Kapitel 3:
Fügung & Abschied
Sie standen in der Aula des Fügungszentrums.
Für Elysas Empfindungen viel zu nah beieinander. Selbst wenn sie
versuchte, noch so viel Abstand zu schaffen, spürte sie trotzdem
die Wärme des Mädchens hinter sich.
Elysa war die Fünfte in der Schlange und trat unruhig von einem Fuß auf den anderen. Dieses Jahr erhielten 63 Mädchen ihre Fügung, von denen vierzig bereits in den letzten Wochen ihrem neuen Schicksal zugewiesen worden waren.
Die Mädchen waren im Alter von zehn bis einundzwanzig Jahren. Einige wurden bereits sehr jung in das System eingegliedert und mussten ihren Aufgaben nachgehen. Eine Tatsache, die ihr Schicksal besiegelte; denn eine frühe Fügung bedeutete eine kurze Lebenserwartung.
Bereits seit einer Stunde warteten sie darauf, dass das Margret Lewis, ein Mitglied des Komposiums, die Zukunft jeder Einzelnen bekanntgab.
Das Verfahren war simpel; man ging nach vorn und bekam seine neue Aufgabe mitgeteilt. Ihre Sachen und die von Theodora hatte sie gestern schon in zwei Tragetaschen verpackt. Mehr war es nicht. Alle Möbel und sonstigen Einrichtungsgegenstände würden für die nächste Familie in der Wohnung verbleiben.
»Wir können beginnen«, sagte Margret laut und trat vor. Elysa spürte, wie ihre Kehle eng wurde. Am liebsten hätte sie das Verfahren beschleunigt. Heute Früh hatte Theodora zum ersten Mal seit Langem wieder ein paar Worte gesprochen. Elysa wollte so wenig klare Momente wie möglich versäumen, bevor …
»Elysa!«
Ihr Name donnerte durch die Aula. Verwirrt blickte sie sich um. Da waren doch noch so viele vor ihr, warum wurde sie jetzt schon aufgerufen? Elysa errötete, spürte, wie sie neugierig gemustert wurde. Das Getuschel schwoll an. Es musste sich um einen Irrtum handeln.
»Nicht zu glauben«, wisperte jemand hinter ihr.
»Hört sie denn nicht?«, erklang es leise von weiter vorne.
»Elysa!«
Wieder. Eindeutig und unverkennbar. Jeder Name wurde innerhalb eines Zyklus nur einmal vergeben, es gab also keine Möglichkeit der Verwechslung. Mit zittrigen Knien trat sie aus der Reihe. Bestimmte Kandidatinnen wurden unabhängig von jeglicher Reihenfolge herausgepickt. Mädchen, die etwas Besonderes waren.
»Kommen Sie!«, rief die Frau vom Komposium, sie hielt ein Datentablet in der Hand. Mit steifen Schritten lief Elysa zur Bühne.
»Hören Sie, das muss falsch sein.«
Die ergraute Frau hob die Augenbrauen. »Haben Sie das so gelernt, junge Dame?«, maßregelte sie streng. Elysa zitterte. Angespannt verbeugte sie sich. Als sie den Blick hob, lächelte die Höhergestellte zufrieden.
»Dann schauen wir mal.« Die Frau blickte auf den kleinen Bildschirm in ihrer Hand, wischte mit dem Finger über den Touchscreen.
»Entschuldigen Sie?«, versuchte Elysa es erneut. Im Augenwinkel bemerkte sie die kleinen Schweißperlen, die sich auf ihrem Nasenrücken gebildet hatten.
»Ja?«, fragte Margret unwirsch.
»Irgendwas ist hier falsch gelaufen. Ich bin hier nicht richtig.«
»Tatsächlich?« Die Frau runzelte die Stirn.
»Also dass ich so früh aufgerufen wurde, kann ja nur bedeuten … das kann nicht sein.« Sie stieß ein leises Lachen aus, das nervös klang.
»Junge Dame, Sie können ruhig glauben, dass wenn wir–«
»Nein …«
Die Augenbrauen von Margret zogen sich zusammen. »Lautet Ihr Name Elysa?«
»Ja, aber …«
Margret hob die rechte Hand, um sie zu unterbrechen. »Ist Ihre Mutter Theodora und Ihr Vater Daniel?«
»Ja– «
»Dann besteht auch kein Irrtum.«
Elysa schnappte nach Luft. Das Lächeln von Margret wirkte gezwungen, nervös blickte sie auf ihr Tablet und wieder zurück zu Elysa. »Nun, an sich sind die Nachrichten, die ich für Sie habe, ausgesprochen gut. Ihre Untersuchungsergebnisse sind fantastisch. Sehr viel besser als in den vorherigen Jahren. Der Zyklus ist regelmäßig, die Hormone haben exakt die richtige Intensität. Auch finden sich keinerlei Hinweise auf eine Krebserkrankung. Das ist … erstaunlich.« Stirnrunzelnd betrachtete Margret die Aufzeichnungen.
»Aber …«
»Elysa, es reicht jetzt. Sie wissen schon, was ich Ihnen sagen will, oder?«
»Ich …«
»Sie sind als Biene erwählt!« Die Frau hatte lauter gesprochen als zuvor. Sofort wurde es still in der Halle.
