3. KAPITEL

 

Ich habe es verdient, glücklich zu sein.

Ich werde meine Ziele erreichen.

Ich werde etwas Bedeutendes mit meinem Leben anstellen.

Ich bin es wert, geliebt zu werden.

 

Toni wiederholte ihre morgendlichen Gedankenübungen, während heißes Wasser ihren Körper hinunterfloss und um sie herum Dampf aufstieg. Sie musste einfach daran glauben. Ja genau. Seit den letzten paar Tagen war ihr Leben auf dem besten Weg das Klo hinunter.

Ich habe es verdient, glücklich zu sein. Sie seufzte. Ihre Familie glaubte nicht an sie, warum sollte sie selbst es dann tun? Sie stellte das Wasser ab. Sie musste sich emotional stärken und sich nicht von allen Leuten runterziehen lassen - Leuten wie Ian MacPhie.

Wie konnte ein Toter nur so gut aussehen? Sie zog den Duschvorhang zur Seite. Warum war er kein Sterblicher? Einen flüchtigen, wundervollen Augenblick lang hatte sie ihn für einen Menschen gehalten. Aber nein. Die Klospülung runter. Er war einer von denen.

Sie trat aus der Dusche und schimpfte mit sich selbst. Denk nicht an ihn. Er hat keine Macht über dich. Es sei denn...

Es sei denn, er benutzte seine Fähigkeit, ihre Gedanken zu kontrollieren. Tonis nackter Körper überzog sich mit einer Gänsehaut, und sie zitterte trotz des heißen Dampfes, der sie umgab. Sie blickte hinab auf die Bissspuren, die ihre Brust und ihren Oberkörper entstellten.

Sie hatte gegen diese drei Vampire gekämpft. Sie hatte auch geglaubt, eine Chance zu haben, bis sie begannen, ihren Verstand zu beeinflussen. Sie hatte dort im dreckigen Schnee gesessen, zitternd und hilflos, während deren grausame Gedanken in ihren Kopf eindrangen und sie zwangen, ihr Hemd auszuziehen. Ihren BH. Ein Beben durchfuhr ihren Körper. Wenn Connor nicht zur rechten Zeit gekommen wäre...

Sie blinzelte ihre Tränen fort und griff sich ein Handtuch, um sich abzutrocknen. Sie würde die Kontrolle über sich behalten und konzentriert bleiben.

Ich werde meine Ziele erreichen. Sie musste einfach Erfolg haben. Sabrina zählte auf sie. Immerhin hatte Toni schon herausgefunden, dass es Vampire wirklich gab, und das Lager der Guten infiltriert.

Gute Vampire? Wer hätte das gedacht? Aber Connor hatte sie gerettet, und geschworen, dass alle guten Vampire das Beißen aufgegeben hatten. Toni hatte sie schon aus Flaschen trinken sehen, aber es fiel ihr dennoch schwer, ihnen vollkommen zu vertrauen. Egal wie gut sich diese guten Vampire verhielten, sie konnte trotzdem spüren, dass unter ihrer Oberfläche ein wildes Biest lauerte. Bei Ian war es besonders deutlich, aber statt davon abgestoßen zu sein, hatte sie es aufregend gefunden.

Wie leichtsinnig konnte man sein? Nur ein vollkommener Idiot forderte ein Biest heraus, das beißen konnte. Sie würde ihn ignorieren.

Ich werde etwas Bedeutendes mit meinem Leben anstellen. Das würde geschehen. Sie und Sabrina hatten alles genau geplant.

Toni tapste ins Schlafzimmer und trocknete währenddessen ihre Haare mit dem Handtuch. Ihr Blick wanderte zu den weichen goldenen Wänden und dem großen Himmelbett, das mit blauem und goldenem Brokat behängt war, passend zu den Vorhängen und der Tagesdecke. Die zwei Kommoden neben dem Bett sahen wie Antiquitäten aus der Zeit Ludwigs XVI. aus.

Eines musste sie widerwillig zugeben: Die Vampire hatten einen ausgezeichneten Geschmack. Dougal behauptete, ihr Zimmer hatte einst einer Vampirprinzessin gehört, die Teil von Roman Draganestis Harem gewesen war. Anscheinend hatte Roman den Harem nach seiner Hochzeit aufgelöst. Toni schnaubte. Was für ein toller Kerl. Soweit sie es einschätzen konnte, lag das Frauenbild der männlichen Vampire mindestens ein paar Jahrhunderte hinter der Wirklichkeit zurück. Ian MacPhies auf jeden Fall.

Ich bin es wert, geliebt zu werden. Die letzte Gedankenübung war am schwersten zu glauben. Sie warf ihr Handtuch in den Wäschekorb. Verdammt, sie wurde geliebt. Ihre Großmutter hatte sie geliebt.

Und weißt du noch, was mit ihr passiert ist? Du hast sie im Stich gelassen. Toni erstickte so schnell es ging die widerliche innere Stimme, die immer wieder in ihr hochstieg und ihr sagte, dass sie es nicht verdiente, glücklich zu sein, und es auch nicht wert war, geliebt zu werden. Sie war es wert, verdammt. Und sie würde Sabrina nicht im Stich lassen. Selbst wenn das bedeutete, in einem Haus voller blutsaugender Monster zu leben.

