Kapitel 2: Der Bote

 

 

 

Jorana blickte gedankenverloren auf das schier endlose Terrain von Kisiandra. Von der leichten Erhöhung, auf der sich ihr Lager befand, hatte sie perfekte Sicht auf die Wiesen des grünen Landstrichs. Die Sonne erhob sich in der Ferne über die Hügel. Dahinter lag die Hauptstadt des Fürstentums. Wie ein Riss durchbrach die große Metropole den Frieden der Natur. Jorana fühlte sich hier draußen wohler als zwischen den zahlreichen Menschen in der belebten Stadt. Ein warmer Sommerwind wehte ihr eine rotbraune Strähne in das Gesicht. Sie schloss die Augen, während sie den Duft der Gräser in ihre Lungen sog. Es roch nach Heimat. Wenn es nach ihr ginge, würde sie die gesamte Zeit unter freiem Himmel verbringen, sogar die Nacht.

Kühl und feucht drückte sich Lorans Schnauze gegen ihre Hüfte. Er stieß ein wohliges Knurren aus. Jorana grinste. Die gelben Augen des Schattentigers musterten sie, als er seinen Kopf auf ihren Schoß legte. Wie immer war sein dunkles Fell dauerhaft in Bewegung, fast so als würde Leben in jedem einzelnen Haar stecken. Sanft fuhr ihre Hand über seinen rauen Kopf. Ihre Seelen waren miteinander verbunden, seit ihr Vater ihr den Schattentiger zu ihrem dreizehnten Geburtstag geschenkt hatte. Seither teilten sie jedes Gefühl, jedes Leid miteinander, als wären sie eins. Die gelben Augen schlossen sich und man sah bloß noch tiefschwarzes Fell. Jorana streichelte es geistesabwesend.

»Was hält uns davon ab, einfach von hier zu verschwinden?«, fragte sie, doch statt einer Antwort erntete sie nur ein Knurren. »Weg von meinem Vater, in die Wälder oder …«

»Jorana, pass auf, was du …«

Die gelben Augen blitzten auf, noch bevor Nuro den Satz beendet hatte. Blitzschnell richtete sich der stattliche Tiger zu voller Größe auf. Er reichte ihr jetzt fast bis zur Schulter.

Nuro lachte leise. »Nach all den Jahren, die wir uns jetzt kennen, traust du mir noch immer nicht über den Weg, alter Junge?« Er stemmte die Hände in die Hüften und blickte Loran amüsiert an. Nur widerwillig ließ sich der Kater auf seinen Hinterläufen nieder.

Jorana lachte auf. »Guten Morgen, Nuro.«

»Das wünsche ich dir auch. Dich hat es heute aber früh aus den Federn getrieben.« Der hochgewachsene Mann setzte sich neben sie. Er rieb sich mehrmals durch das Gesicht. Seine Hakennase war wie immer ein wenig gerötet, in seinen schmalen Augen blitzte ein wissender Funken.

»Ich konnte nicht mehr schlafen«, gab sie mit ernster Miene zurück.

»Der Sommer ist die schönste Zeit in Kisiandra«, sagte Nuro. Er musterte Jorana von der Seite. »Es lohnt nicht, sich das durch kleine Streitereien verderben zu lassen.«

»Kleine Streitereien? Hast du ihn gestern nicht gehört?« Sofort spürte sie wieder Wut in sich aufsteigen.

»Das haben wir alle, und auch du warst nicht zu überhören. Dennoch verstehe ich ihn.«

»Fängst du auch so an?«

»Eine Ausbildung als Schattenjägerin erfordert mehr als lediglich den Willen, es zu tun. Ich habe dir von Anfang an gesagt, dass ich dich nur den Umgang mit dem Schattendolch lehre. Mehr nicht. Allein dein gesellschaftlicher Stand spricht schon dagegen.«

»Welcher Stand?«, fauchte Jorana und blickte Nuro mit finsterer Miene an.

Er lächelte milde und legte den Kopf schief. »Auch wenn dir das nicht passt, du bist immer noch Prinzessin.«

Sie wollte etwas Bissiges erwidern, doch er warf ihr einen so eindringlichen Blick zu, dass sie ergeben schwieg. Stattdessen konzentrierte sie sich auf die Landschaft, die in ein helles Orangerot getaucht war.

