, fragte Corky. »Auf seinem Foto sieht er aus wie dreißig.«

»Das ist, weil er irgendetwas gegessen hat, das ihn hat älter werden lassen", erklärte Cora Lee. »Jahrhundertelang sah er aber aus wie ein fünfzehnjähriger Junge.«

»Das ist erstaunlich. Was können Sie uns noch über Ian erzählen?«

»Na ja.« Cora Lee biss auf ihrer Unterlippe herum. »Er hat mir gesagt, warum er älter aussehen will. Er will endlich flachgelegt werden.«

Das Bild wechselte zurück zu Corky und Ian, der die Stirn in tiefe Falten gelegt hatte.

»Das war ein Scherz", murmelte er.

Ungläubiges Schnaufen kam aus Corkys Richtung. »Das nächste Interview, bitte...«

Wieder erschien eine blonde Vampirfrau auf dem Bildschirm. Toni erkannte Pamela, die Frau aus der Damentoilette.

»Ich bin Lady Pamela Smythe-Worthing, eine der Besitzerinnen dieses Etablissements", begann sie, »und ich kenne Ian seit 1955, als er als Wache für uns, die wir Mitglieder von Roman Draganestis Harem waren, eingeteilt wurde.«

»Ich habe gehört, er sah wie ein Teenager aus", bohrte Corky.

»Das stimmt in der Tat", pflichtete Pamela ihr bei. »Er sah viel zu jung aus, um für uns von Interesse zu sein. Ich persönlich glaube, Ian MacPhie ist eine fünfhundert Jahre alte Jungfrau.«

»Unglaublich.« Corky spielte ganz die Entsetzte. »Dann ist sein Profil nicht mehr als ein verzweifelter Versuch, endlich entjungfert zu werden?«

Pamela lächelte. »Ganz genau.«

Die Kamera nahm erneut Corky und Ian ins Visier.

Vanda legte ihre Hände auf den Tisch und beugte sich zu Corky vor. »Das ist riesiger Mist. Ian sucht nach seiner wahren Liebe.«

»Kannst du bestätigen, dass er keine Jungfrau mehr ist?«, fragte Corky gelassen. »Hast du mit ihm geschlafen?«

»Natürlich nicht", knurrte Vanda.

Corky hob ihre Stimme. »Hat irgendjemand hier mit Ian MacPhie geschlafen?«

Alle Frauen, über hundert, die sich im Club aufhielten und die alle Nein riefen, waren zu sehen und dann wieder eine lächelnde Corky. »Damit wäre wohl alles gesagt.«

»Du hast gesagt, du bist nett zu ihm", schrie Vanda sie an.

Corky zuckte mit den Schultern. »Als engagierte Journalistin ist es meine Pflicht, immer die Wahrheit zu berichten.«

»Die Wahrheit?«, kreischte Vanda. »Die Wahrheit ist, dass du eine boshafte verlogene Schlampe bist!« Sie sprang über den Tisch und packte Corky am Hals.

»Vanda, nicht!« Ian packte sie und versuchte, sie von Corky zu zerren, die geschüttelt wurde wie eine Lumpenpuppe, auch wenn ihre großen Brüste dabei verdächtig ruhig blieben.

Corkys Augen quollen hervor, und sie keuchte nach Luft. »Schnitt!«

Eine Werbung für handgemachte Särge flimmerte über den Schirm. Toni und Phineas starrten den Fernseher schweigend an.

»Mist", flüsterte Phineas.

Toni schluckte verkrampft. »Das war schlimm.«

»Richtig schlimm.« Phineas stand auf und stellte den Fernseher aus. »Na dann, ich muss zur Arbeit.« Er verschwand.

Toni rannte die Treppe hinauf. Carlos würde jede Minute hier sein, aber sie wollte auch nicht gehen, ohne zu wissen, dass es Ian gut ging. Das war schließlich Teil ihres Jobs. Irgendwie.