Sie setzte ihre Kontaktlinsen ein und zog sich ihre Wachuniform, bestehend aus Khakihosen und einem dunkelblauen Polohemd, an. Connor hatte ihr die kleinsten Größen gegeben, aber die Männerkleidung hing immer noch wie ein formloser Sack an ihr. Offensichtlich war MacKay Security and Investigations es nicht gewöhnt, weibliche Wachen zu beschäftigen. Dougal und Phineas waren überrascht gewesen, aber nachdem sie gesehen hatte, wie sie kämpfen konnte, hatten sie Toni sofort akzeptiert.

Ian war viel misstrauischer gewesen, aber sie ließ sich von ihm nicht vergraulen. Sie würde ruhig und gelassen bleiben. Die Kontrolle behalten. Nichts konnte sie aus der Ruhe bringen.

Sie zuckte zusammen, als laute Musik aus ihrem Handy erschallte. Verdammt. Carlos hatte ihr vor einer Woche einen neuen Klingelton eingestellt, aber die plötzliche Explosion von »Cum On Feel The Noize" von Quiet Riot ließ sie immer noch zusammenzucken.

Der männliche Sänger brüllte weiter, während sie in ihrer Handtasche wühlte. Hoffentlich rief Sabrina sie an. Toni war letzte Nacht ins Krankenhaus gefahren, um sie zu besuchen, aber Sabrina hatte so friedlich geschlafen, dass Toni sie nicht aufwecken wollte.

Sie riss das Telefon auf. »Hallo?«

»Toni?« Die raue Stimme klang dringend. »Was ist los bei euch?«

»Howard?« Ihr Vorgesetzter? Howard Barr hatte die Verantwortung für die Tagesschicht, und er beobachtete Toni von seinem Standort in Roman Draganestis Haus aus. Howard rief jeden Morgen um acht an, damit sie ihm Bericht erstatten konnte, aber gestern Morgen hatte er dazu das Telefon im Haus benutzt und nicht ihr Handy.

Ihr Blick flackerte zu ihrem Nachttisch, wo auf dem digitalen Wecker 7:26 leuchtete. »Stimmt etwas nicht?«

»Das frage ich dich", fuhr Howard eilig fort. »Ich habe meine morgendliche Runde gemacht, und Connor hatte noch sein Handy offen an seinem Ohr liegen. Hast du mit ihm gesprochen?«

»Nein. Hier ist alles in Ordnung...«

»Das glaube ich nicht. Connors Telefon war noch mit eurem Haustelefon verbunden. Ich habe aufgelegt und versucht anzurufen, aber bei euch ist immer noch besetzt.«

Toni blickte auf das Telefon auf ihrem Nachttisch. Ein Licht zeigte an, dass es noch benutzt wurde. Natürlich. Ian hatte gesagt, er würde wegen ihr nachfragen. »Das muss Ian MacPhie sein.«

»Ian?« Es folgte eine Pause, in der Toni das Rascheln von Papier hören konnte. »Bist du sicher? Er wird erst in einer Woche zurück erwartet. Und sein Sarg ist leer.«

»Er ist rausgewachsen.«

»Dann stimmt es? Der Junge sieht nicht mehr wie fünfzehn aus?«

Sie rümpfte ihre Nase. »Er sieht älter aus, aber er benimmt sich nicht gerade, als wäre er erwachsen.«

Howard lachte. »Hat einen guten Eindruck gemacht, was? Hör zu, ich kann ihn auf keinem Monitor finden, also musst du nach ihm suchen und sicherstellen, dass es ihm gut geht.«

»Bestimmt. Wohin sollte er auch gehen? Er ist tot. Das schränkt ihn in der Bewegungsfreiheit ja schon irgendwie ein.«

»Ja, aber tagsüber haben wir die Verantwortung für diese Kerle. Du kannst keine Leiche bewachen, von der du nicht weißt, wo sie ist. Also finde ihn.«

Toni stöhnte innerlich auf. Das Stadthaus hatte fünf Stockwerke, sechs, wenn man den Keller mitrechnete, mehr als achtzehn Schlafzimmer und jede Menge Badezimmer und Wandschränke. Es würde den ganzen Morgen dauern, das gesamte Haus zu durchsuchen.

»Ich rufe in zehn Minuten zurück.« Howard legte auf.

Zehn Minuten? Toni steckte ihr Handy in die Hosentasche und rannte, immer noch barfuß, auf den Flur.

Er lag nicht, wie es praktisch gewesen wäre, tot auf dem Korridor ausgestreckt, also würde sie ihn irgendwie anders finden müssen.

Sie rannte die Treppe ins Erdgeschoss hinab. Nicht, dass sie glaubte, ihn dort zu finden, aber es gab Überwachungskameras im Foyer und in der Küche, und Howard erwartete sicher, sie auf ihrer Suche dort vorbeigehen zu sehen.

Sie war für zwei Wochen auf Probe eingestellt worden, und Connor hatte sie gewarnt, dass die Kameras im Stadthaus an Monitore in White Plains angeschlossen waren. Mit anderen Worten, sie wurde ständig beobachtet, um zu sehen, ob man ihr vertrauen konnte. Als würde sie je versuchen, einem der Vampire Schaden zuzufügen.