»Dein Vater sagte, wir wollen noch heute nach Nesin aufbrechen.«

»Ja, das stimmt. Ich würde meinen Geburtstag gern bei Niswa und Jeromin feiern.« Allein beim Gedanken daran hellte sich ihre Stimmung etwas auf.

Nuro zog die Nase kraus. »Meinst du nicht, es gibt dafür schönere Orte als Derbo?«

Das Fürstentum Derbo war weder für seine Gastfreundschaft noch für seine idyllische Atmosphäre berühmt. In der Hauptstadt Nesin wimmelte es von Abhängigen der Droge Gors, die sich nur noch durch Betteln und andere fragwürdige Dienste am Leben hielten. In diesem Punkt stimmte Jorana mit Nuro überein; es gab wohl schönere Orte, um seinen achtzehnten Geburtstag zu verbringen. Und doch wohnten dort die einzigen wahren Freunde, die sich unter den zahlreichen Bekanntschaften herauskristallisiert hatten. Sie war keineswegs eine Einzelgängerin, doch es brauchte eine Weile, bis sie echtes Vertrauen aufbaute. Und zu den Gaststättenbesitzern Niswa und Jeromin hegte sie eine tiefe freundschaftliche Beziehung.

»Ich denke, wir werden in der Schenke schon genug Freude entwickeln«, sagte sie in Gedanken an das hauseigene Schlammbier. Sie musste grinsen, als sie an die letzte Feierlichkeit dachte. Es war außergewöhnlich, dass eine Frau, die nicht aus Derbo stammte, Schlammbier trank. Das starke Gebräu enthielt einen nicht unbeträchtlichen Anteil an Gors, da es aus den Schlammgewächsen vom Grund des Gorasees gebraut wurde. Zwar sorgte der geringfügige Anteil der Droge nicht sofort für Abhängigkeitserscheinungen, aber es verschaffte einem doch recht schnell ein Hochgefühl einhergehend mit einer gewissen Hemmungslosigkeit. Erst wenn man das türkisfarbene Pulver pur einnahm, versetzte sie den Konsumenten in einen Dämmerzustand. Zu diesem Zeitpunkt vergaß man allen Hunger, Leid und Schmerz. Ein verhängnisvoller Frieden, während die Droge sich durch den Körper fraß.

»Was ist das?« Nuro richtete sich auf und blickte in die Ferne. Jorana schützte ihre Augen mit der Hand vor der Sonne und kniff sie leicht zusammen. Loran knurrte. Es dauerte eine Weile, bis sie es sah. Auf den entfernten Hügeln zur Stadtgrenze von Lusann nahm allmählich ein Schattentiger Form an. In rasanter Geschwindigkeit näherten sich er und sein Reiter.

»Ein Bote?«, fragte Jorana.

Nuro zuckte mit den Schultern. »Hab ewig keinen mehr gesehen.«

Es gab nur wenige Menschen, die derart geschickt mit den Tieren umgingen. Dementsprechend teuer waren die Botengänge auf diesem Weg, auch wenn die zu überbringende Nachricht stets zuverlässig und schnell ihr Ziel erreichte.

»Er hält auf jeden Fall auf uns zu. Wir sollten die anderen wecken.«

Jorana richtete sich auf.

»Was ist denn da?«, fragte Janor, der gerade aus seinem Zelt gekrochen kam. Er und sein Zwillingsbruder begleiteten die Gruppe seit einigen Jahren.

»Tatsächlich. Ein Kurier.« Nuro deutete auf die rote Umhängetasche, die nun deutlich erkennbar war. »Die bringen selten gute Kunde.«

Jorana spürte, wie sich die Härchen an ihren Unterarmen aufrichteten. Sie legte die Hand auf den Rücken ihres Schattentigers und merkte deutlich, wie sich das Fell noch unruhiger als sonst bewegte.

»Sagt dem König Bescheid!«, rief Nuro, und sofort kam Bewegung in die Gefolgsleute.