Nach Luft ringend, erreichte sie das oberste Stockwerk und klopfte an der Tür. Keine Antwort. Sie drehte den Knauf, und die Tür öffnete sich. Das war ein gutes Zeichen. Er hatte sie nicht ausgesperrt.

Im Zimmer war es dunkel, bis auf das Licht, das vom Fernseher kam. Sie öffnete die Tür weiter und bemerkte Corky Courrant auf dem Bildschirm.

»Meine Freunde, ich bin mir sicher, ihr seid aufgebracht, weil ihr mit ansehen musstet, wie diese boshafte Frau versucht hat, mich zu erwürgen.« Corky schluchzte und wischte sich eine eingebildete Träne von der Wange. »Aber weint nicht um mich. Ich komme schon wieder in Ordnung.«

Der Fernseher schaltete sich mitten in einem falschen Schluchzen von Corky aus, und Toni entdeckte Ian, der in der Dunkelheit saß.

Sie schlüpfte ins Zimmer. »Alles in Ordnung?«

»Es geht mir gut, Toni. Ich brauche keinen Babysitter.«

»Ich bin als... Freundin hier.« Sie ging auf ihn zu.

»Hast du das Interview gesehen?« Er legte die Fernbedienung auf den Tisch neben seinem Sessel und nahm eine Flasche Blut. »Natürlich hast du. Die ganze Vampirwelt hat es gesehen.«

»Es tut mir so leid.«

»Spar dir dein Mitleid für Vanda. Corky will sie verklagen.«

»Das ist doch lächerlich! Corky war absichtlich darauf aus, dich zu blamieren. Sie war grausam und bösartig.« Toni ging vor ihm auf und ab. »Auch wenn ich zugeben muss, dass Vanda wie ein kreischender fliegender Affe über den Tisch gehechtet ist.«

Ians Grübchen zeigten sich, und Toni feierte innerlich, dass sie ihn immer noch zum Lächeln bringen konnte.

»Vanda ist eine treue Freundin", sagte er. »Ich komme für den Schaden auf.«

»Aber es war nicht deine Schuld.« Wie ein Tiger im Käfig wanderte sie auf und ab. »Wir könnten beweisen, dass Corky lügt. Du könntest einige von den Vampirfrauen, mit denen du geschlafen hast, zusammentrommeln und...«

»Ich habe noch nie mit einem Vampir geschlafen.« Er nahm einen Schluck aus seiner Flasche.

»Echt?« Sie blieb stehen. »Dann bevorzugst du in Wirklichkeit sterbliche Frauen? Ach, egal.« Wieder ging sie auf und ab. »Wir bringen eine der Sterblichen, mit denen du im Bett warst, dazu...« Nein, das würde nicht funktionieren. Kein Sterblicher hatte DVN gesehen.

»Die meisten von ihnen sind verstorben.« Ian nahm noch einen Schluck.

»Na gut. Dann rufe ich die blöde Kuh einfach selber an und sage ihr, dass ich mit dir geschlafen habe.«

Ians Mundwinkel zuckten. »Du würdest für mich lügen, Toni?«

Das muss ja keine Lüge bleiben, kam es ihr in den Sinn. Sie zuckte zusammen und wünschte sich, sie könnte ihre Gedanken zurückspulen. Er benutzte doch sicherlich nicht seine telepathischen Kräfte an ihr. Ihre Wangen wurden warm, als sie ihm einen misstrauischen Blick zuwarf.

Er betrachtete sie aufmerksam. Ein roter Schimmer färbte seine Augen, ehe er blinzelte und sich abwendete. Er trank noch mehr Blut. »Du solltest gehen, Toni.«

»In Ordnung. Lass dich davon nur nicht runterziehen, okay?«

Ian zuckte mit den Schultern. »Es war von Anfang an albern. Dass jemand wie ich versucht, so eine Art Romeo zu sein, wo ich doch keine Ahnung habe, wie man charmant ist oder wie man flirtet.«

»Das stimmt nicht. Zu mir warst du sehr charmant, und du hast sehr gut geflirtet.« Und das Küssen erst.