Connor hatte besonders betont, dass der Eid, den sie ablegen würde und mit dem sie schwor, die Vampire zu schützen, heilig war. Der Preis für einen Betrug war hoch und endgültig. Wenn sie ihren Zorn auf sich lenkte, konnte sie sich nirgends verstecken, wo die Vampire sie nicht fanden. Ihre Leiche würde niemals auftauchen. Dann hatte er ihr von der guten Krankenversicherung und dem Zahnersatzplan erzählt, von den ertragreichen Geldanlagen und den Ferienmöglichkeiten, die MacKay Security and Investigations seinen Angestellten bot.

Unter normalen Umständen hätte sie sich für Möglichkeit eins entschieden: Ihr Gedächtnis löschen zu lassen, damit sie in ihr normales Leben zurückkehren konnte. Aber die Umstände waren nicht normal, also hatte sie die Zähne zusammengebissen und den Eid abgelegt.

Ian war im Erdgeschoss nicht zu finden, also ging sie hinab in den Aufenthaltsraum der Wachen im Keller. Ihr Blick schweifte zur Couch an der Wand. Nein, da war er nicht. Sie sah hinauf zu einer Überwachungskamera und schüttelte den Kopf.

Vor der Tür zum Schlafsaal blieb sie stehen. Es war ihre Pflicht, diesen Raum viermal am Tag zu überprüfen, aber ihr lief dennoch ein kalter Schauer über den Rücken. Nicht so sehr wegen des Raumes selbst, sondern wegen der Leichen, die sich darin befanden. Sie atmete tief durch und trat ein.

Dougal lag auf dem Rücken in seinem Sarg. Er hatte ein altmodisches Nachthemd an, das ihm bis zu den Knien reichte und ein bisschen so aussah wie die Nachthemden, die ihre Großmutter immer getragen hatte.

Phineas lag auf seinem Doppelbett ausgestreckt und trug nichts außer roten Boxershorts aus Seide. Toni warf einen Blick auf die gerahmten Fotos auf dem Nachttisch. Eine ältere Frau, ein Mädchen und eine junge Frau, wahrscheinlich die Tante und die jüngeren Geschwister, von denen er gesprochen hatte. Sie fragte sich, ob sie wussten, dass er vor fast zwei Jahren in einen Vampir verwandelt worden war.

Sie spähte ins Badezimmer und zuckte zusammen, als sie entdeckte, dass auf dem ganzen Boden Handtücher und Kleidungsstücke verstreut lagen. Gott sei Dank musste sie denen nicht hinterher räumen. Es gab einen von Vampiren geführten Reinigungsdienst, der nachts vorbeikam. Ihr Blick fiel auf einen Stapel Herrenmagazine in einem Korb. Igitt! Diese Schweine.

Sie lief die Hintertreppe hinauf zurück ins Erdgeschoss und dann ein weiteres Stockwerk auf der Haupttreppe nach oben. In den oberen vier Stockwerken gab es keine Überwachungskameras, also fühlte sie sich dort wenigstens nicht unangenehm beobachtet. Sie eilte an ihrem Schlafzimmer vorbei, um die anderen fünf Schlafzimmer im ersten Stock zu überprüfen. Danach hetzte sie durch alle Schlafzimmer im zweiten Stock. Die Zeit wurde schon knapp, als sie die Schlafzimmer im dritten Stock abklapperte.

Verdammt, er war in keinem zu finden! Sie blickte mit wachsender Unruhe ins letzte Schlafzimmer. Sie sah sogar in den Wandschrank. Hatte sie einen Fehler gemacht, weil sie nicht auch unten alle Wandschränke durchgegangen war?

Cum on feel the noize! Sie zuckte zusammen, dann fischte sie das Telefon aus ihrer Tasche. »Howard?«

»Toni, hast du ihn gefunden?«

»Nein.« Von dem ganzen Rumgerenne atmete sie schwer. »Ich habe alle Stockwerke durchsucht bis auf das oberste.«

»Such auch da.«

Sie blinzelte. Connor hatte sie davor gewarnt, Roman Draganestis privates Arbeits- und Schlafzimmer zu betreten. Anscheinend hatte der Großmufti oben immer noch seine Sachen. Wahrscheinlich Leichen in den Wandschränken. »Ich dachte, das Stockwerk ist verboten.«

»Normalerweise ja, aber wir können nicht weitermachen, ohne zu wissen, wo Ian ist. Also sieh dich um", entgegnete Howard knapp und legte den Hörer auf.

Sie ließ das Telefon in ihre Tasche gleiten und stieg die Treppe hinauf. Am oberen Absatz entdeckte sie zwei Türen, zwischen denen ein Ölgemälde von irgendwelchen Ruinen hing. Sie versuchte die rechte Tür. Sie öffnete sich.

Der Raum war vollkommen dunkel. Toni tastete sich an der Wand neben dem Türrahmen entlang, bis sie einen Lichtschalter gefunden hatte. Eine einzige Glühbirne, die über einem großen Schreibtisch hing, leuchtete auf. Dahinter befanden sich Bücherregale, davor eine rote Samtliege. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie den Computer auf dem Schreibtisch entdeckte. Er könnte die Antwort auf all ihre Gebete sein.

Der große Raum verlor sich in Schatten. Toni konnte die Umrisse von weiteren Stühlen, einem Tisch und einer kleinen Bar erkennen. Am hinteren Ende des Raumes entdeckte sie die dunkle Holztäfelung einer Flügeltür.