Der Bote erreichte das Lager schneller, als es Jorana lieb war. Nuro hatte recht. Es kam äußerst selten vor, dass ein Kurier sie aufsuchte, und wenn hatte es meist schlechte Laune vonseiten ihres Vaters zur Folge. Elegant sprang der Reiter von dem imposanten Tier, welches die kleine Versammlung gekonnt ignorierte. Der Mann trug schwarze Beinkleider, die an den Innenseiten durch robuste Lederteile verstärkt waren, und ein dazu passendes Hemd. Jorana beobachtete, wie er sich an seiner Tasche zu schaffen machte und eine Schriftrolle zum Vorschein brachte.

»Guten Tag, Bote!« König Juran trat aus seinem Zelt. Seine Augen waren zu schmalen Linien verengt und Jorana erkannte kleine Sorgenfalten auf seiner Stirn.

»Ich habe Nachricht …«, begann er und entrollte bereits das Pergament, als Juran ihn unterbrach.

»Nicht hier! Begleite mich in mein Zelt!«

Der junge Mann blickte den König erstaunt an und Jorana seufzte entnervt. Es war immer dasselbe. Ihr Vater war sehr darauf bedacht, dass Jorana nicht erfuhr, was im Königreich vorging.

»Aber Eure Majestät, ich kann nicht …« er blickte ihn hilflos an.

»Sprich! Was ist mit dir? Hörst du schlecht?«, polterte der König, der nach einigen Schritten stehen geblieben war und sich suchend umblickte.

»Die Nachricht ist für Prinzessin Jorana.«

»Was?« Jorana und ihr Vater sprachen die Worte fast zeitgleich und mit demselben Unglauben in der Stimme.

»Die Königin persönlich hat mich geschickt.« Offensichtlicher Stolz schwang in den Worten mit.

»Serena?«

Der Bote betrachtete Jorana mit gerechtfertigtem Argwohn. Schließlich hatte Mawuria nur diese eine Königin.

»Nun, dann folgt mir beide ins Zelt.«

 

Die Unterkunft des Königs war größer als die der übrigen Reisegesellschaft. Die schweren roten Stoffe der Zeltwände und des Daches mussten bei jedem Auf- und Abbau über das Gestänge gezogen und dicke Teppiche auf dem Boden ausgerollt werden. Ebenso wie die Schlafgelegenheit immer wieder eingerichtet und die Kleidertruhen hineingeschleppt werden mussten. Das Bett bestand aus gepolsterten Decken. Sie waren übereinander geschichtet, sodass man den harten Boden nicht spürte.

»Also, was ist das für eine Botschaft, die du uns zukommen lässt?«, fragte Juran, nachdem sie allein waren.

»Es ist ein Brief der Königin an Prinzessin Jorana«, sagte der Mann bedeutungsvoll.

»Ja nun, dann lies schon vor«, forderte der König.

Der Bote räusperte sich und entrollte das Papier. »Liebste Jorana, ich freue mich, dir mitteilen zu können, dass die Vorbereitungen auf die Schattenspiele bereits in vollem Gange sind. Die Stadt erstrahlt in neuem Glanz und ist bereit für die Besucher. Sicher hat dein Vater dir ausführlich über das bevorstehende Prozedere berichtet, und so bist du bestens auf die Spiele vorbereitet. Eine weitere gute Nachricht ist, dass alle Fürstentümer mir erst kürzlich eine Zusage zukommen ließen. Sie können es gar nicht erwarten, dich persönlich kennenzulernen. Ich erwarte dich innerhalb der nächsten zwei Wochen, um die letzten Vorbereitungen zu treffen. Herzlichste Grüße, Serena«

Es war still. So still, dass man wohl eine Stecknadel würde fallen hören. Allein das Knistern des Pergaments erfüllte den Raum. Der Bote blickte irritiert zu den beiden Gestalten, die vollkommen in ihrer Bewegung erstarrt waren.

»Nun ja … das war alles, mein König. Habt Ihr noch eine Botschaft für mich?«

»Was soll das?«, brach es aus Jorana heraus. Ihr Tonfall war schärfer als beabsichtigt, doch er entsprach dem, was sie empfand.

»Richtet der Königin aus, Jorana wird sich so bald als möglich auf den Weg machen«, sagte Juran an den Boten gewandt und ignorierte dabei seine Tochter.

»Was? Das ist ein Scherz?!«

Der Bote fuhr zusammen und schenkte Jorana einen irritierten Blick.