»Das ist eine Ehre, wie Sie sicher wissen!«
Elysas Gesichtshaut glühte. Sie blickte zu Boden, ihre Welt geriet aus dem Gleichgewicht.
»Natürlich«, wisperte sie. »Aber meine Mutter ist schwer krank, vielleicht könnte jemand anderes …?«
Das Gesicht von Margret lief rot an, ihre Augen traten leicht hervor. Als sie zu sprechen begann, klang sie atemlos. »Sie werden jetzt nach Hause gehen, Ihre Sachen nehmen und sich bereit machen, in den Palast zu ziehen.«
Elysa presste die Lippen aufeinander. Eine Träne bahnte sich ihren Weg, lief über ihre Wange.
Margret schnappte nach Luft. »Nun, ich … also … dann gehen Sie bitte!« Den letzten Satz schrie sie förmlich heraus.
Elysas Knie fühlten sich an, als wären sie aus Gummi. Sie vernahm deutlich die Stimmen, das Gemurmel, scharf und abfällig. Dennoch konnte sie nichts gegen die Tränen tun. Als Elysa durch die Tür in die Vorhalle trat, spürte sie, wie die bohrenden Blicke ihr folgten.
Elysa wusste nicht, wie sie nach Hause gekommen war. Wie betäubt hatte sie den Weg hinter sich gebracht, war länger unterwegs gewesen als sonst.
Ihr Blick war noch immer tränenverschleiert. Jetzt stand sie in Theodoras dunklem Schlafzimmer und starrte zum Bett ihrer Mutter.
»Mom?« Das leise Weinen verzerrte ihre Stimme. In dem Raum blieb es ruhig, selbst das Jammern war verstummt. »Mom?«
Nichts. Durchdringende Stille gefolgt von Elysas leisem Schluchzen.
»Ich bin Biene.« Die Worte klangen falsch. Elysa wartete und wusste dabei nicht einmal, auf was. Und dann erklang ein krächzender Laut, nicht genau zu deuten. Elysa erwachte aus ihrer Starre und trat näher an das Bett. Trübe Augen blickten sie an, halb verborgen von der aufgestauchten Bettdecke. Die trockenen Lippen öffneten sich. Theodora japste.
»Mom, ich …«
Das Läuten der Türklingel ließ Elysa zusammenfahren.
»Scheiße!« Hektisch blickte sie sich um, suchte nach einer Lösung. Irgendwie musste sie …? Erneut erklang das Schrillen der Klingel.
»Wir müssen–« Elysa keuchte. Ja, was sollten sie tun? Jemand hämmerte fest und bestimmt gegen die Haustür. Elysa stieß einen frustrierten Laut aus, schlug die Decke zurück. Sofort begann der dürre Körper von Theodora zu zittern. Mit fahrigen Handgriffen streifte sie ihrer Mutter das Atemgerät über. Der Rollstuhl, den sie für den Transport zur Medizinstelle hier stehen hatte, befand sich bereits neben dem Bett. Genau in diesem Augenblick setzte ein Erdbeben ein. Theodora jammerte leise und angsterfüllt.
»Alles wird gut«, wisperte Elysa. Sie schob ihren linken Arm unter die Kniekehlen, den rechten legte sie in den Nacken. Elysa ging leicht in die Hocke.
»Mom, es geht los … 1 … 2 …«
Poch, Poch, Poch.
Der Boden zuckte. Das Grollen der Erde übertönte fast das Türklopfen.
»… 3« Elysa keuchte, während sie Theodora in den Rollstuhl hievte. Eilig schloss sie die Gurte, die ihre Mutter sicherten, und klinkte das schwere Sauerstoffgerät in der dafür vorgesehenen Halterung ein. »So, Mom, wir hauen jetzt ab.«
Ein Rufen ertönte dumpf aus der Richtung des Flurs, woraufhin ein weiteres Pochen die Tür erschüttern ließ. Elysa fluchte, während sie die zwei Reisetaschen fasste und sie über die Griffe des Rollis hängte. Eilig schob sie Theodora hinaus auf den Flur.
Ein Zischen erklang. Elysa blickte zum Hauseingang. Nein. Die vier Wachfrauen hatten den Verschlussmechanismus überbrückt und stürmten die Wohnung. Elysa entfuhr ein Schrei. Sie riss den Rollstuhl herum und schob ihn in die Küche in Richtung der Terrassentür. Keine Chance. Kräftige Hände packten Elysa bereits am Nacken und sorgten dafür, dass sie zurückgeschleudert wurde. Ihren Lippen entwich ein angsterfülltes Japsen. Der Krankenfahrstuhl von Theodora kippte nach hintenüber, landete krachend am Boden. Elysas Arme wurden verdreht und in einem schmerzhaften Hebel fixiert. Die Berührungen brannten sich tief in ihre Haut. Sie fühlte sich der Ohnmacht nahe und würgte trocken.
»Hiergeblieben«, knurrte die Wachdrohne. Elysa stöhnte, blickte hinab zu ihrer Mutter, die auf dem Rücken liegend leer an die Decke starrte. Ihr Brustkorb hob und senkte sich, die Sauerstoffmaske war verrutscht, sodass ihr Mund freilag. Verloren, war das Einzige, was Elysa denken konnte. Alles verloren.