Sie durchschritt den Raum, ihre nackten Füße geräuschlos auf dem dicken Teppich, und ließ ihren Blick über die teuren Antiquitäten wandern. Das also war das geheime Versteck eines mächtigen Vampir-Zirkelmeisters? Vielleicht sollte sie mit ihrem Handy ein paar Fotos machen. Nein, das würde Sabrina nicht helfen. Die luxuriöse Ausstattung bedeutete nur, dass der Besitzer reich war, nicht untot.

Auf ihrem Weg zu der Flügeltür hörte sie das piepende Geräusch eines nicht aufgelegten Telefons. Sie stieß die Türen auf. Der Schatten eines riesigen Bettes lag bedrohlich vor ihr, und auf ihm ein weiterer Schatten. Sie schlich sich rechts am Bett vorbei und tastete nach der Lampe auf dem Nachttisch. Ein düsteres Licht, kaum heller als eine Nachtlampe, leuchtete auf.

Dort lag er, auf der anderen Seite des großen Doppelbetts, auf der Tagesdecke aus cognacfarbenem Wildleder. Sein Gesicht war von ihr abgewendet, also konnte sie nur sein volles schwarzes Haar sehen, und den Pferdeschwanz, der sich auf dem Kissen ringelte.

Einige Männer mochten mit schulterlangem Haar und einem Rock weibisch aussehen, aber bei Ian bewirkte es genau das Gegenteil. An ihm war etwas Wildes und Zerklüftetes, wie ein schottischer Krieger, der sich der Zivilisation verweigerte. Allein sein Anblick beschleunigte ihren Herzschlag, und rebellische Gedanken schlichen sich in ihren Kopf.

Er lag auf dem Rücken und hatte seinen langen Körper bis ans Fußende ausgestreckt. Ihr Blick wanderte über das weiße T-Shirt, das sich an seine breite Brust und den muskulösen Bauch schmiegte. Sein rot und grün karierter Kilt lag zerknittert um seine Beine, der Saum bis über die Knie hinaufgerutscht. Es sah aus, als wäre er einfach aufs Bett gefallen, ohne sich Gedanken zu machen, wie er landete.

Toni schlich sich um das Bett herum und an seinen riesigen Füßen in schwarzen Socken vorbei. Die alte Redensart über Männer mit großen Füßen musste stimmen. Ihr Blick wanderte zurück zu seinem Kilt. Seine Beine waren leicht gespreizt, und der karierte Stoff senkte sich dazwischen. Was für ein Schock war es gewesen, zu merken, dass der Kerl keine Unterwäsche trug. Ihr Gesicht wurde warm, als sie sich an das amüsierte Zucken seiner Mundwinkel und das Leuchten in seinen Augen erinnerte. Überhaupt kein Schamgefühl. Nein, er hatte... dreist ausgesehen, als hätte ihm die überraschende Inspektion sogar gefallen.

Sie legte ihren Kopf schräg und konzentrierte sich auf den dunklen, im Schatten liegenden Bereich zwischen seinen Schenkeln. Sie lehnte sich langsam zur Seite.

Cum on feel the noize!

Sie richtete sich mit einem erschreckten Keuchen auf. Was war nur in sie gefahren? Der Mann war tot, und sie versuchte, ihm unter den Rock zu sehen? Gott sei Dank gab es hier oben keine Kameras.

Sie öffnete ihr Handy. »Alles Okay, Howard, Ian ist hier. Er liegt im Bett.«

Stille folgte.

»Mädchen, du hast einen Mann in deinem Bett?«

Toni zuckte zusammen. »Carlos! Ich - ich hatte nicht mit dir gerechnet.«

Er lachte. »Das ist mir schon klar, Menina. Also, wer ist der Typ in deinem Bett?«

»Er ist nicht in meinem Bett, und er ist kein...«

»Oh, bist du bei ihm?«

»Ah, na ja, irgendwie schon.« Toni strich sich das feuchte Haar hinter die Ohren. »Hör zu, Carlos. Ich kann jetzt nicht sprechen.« Auf sein vieldeutiges Lachen hin schnaubte sie. »Es ist nicht so wie du denkst. Der Typ ist im Moment... richtig tot.«

»Hast du ihn fertiggemacht? Gut gemacht, Mädchen.«

Toni stöhnte. Vielleicht lag es an seiner brasilianischen Herkunft, aber ihr Nachbar, Carlos Panterra, hatte immer nur das eine im Kopf. »Carlos, ist in meiner Wohnung alles in Ordnung?«

»Ja, natürlich. Ich habe gerade eure Katze gefüttert. Sie sagt, sie vermisst dich und Sabrina. Ich natürlich auch.«

»Ich weiß. Wir kommen bald wieder, hoffe ich. Jetzt muss ich Schluss machen, ehe Howard wieder anruft.«

Carlos sog erstaunt die Luft ein. »Du hast zwei Männer? Mädchen, du bist echt heiß drauf.«

»Es ist nicht so wie - egal. Ich kann es dir später erklären.« Sie stellte sich neben das Bett.

»Es liegt an deinem neuen Klingelton", fuhr Carlos ungerührt fort. »Mit Rock hast du sie sofort an der Angel.«

»Ja, klar. Bis dann, Carlos.« Toni klappte das Telefon zu und steckte es in ihre Tasche. Es war verdammt schade, dass sie so schlecht mit moderner Technologie umgehen konnte. Es war ihr völlig schleierhaft, wie man den Klingelton, mit dem Carlos ihr Telefon verflucht hatte, veränderte.