Er stellte die Flasche auf den Tisch. »Ich weiß nicht, warum, aber bei dir ist es ganz einfach. Aber das ist jetzt auch egal. Ich höre auf mit dem ganzen Verabredungs-Unsinn.«

»Was?« Sie trat auf ihn zu. »Du gibst auf?«

»Ein Mann sollte immer ehrlich mit sich selbst sein, Toni. Ich bin kein Charmeur, ich bin ein Krieger. Du hast selbst neulich Nacht gesagt, dass ich meine Zeit verschwende.«

»Aber ich...« Das war doch nur Frustration gewesen. Und Eifersucht, wie ihr jetzt klar wurde. Sie verabscheute den Gedanken, er würde eine Vampirfrau vorziehen.

»Du kennst mein Sündenregister", fuhr Ian fort. »Glaubst du wirklich, dass ein Mann wie ich es verdient hat, geliebt zu werden?«

Glaubte er tatsächlich, er hätte es nicht verdient? Toni stiegen Tränen in die Augen. Als sie Ian zum ersten Mal begegnet war, hatte sie gedacht, sie wären vollkommen verschieden, doch das Gegenteil war der Fall.

Es war die letzte ihrer morgendlichen Gedankenübungen, die er genannt hatte, und damit die, die zu glauben ihr am schwersten fiel. Ich bin es wert, geliebt zu werden. Wie konnte sie das je verdienen? Sie hatte diejenigen, die auf sie zählten, immer im Stich gelassen. Armer Ian. Auch er fühlte sich unwürdig. Ihr Herz schmerzte für ihn.

»Du musst nicht antworten.« Ian stand auf und ging fort. »Der Ausdruck auf deinem Gesicht sagt mir, wie du dich fühlst.«

»Aber das tust du!« Die Worte platzten aus ihr heraus. »Du verdienst es, geliebt zu werden.«

Er drehte sich zu ihr um und sah sie überrascht an.

Mit einiger Mühe blinzelte sie die Tränen fort. »Wage es ja nicht aufzugeben, Ian.« Sie rannte zur Tür.

»Toni.« Ihr Name war nur ein leises Flüstern, so leise, dass sie sich nicht sicher war, ob sie ihn wirklich gehört hatte.

Sie blieb an der Tür stehen und blickte zurück. Eine Welle der Sehnsucht stieg in ihr auf.

Ian trat auf sie zu, und Toni keuchte auf.

Seine Augen waren leuchtend rot.

Sie stolperte aus dem Zimmer und schloss die Tür hinter sich. Lieber Gott, was machte sie bloß? Sie war dabei, sich Hals über Kopf in einen Vampir zu verlieben.

****

Ian öffnete die Fensterläden aus Aluminium und sah aus dem Büro im vierten Stock hinab auf die Straße. Er zählte auf dem Gehsteig zweiundzwanzig Frauen, die sich alle gegen die Kälte eingemummelt hatten und Plakate in der Hand hielten. Eine trug ein Diadem, das im Licht der Straßenlaterne funkelte.

Ein schnittiger schwarzer Jaguar blieb vor dem Stadthaus stehen, und die Frauen schlenderten herüber, um ihn sich anzusehen. Plötzlich fiel Licht vom Haus auf den Gehweg. Die Frauen kreischten und rannten auf die Tür zu. Gerade, als Ian sich fragte, ob er Eindringlinge ins Haus würde abwehren müssen, wurde es wieder dunkel.

Der Fahrer sprang aus dem Jaguar. Carlos. Er bahnte sich einen Weg durch den Haufen aufgeregter Frauen und führte eine von ihnen zurück zu seinem Wagen. Toni.