»Geh jetzt, Bote.« Der König massierte sich die Schläfen. Eilig huschte der junge Mann aus dem Zelt.

»Was soll das, verdammt noch mal?!«

»Eine Prinzessin flucht nicht.«

»Jetzt sag mir endlich, was dieser Brief zu bedeuten hat!« Sie lief unruhig in dem Zelt auf und ab, die Hände in die Hüften gestemmt.

Der König seufzte und ließ sich auf einer Kleidertruhe nieder. »Er bedeutet, dass du dich gleich morgen nach Survia aufmachen musst, damit du pünktlich eintriffst.«

»Aber wozu?!« Ihre Stimme war schon immer außergewöhnlich rau gewesen. Da war dieser schroffe Tonfall, der so gar nicht zu ihrer zierlichen Statur und der geringen Größe passen wollte. Doch in diesem Augenblick sprach sie so laut, dass sich die Wächter vor dem Zelt nicht einmal anstrengen bräuchten, um sie zu verstehen.

»Weil es unausweichlich ist. Leider.« Der König presste sich die Finger seiner rechten Hand auf den Nasenrücken. »Ich hätte dir längst von den Schattenspielen erzählen sollen. Ich hatte einfach gehofft, dass …« Er unterbrach sich und schüttelte betroffen den Kopf.

»Von was zum Teufel sprichst du?«

»Jorana, bitte. Hör endlich auf zu fluchen. Es ist eine Pflicht jedes Mitgliedes der Königsfamilie, das den Thron besteigt. Am besten lässt du dir das in Ruhe von Serena erklären.«

»Ich will aber, dass du mir das jetzt erzählst! Wenn es eine Pflicht ist, warum hast du mir davon nichts gesagt?« Joranas Wangen glühten vor Hitze, Wut pochte durch ihren Körper. Sie trat fest gegen eine Kiste, ignorierte den Schmerz, der daraufhin bis hinauf in ihr Bein schoss.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, dass jemals ein Mädchen Anspruch auf den Thron hatte. Ich dachte, die Schattenspiele kommen für dich nicht infrage.« Juran sprang auf, sein Gesicht war ernst und mit einer Spur Trauer erfüllt, wie immer, wenn er von seiner verstorbenen Frau sprach.

»Und … was bedeutet das jetzt?« Ihre Stimme zitterte. Jorana ballte die Hände zu Fäusten.

»Dass du schnellstmöglich in den Glaspalast musst.« König Juran wich dem Blick seiner Tochter aus.

»Und wenn ich mich weigere?« Ihre Faust knallte heftig auf den Deckel der Kleidertruhe. Täuschte sie sich oder war ihr Vater erblasst?

»Wie du weißt, gibt es höhere Mächte, die das, was in unserem Leben geschieht, in die richtigen Bahnen lenken. Wer von königlichem Blut geboren und mit allem gesegnet wird, was ein Mensch zum Leben braucht, geht eine Verpflichtung ein. Eine, die irgendwann beglichen werden muss. Und jetzt ist der Zeitpunkt, an dem du deine Schulden bezahlen musst.«

»Ich weiß nichts von einer Schuld!« Jorana spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen.

»Wenn die Schattengöttin ruft«, König Juran blickte sie eindringlich an, »dann gibt es keinen Widerspruch. Ob du willst oder nicht, du musst an den Spielen teilnehmen.«

»Aber das ist nicht gerecht«, entgegnete Jorana trotzig.

»Das Leben ist selten gerecht. Tu mir den Gefallen und begebe dich zu Serena. Sie wird dir alles Weitere erläutern.«

»Du kommst nicht mit?«

»Vorerst nicht, Jorana, glaube mir, es ist besser so.«

Ihr entfuhr ein empörtes Schnaufen.

König Juran sackte ein wenig in sich zusammen. Er wirkte um Jahre gealtert.

»Aber ich …«

»Jorana, bitte verlasse jetzt mein Domizil! Es ist alles gesagt!« Seine Worte hallten wie ein Donnerschlag durch das Zelt. Das Mädchen fuhr zusammen. Wutentbrannt stürzte sie ins Freie.

 

 

Ende der exklusiven Vorableseprobe

Katharina Groth - Beehive Band 1 - Calypsos Herz
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