Und wo sie schon bei Telefonen war, das Piepen von Ians letztem Telefongespräch war noch immer zu hören. Er hatte es sich offensichtlich ans Ohr gehalten, aber jetzt waren seine Finger entspannt und dort, wo sie auf dem Kissen ruhten, leicht nach innen gebogen. Der Hörer musste das Kissen hinabgerutscht sein, denn jetzt ruhte es in der Kuhle zwischen seinem Hals und seiner Schulter. Sein Gesicht war ihr mit geschlossenen Augen zugewendet.

Sie hatte das ungute Gefühl, seine Augen könnten sich plötzlich öffnen und sie mit dem leeren Blick eines Zombies anstarren. Mit einem Schütteln schob sie den Gedanken weit von sich. Sie griff nach dem Hörer, strich dabei aber aus Versehen mit der Hand über seine Finger. Sie zuckte zurück. Mist, sie hatte noch nie einen Toten angefasst. Aber er fühlte sich nicht so steif und kalt an, wie sie es erwartet hatte.

Sie steckte ihre Hand zwischen seine Finger und seinen Hals und zog das Telefon langsam heraus. Ihre Knöchel berührten die Spitze seines Kinns. Sie spürte seinen rauen Bartwuchs. Toni zuckte zusammen, als sie merkte, wie nahe sie daran war, seinen Mund zu berühren. Seine Lippen waren leicht geöffnet und perfekt geformt.

Sie trat zurück und legte das Telefon an ihre Brust. Sein Gesichtsausdruck war so friedlich, ganz anders als die intensiven Gefühle, die sie dort vorher gesehen hatte. Der dichte, schwarze Rand seiner Wimpern warf einen Schatten auf seine blassen Wangen. Schön. Ein Mann sollte nicht gleichzeitig so süß und so wild aussehen dürfen.

Ihr Blick fiel auf das Grübchen in seinem Kinn. Es war eines der ersten Dinge, die sie an ihm bemerkt hatte. Die ganze Zeit, in der er um sie herumscharwenzelt war, hatte sie es mit dem Finger anstupsen wollen. Sie streckte ihre Hand aus, zog sie dann aber wieder zurück. Was dachte sie sich bloß? Er war einer von denen.

Sie legte den Hörer zurück auf die Station, die auf dem Nachttisch stand. Es klingelte sofort.

Völlig erschreckt zuckte sie zurück. Liebe Güte, sie musste sich wirklich zusammenreißen. Sie hob ab. »Es ist okay, Howard. Ich habe ihn gefunden.«

Sie hörte ein weibliches Kichern. Auf keinen Fall Howard, es sei denn, er hatte ein Geheimnis, von dem sie nichts wusste. »Hallo?«

»Hi!« Noch ein Kichern. »Ist Ian da?«

Toni zögerte. Wenn dieses Mädchen Ian kannte, sollte sie dann nicht wissen, dass er im Augenblick tot war? »Er kann im Augenblick nicht ans Telefon kommen. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Ja, ich denke schon.« Wieder kicherte die Anruferin.

Toni fand einen Stift und einen Block Papier in der Schublade des Nachttischs. Sie wartete, aber es kam nur Stille. »Hallo? Sie müssen mir Ihre Nachricht schon sagen.«

»Oh, klar. Okay. Lassen Sie mich nachdenken.« Noch mehr Kichern.

Während die Anruferin verstummte und anscheinend versuchte nachzudenken, wartete Toni. Kannte Ian dieses Mädchen wirklich? Hatte er nicht gesagt, er suchte nach einer Vampirfrau? Dieses Mädchen musste sterblich sein, denn draußen schien die Sonne und sie war bei Bewusstsein. Irgendwie. »Können Sie mir Ihren Namen verraten?«

»Oh.« Noch mehr kichern. »Ich bin Mitzi.«

Toni schrieb es auf den Block. »Und Ihre Nachricht?«

»Können Sie Ian sagen, ich finde ihn echt heiß?«

»Sicher.« Toni warf einen Blick auf Ian. Für sie sah er kalt wie Stein aus. »Wie haben Sie ihn kennengelernt?«

»Hab ich noch nicht. Ich habe ihn gerade auf Single in the City gefunden. Das ist so eine Dating-Seite, wissen Sie.«

»Verstehe.« Wollte Ian so seine wahre Liebe finden? Das ergab kaum einen Sinn, wenn er nur Vampirfrauen wollte.

»Ja, ich hab gerade sein Profil gesehen", fuhr Mitzi fort, »und sein Bild. Und ich musste einfach anrufen, weil er so heiß ist!«

»Klar. Wollen Sie eine Telefonnummer hinterlassen?«

Mitzi nannte ihre Nummer. »Können Sie ihm sagen, dass ich mit ihm ausgehen will? Und wahrscheinlich kann er bei mir landen, weil er echt so heiß ist!« Sie kicherte, und dann legte sie zum Glück auf.

Sofort klingelte das Telefon wieder. Das musste jetzt Howard sein. »Hallo?«

»Ist Ian MacPhie da?«, meldete sich eine kehlige weibliche Stimme.