Es ärgerte Ian, als ihm klar wurde, dass Carlos sie aus einer wilden Meute gerettet hatte. Der Jaguar sauste die Straße hinab. Was hatten sie jetzt vor? Noch ärgerlicher war es, als ihm klar wurde, dass sie ihre Freizeit lieber mit Carlos verbrachte.

Oder fühlte sie sich einfach sicherer bei einem Sterblichen, der noch dazu wahrscheinlich schwul war? Wie sehr er sich zu ihr hingezogen fühlte, hatte sie sicher bemerkt. Ihr schneller Abgang aus dem Arbeitszimmer sprach Bände. Allerdings hatte sie beim Anblick seiner rot unterlaufenen Augen erschreckt gekeucht. Hatte sie Angst vor seinem Dasein als Untoter? Wahrscheinlich. Nur knapp hatte sie eine hinterhältige Attacke von Vampiren überlebt, warum sollte sie sich da von einem anderen Vampir umgarnen lassen?

Doch der Kuss musste ihr gefallen haben. Sie hatte ihn nicht weggestoßen. Vielleicht gab es doch noch Hoffnung. Er schloss seine Augen und stellte sie sich in ihrem winzigen Rock vor. Er würde ihre goldenen Schenkel streicheln, dann mit seiner Hand unter den Rock gleiten und die süße Rundung ihrer Hüften und ihres Hinterns ertasten und das weiche, feuchte Fleisch zwischen ihren Beinen.

Mit einem tiefen Atemzug brachte er Ordnung in seine Gedanken. Was für ein Trottel er doch war. Sein Verstand wusste, dass ein weiblicher Vampir der passendere Partner für ihn war. Und doch zog es ihn zu einer Sterblichen hin. Schlimmer noch, einer Sterblichen, die verboten war.

Sie faszinierte ihn vollkommen - körperlich, emotional, intellektuell. Sie war so eine interessante Mischung aus Entschlossenheit und Selbstzweifeln, aus emotionaler Stärke und verborgenen Wunden. Sie erinnerte ihn an sich selbst.

Und was waren ihre geheimen Motive für ihre Arbeit hier? Was brachte eine intelligente Frau mit einer leuchtenden Zukunft dazu, die Untoten zu bewachen? Vor allem mit der sicheren Gewissheit, ihre Erinnerungen zu verlieren, wenn sie sie wieder verließ? Er musste es wissen. Letzte Nacht, während sie schlief, hatte er sich in ihr Schlafzimmer teleportiert und einen Peilsender in ihrer Handtasche versteckt. Wenigstens hier würde er einen Schritt weiterkommen.

Er schlenderte zurück ins Schlafzimmer, um zu duschen und sich etwas anderes anzuziehen. Nachdem er sich um die Frauen auf dem Gehsteig gekümmert hatte, teleportierte er sich auf den Parkplatz von Romatech Industries.

Connor zeigte keine Reaktion, als Ian ins Büro des Sicherheitsdienstes trat. Er stellte einfach nur den Fernseher aus.

Dougal und Phineas sahen Ian mitfühlend an, ehe sie sich auf ihre Schuhe konzentrierten. Verdammt noch mal. Mitleid hasste er noch mehr als Demütigung.

»Wir gehen besser mal unsere Runde ab.« Dougal ging voraus. »Komm, Phineas.«

Phineas blieb auf halbem Weg stehen. »Mann, diese Schlampe Corky hat echt einen Schaden. Soll ich mit ihr einige Fakten klären?«

»Nay.« Ian lächelte halbherzig. »Aber ich weiß den Gedanken zu schätzen.«

»Jederzeit, Alter.« Phineas hob eine Faust und schlug damit in die Luft. »Ich deck dir den Rücken.« Er schloss die Tür, nachdem er gegangen war.

Connor setzte sich hinter seinen Schreibtisch und betrachtete Ian schweigend.