Noch eine Frau? Wenigstens nicht wieder Mitzi. »Ian ist im Moment nicht zu sprechen. Möchten Sie eine Nachricht hinterlassen?«

»Mein Name ist Lola. Ich habe gerade Ians Profil auf Single in the City gelesen, und ich muss sagen, es ist wirklich faszinierend.«

»Darauf wette ich.« Toni blickte auf den Computer im Büro nebenan. Sie musste sich dieses Profil eventuell selbst ansehen.

»Ja", fuhr Lola fort, »mir gefiel besonders der Teil über Ians Schloss in Schottland, und wie er einen Teil seines enormen Vermögens darauf verwendet, es zu renovieren.«

Enormes Vermögen? Toni schnaufte und übertönte es mit einem leisen Hüsteln. Sie bezweifelte, dass Ian ein enormes Vermögen hatte und nebenher als Wachposten für Romatech Industries arbeitete. Würde er sich wirklich dazu herablassen, im Internet Lügen zu erfinden, nur damit jemand mit ihm ausging? Der Mann war absolut umwerfend. Warum sollte er wegen irgendetwas lügen müssen, bis auf das kleine Problem, dass er tagsüber tot war?

»Verstehen Sie", sagte Lola mit dramatisch gesenkter Stimme, »ich war eine Prinzessin, in einem früheren Leben. Ich gehöre einfach in ein Schloss.«

»Wow.«

»Außerdem bin ich Vegetarierin", verkündete Lola. »Und ich hoffe, Ian ist das ebenfalls. Er ist so heiß.«

»Klar. Okay. Ich glaube, ich kann Ihnen versichern, dass Ian kein Fleisch isst.«

»Wunderbar.« Lola sagte ihre Telefonnummer. »Tata.«

Toni schrieb die Nummer auf und starrte Ian dann wütend an. »Lügner. Du hast gesagt, du willst dich nicht mit Sterblichen verabreden.«

Cum on feel the noize! Sie zuckte zusammen. Das musste jetzt wirklich Howard sein. Oder Sabrina. Sie zog ihr Handy aus der Tasche. »Hallo?«

»Toni?«, dröhnte Howards Stimme. »Was ist los?«

»Alles ist in Ordnung. Ian ist im Schlafzimmer im obersten Stock. Das Telefon war nicht aufgelegt, aber dafür habe ich gesorgt.«

»Was war so dringend, dass er Connor noch anrufen musste?«

Toni zuckte zusammen. »Dabei ging es wahrscheinlich um mich. Das Konzept eines weiblichen Wachpostens ging ihm einfach nicht in den Kopf.«

Howard lachte. »Er gewöhnt sich schon an dich. Hat er schon gesehen, wie du kämpfst?«

»Ja, ein bisschen.«

»Dann weiß er, wie tough du bist. Er wird mit der Zeit schon lernen, dir zu vertrauen.«

Gut, dass Howard nicht sehen konnte, wie sie das Gesicht verzog. Tatsächlich hatte Ian recht damit, sie zu verdächtigen. Sie hatte ihre eigenen Pläne, auch wenn sie den Vampiren damit bestimmt nicht schaden wollte.

»Brauchst du heute irgend etwas?«, fragte Howard. Er sorgte dafür, dass Vorräte an das Stadthaus geliefert wurden, damit Toni ihre Schützlinge nicht allein lassen musste.

»Im Moment geht es mir gut, aber ich habe am Freitag meine letzte Klausur an der NYU, der New York University. Dafür muss ich gegen Mittag verschwinden.«

»Das weiß ich noch. Wir haben es so eingerichtet, dass ich ins Stadthaus komme, damit du an die Uni kannst.«

»Aber ich dachte, du musst Roman und Connor beschützen.«

»Die beiden übernachten bei Romatech, also können die Wachen dort ein Auge auf sie haben. Keine Sorge. Wir haben alles im Griff.«

»Danke.« Toni fühlte sich erleichtert, aber auch etwas schockiert, dass die Vampire freiwillig ihren Tagesablauf änderten, nur um ihr zu helfen. »Nur noch eine Klausur, und ich habe endlich meinen Abschluss in der Tasche.«

»Toll.« Howard hielt inne. »Aber weißt du, du kannst wahrscheinlich einen besseren Job bekommen als diesen. Er ist nicht sehr... intellektuell.«

»Das ist schon in Ordnung. Die Bezahlung ist viel höher, als ich erwartet habe.«

»Ja, na ja, die Vampire wissen, wie wichtig es ist, Sterbliche zu haben, auf die sie sich verlassen können.«

»Das verstehe ich.« Das Telefon auf dem Nachttisch klingelte. »Oh Gott, hoffentlich nicht noch mal Mitzi oder Lola.«

»Wer?«, fragte Howard.

»Diese Mädchen, die für Ian anrufen. Anscheinend hat er sich online auf einer Dating-Seite angemeldet.«

»Du machst Witze.«

»Schön wär's. Ich rufe dich für den Zehn-Uhr-Bericht zurück.« Toni schaltete ihr Handy aus und ging ans Haustelefon. »Hallo?«

»Hi", antwortete eine weiche weibliche Stimme. »Ist Ian da?«

Toni stöhnte. »Er... meditiert gerade.«

»Cool. Ich bin Destiny.« Sie gab Toni ihre Telefonnummer. »Ian ist so was von heiß. Weißt du, ich bin voll eingestellt auf die harmonische Vibration des Kosmos, also weiß ich genau, dass Ian und ich zusammengehören.«

»Verstehe.« Und sein enormes Vermögen hatte damit bestimmt nichts zu tun. »Irgendeine Nachricht für Ian?«

»Ja. Ich liebe es, im Regen spazieren zu gehen und am Strand zu sitzen und den Sonnenaufgang anzusehen.«

»Super.« Toni schrieb hat vor, dich durch spontane Selbstentzündung umzubringen unter ihren Namen. »Danke für Ihren Anruf.«

Sie legte auf und warf Ian einen wütenden Blick zu. »Ist dir klar, dass meine beste Freundin im Krankenhaus liegt, und statt sie anzurufen, muss ich mich mit deinen dämlichen Freundinnen abgeben?« Ihre Stimme erhob sich zu einem Kreischen, aber Ian lag einfach ahnungslos da.

»Warum suchst du überhaupt nach einer Frau? Warum sollte ein Vampir an die wahre Liebe glauben? Glaubst du wirklich, man kann jahrhundertelang treu sein? Ein paar Jahre ist heutzutage schon zu viel verlangt!«

Er antwortete nicht.

»Na ja, wenigstens widersprichst du einem nicht. Ich bin hier tagsüber der Boss, das solltest du lieber nicht vergessen.«

Auch das akzeptierte er kommentarlos.

Sie stapfte in das angeschlossene Büro. Sie hatte das College nicht fast abgeschlossen, um als Sekretärin für das Privatleben eines heißen Vampirs zu enden. So viel zu ihrer dritten Gedankenübung: Ich werde etwas Bedeutendes mit meinem Leben anstellen.

Sie musste mit Sabrina sprechen. Das würde sie beruhigen. Sie öffnete ihr Handy und rief das Krankenhaus an. »Sabrina Vanderwerths Zimmer, bitte.«

»Einen Augenblick", sagte die Vermittlung, »bitte warten Sie.«

Toni hatte sich in den schwarzen Lederstuhl hinter dem Schreibtisch gesetzt und fuhr den Computer hoch. Vielleicht konnte sie in den Dateien etwas Sinnvolles finden. Ihre Suche in der Bibliothek hatte nichts ergeben. Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Toll, noch eine Frau. Toni ließ sich schnell ihren Namen und ihre Nummer geben und legte dann auf, ehe Britney ihre zehn Gründe, warum Ian so heiß war, aufsagen konnte.

In der Zwischenzeit kam die Vermittlung im Krankenhaus zurück ans Telefon. »Sabrina Vanderwerth ist entlassen worden.«

Kalte Angst kroch Tonis Wirbelsäule hinab. »Aber ich habe sie erst gestern Nacht besucht. Wann ist sie entlassen worden?«

»Ich kann keine persönlichen Informationen herausgeben.«

»Warten Sie", setzte Toni an, aber der Ton in der Leitung war eindeutig - es wurde bereits aufgelegt.

Das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. »Arrgh!« Toni notierte schnell Namen und Nummer von noch einem Mädchen, das Ian tatsächlich ganz heiß fand. Dann wählte sie die Nummer von Sabrinas Handy.

Nach siebenmal klingeln wurde sie an die Mailbox weitergeleitet. »Bri, hier ist Toni. Ich habe gerade gehört, dass man dich aus dem Krankenhaus entlassen hat. Ruf mich an.« Sie prüfte, ob auf ihrem Telefon Nachrichten waren. Null. Wo war Sabrina?

Erneut klingelte das Telefon auf dem Schreibtisch. Dieses Mal war es LaToya, die Ian für unwiderstehlich hielt. Dann Michelle, dann Lauren. Der heiße Ian würde schneller als gedacht zu einer wahren Legende.

»Das geht zu weit", knurrte Toni. Sie benutzte das Haustelefon, um in ihrer Wohnung anzurufen. Vielleicht war Sabrina einfach nach Hause gegangen, und sie machte sich völlig umsonst Gedanken.

Das Telefon klingelte, bis der Anrufbeantworter ansprang. »Bri, bist du da? Ruf mich an, ich mache mir Sorgen.«

Sie rief Carlos in der Wohnung nebenan an. »Hast du von Sabrina gehört?«

»Nein, was ist los?«

»Sie ist aus dem Krankenhaus entlassen worden, aber ich weiß nicht, wo sie ist.«

Schweigen folgte, und dann sprach Carlos in tieferer Stimme als gewöhnlich. »Toni, du musst mir sagen, was los ist.«

»Das mache ich, heute Abend, nach der Arbeit.« Toni legte auf, und das Telefon klingelte sofort wieder.

»Verdammt!« Sie hob den Hörer ab. »Was ist?«

»Guten Morgen. Hier spricht Travis Buckley.«

Eine Männerstimme. »Ja? Was kann ich für Sie tun?«

»Ist Ian MacPhie zu sprechen?«

Toni blinzelte. »Sie... wollen mit Ian sprechen?«

»Oh ja, Süße. Ich habe sein Bild auf »Single in the City" gesehen, und ich fand ihn so was von...«

»Heiß?«

»Ganz genau.« Travis lachte leise.

Toni schrieb seinen Namen auf. »Ich teile ihm liebend gerne mit, dass Sie angerufen haben.«

»Super.« Travis gab ihr seine Nummer. »Ich finde ihn echt überheiß.«

»Oh, na sicher.« Toni legte auf und massierte sich die Schläfen. »Das kann mir nicht tatsächlich passieren. Ich bin in der Twilight Zone gefangen.« Sie drehte sich zum Computer und klickte auf »Eigene Dateien". Eine Sicherheitsmeldung tauchte auf dem Bildschirm auf und verlangte ein Passwort.