»Leg los.« Ian verschränkte die Arme vor den Schultern. »Ich könnte mir denken, du möchtest mich anbrüllen.«

»Ich könnte mir denken, dass du schon genug Demütigungen für eine Nacht ertragen hast.«

Ian hob sein Kinn. »Halt dich nicht meinetwegen zurück. Ich habe eine hohe Schmerzbarriere.«

Connors Gesicht blieb ausdruckslos, aber Ian entdeckte ein amüsiertes Funkeln in seinen blauen Augen. »Du hättest wissen müssen, dass man Corky nicht vertrauen kann.«

»Das wusste ich, und ich habe Vanda gewarnt. Sie hat mir nicht geglaubt.«

Connor lehnte sich in seinem Stuhl zurück. »Ich wage, zu behaupten, dass sie dir jetzt glaubt.«

»Aye.« Ian lächelte und erinnerte sich daran, wie Toni sie mit einen kreischenden fliegenden Affen verglichen hatte.

»Die Situation ist kaum zum Lachen. Ich habe gehört, dass über zwanzig Frauen vor dem Stadthaus ihr Lager aufgeschlagen haben.«

»Keine Sorge. Die sind alle verschwunden. Ich habe mich darum gekümmert.«

Connor sah ihn ausdruckslos an. »Und hast du ihre Leichen sorgfältig beseitigt?«

»Ich habe sie nicht umgebracht!« Ian hielt inne, als er sah, wie Connors Mundwinkel zuckten. Dieser blöde Schotte trieb nur seine Scherze mit ihm. »Sehr lustig.«

Lachend erhob Connor sich von seinem Stuhl. Er ging auf Ian zu und schlug ihm freundschaftlich auf den Rücken. »Wie hast du es bloß geschafft, so eine Sauerei zu veranstalten?«

Ian spürte, wie sein Gesicht rot wurde. »Ich versuche, alles ins Reine zu bringen. Ich habe mir die Namen und die Telefonnummern von den Frauen auf der Straße geben lassen. Sie sind ohne Aufstand gegangen, nachdem ich mich kurz mit ihnen unterhalten habe. Die armen Mädchen sind da draußen halb erfroren.«

Connor schüttelte den Kopf. »Ich kann mir nicht vorstellen, dass man so verzweifelt nach Liebe sucht.«

Wollte nicht jeder geliebt werden, dachte Ian seufzend. Er hatte zwölf Tage quälender Schmerzen auf sich genommen, nur um älter auszusehen und seine wahre Liebe finden zu können. »Es gibt noch ein Problem. Hast du gesehen, wie Cora Lee der ganzen Vampirwelt verkündet hat, dass ich älter geworden bin? Alle werden wissen wollen, wie das passiert ist.«

»Ich glaube nicht, dass irgendein Vampir älter werden will.«

Connor umrundete seinen Schreibtisch und setzte sich wieder hin. »Aber wenn irgendwer herausfindet, dass ein Vampir mithilfe der Droge am Tag wach bleiben kann...«

»Dann kann sie zur Waffe werden", schlussfolgerte Ian. »Ich bin mir sicher, die Malcontents lechzen geradezu danach, zu wissen, wie es Roman gelungen ist, tagsüber in ihr Hauptquartier einzudringen, um Laszlo zu retten. Wenn sie es herausfinden, dann werden sie alles tun, um die Droge in ihre Finger zu bekommen.«

Connor trommelte mit den Fingern auf seinem Tisch. »Wir müssen Roman informieren, dass wir die Droge entweder verstecken oder zerstören sollten. Und wir werden die Sicherheitsvorkehrungen hier erhöhen.«

»Roman hat die Formel im Kopf", gab Ian zu bedenken, »also müssen wir auf ihn besonders aufpassen.«

»Aye.« Besorgt betrachtete Connor den Freund. »Wenn die Malcontents sich auf die Suche nach dem Geheimnis deines Alterns machen, bist du ihr erstes Ziel.«

Ian schluckte. Während er Jagd auf seine wahre Liebe machte, eröffneten die Malcontents vielleicht die Jagd auf ihn.