»Verdammt.« Wenn sie nicht so ein technischer Volltrottel wäre, könnte sie die Meldung umgehen, aber sie hatte keine Ahnung. Aber na ja, selbst wenn sie ein Dokument fand, in dem Vampire sich zu erkennen gäben, würde das wirklich etwas beweisen? Jeder könnte sich so einen Mist ausdenken und behaupten, alles entspräche der Wahrheit.

Und wo sie schon bei falschen Behauptungen war, sie musste sich dringend Ians Profil bei Single in the City ansehen. Es war leicht zu finden. Er war auf der Homepage in einer Liste der zehn beliebtesten Männer aufgeführt. Sein Foto war toll, aber sein Profil klang eher nach Don Juan auf Viagra. Je mehr sie las, desto mehr fühlte sie sich, als würde ihr Dampf aus den Ohren kommen.

Das Telefon klingelte wieder. Und wieder. Und wieder. Die Liste der Namen war jetzt auf vierunddreißig Frauen und zwei Männer angewachsen, die alle glaubten, Ian wäre heißer als flüssiges Magma. Wie sollte sie so jemals Sabrina finden? Oder für ihre Klausur lernen?

Das Telefon klingelte wieder. Sie nahm ab. »Ja, Ian ist heiß! Aber es geht der Reihe nach.«

»Cool.« Das Mädchen am anderen Ende schmatzte auf ihrem Kaugummi herum. »Teilen ist okay. Steht er auf Gruppensex?

Toni verzog angewidert das Gesicht. »Das müssen Sie ihn selber fragen.«

»Okay.« Sie ließ eine Kaugummiblase platzen. »Und wer sind Sie?«

»Ich bin... seine Bewährungshelferin.«

»Cool. Ich hab auch einen. Bin wegen versuchter Anstiftung erwischt worden.«

»Ich hasse es, wenn das passiert.«

»Ja. Also dieser Ian, ist der echt so reich, wie in seinem Profil steht?

Toni biss ihre Zähne zusammen. »Geben Sie mir einfach Ihren Namen und Ihre Telefonnummer.« Sie schrieb die Informationen auf und knallte den Hörer hin. »Ich halte das nicht mehr aus!«

Sie wühlte in der Schreibtischschublade und fand einen breiten schwarzen Filzstift. Damit stakste sie ins Schlafzimmer und starrte wütend hinab auf Ian. »Wenn ich meine Klausur nicht bestehe, bist du schuld!« Dann strich sie sein weißes T-Shirt glatt und schrieb in Großbuchstaben »WAHNSINNIG HEISSER HENGST" darauf. Darunter schrieb sie noch: »Für eine schöne Zeit, wende dich an Travis.«

Dann stapfte sie hinab ins Erdgeschoss und stellte den Anrufbeantworter an. Den Vampiren würde das zwar nicht gefallen, aber sie hatte nicht vor, ihre letzte Klausur für Ians Liebesleben aufs Spiel zu setzen. Während sie in den Keller hinabging, hörte sie, wie das Telefon wieder klingelte. Denen im Keller ging es gut, also rief sie Howard an, um ihren Zehn-Uhr-Bericht abzuliefern. Sie erklärte ihm, was es mit dem Anrufbeantworter auf sich hatte, und er zeigte sich einverstanden.

Während sie in der Küche ihr Mittagessen aß, klingelte das Telefon noch zwölfmal. Es klingelte immer noch, als sie nach oben in ihr Schlafzimmer ging. Sie stöpselte das Telefon dort aus, damit sie in Ruhe lernen konnte. Sie sah noch einmal um eins und um vier nach den Jungs, um ihre Nachmittagsberichte abliefern zu können.

Noch einmal rief sie im Krankenhaus an und sprach mit einer Schwester auf der Station, auf der Sabrina gelegen hatte. Sabrina war mit Angehörigen gegangen, verriet sie ihr, aber mehr wollte sie nicht sagen. Das mussten Sabrinas Tante und Onkel gewesen sein, weil sie die einzigen Angehörigen waren, die Sabrina noch hatte. Toni konnte sich nicht an ihren Nachnamen erinnern. In ihrer Wohnung würde sie diese Information sicher finden. Dass Sabrina sie nicht zurückrief, war allerdings absolut ungewöhnlich, also machte Toni sich weiterhin Sorgen.

Um Viertel nach vier tauschte sie ihre Uniform gegen Zivilkleidung und ging in die Küche hinab, um sich einen Snack zu machen. Die Jungs wachten sicher bald auf, sodass sie sofort verschwinden konnte. Glücklicherweise ging die Sonne im Dezember früh unter.

»Guten Abend.« Dougal kam in die Küche geschlendert, gefolgt von Phineas. Beide gingen direkt zum Kühlschrank und nahmen einige Flaschen Blut heraus.

»Hey, Jungs.« Sie aß den letzten Bissen Salat. »Gut geschlafen?«

Die Tür flog auf, und Ian marschierte hinein. Er starrte Toni wütend an und schlug mit der Hand auf sein schwarz beschmiertes T-Shirt. »Was, verdammt noch mal, soll das?«