Kapitel 27:
Leben & Theodora
Als Elysa erwachte, pochten unerträgliche
Kopfschmerzen gegen ihre Stirn. Ein Beweis dafür, dass sie wider
ihren Erwartungen noch am Leben war. Dabei kehrten sofort die
Erinnerungen an den Moment zurück, als sie das Geschoss getroffen
hatte. Als Calypso …
Blinzelnd öffnete sie die Augen und blickte auf eine beigefarbene Zeltdecke. Als sie sich aufzurichten versuchte, stieß sie auf einen Widerstand. Ein Metallring lag um jedes ihrer Handgelenke und war über eine Kette mit dem Gestell ihrer Liege verbunden. Irritiert zog sie daran. Vergeblich. Das spärliche Bett war mit dem Boden verankert, und somit hing auch sie hier fest. Ihre Handschellen waren so ungünstig angebracht, dass sie sie in eine liegende Haltung zwangen. Angestrengt beäugte Elysa die Stelle, an der sie einen stechenden Schmerz wahrgenommen hatte. Sie sah kein Blut, stellte außerdem fest, dass sie jemand von ihrem Bienen-Outfit befreit und ihr stattdessen ein schlichtes weißes T-Shirt und eine schwarze Hose angezogen hatte. Sie fand die Überreste aus Gold und Tüll inklusive ihres Schleiers ordentlich am Boden neben sich. Auch wenn ihr der Gedanke, dass jemand sie ausgezogen hatte, unangenehm war, fühlte sie sich zum ersten Mal seit Wochen nicht mehr nackt. Außerdem war ihre Hand neu verbunden worden, der blutige Schleier entfernt.
Elysa blickte sich in dem Zelt um. Neben ihrem standen in dem circa fünfzehn Quadratmeter großen Innenraum noch vier weitere schmale Betten. Holzplanken, die schon recht abgewetzt aussahen, bildeten den Fußboden. Sonst war da nichts. Der Zelteingang war verschlossen, sodass sie nicht hinausschauen konnte. Dennoch vernahm sie deutlich Stimmen, Schritte und allerlei andere befremdliche Geräusche.
»Hey! Hallo!«, rief Elysa erst etwas zögerlich und dann immer lauter. Sie hörte erst auf, als ihren Lippen bloß noch ein heiseres Krächzen entkam. Nichts geschah. Ihr Mund war so trocken, dass ihre Zunge an ihrem Gaumen klebte.
»Du brauchst nicht so zu schreien«, sagte jemand und Elysa blickte auf.
»Du!« Sie stemmte sich gegen ihre Fesseln, als Darian in lässigem Schritt das Zelt betrat.
»Allmählich werden diese Wiederholungen langweilig.«
»Du hast mich verraten!«, rief sie. Uns verraten, fügte sie in Gedanken hinzu. Ihr Herz wurde schwer, wenn sie an Calypso dachte.
Darian schüttelte den Kopf. Er blieb in sicherem Abstand stehen und musterte sie. Elysa taxierte ihn wütend.
»Wenn man es genau nimmt, habe ich deinen Hintern gerettet«, sagte er. Ein amüsiertes Lächeln zuckte um seine Lippen, als sie an ihren Fesseln zerrte.
»So sieht das also aus, wenn man jemandem den Hintern rettet?«
»Das ist vielmehr eine Sicherheitsvorkehrung.«
»Für wen?«, knurrte sie.
»Für mich.« Er grinste.
Elysa hob die Augenbrauen.
»Ich bräuchte Schutz, nach dem, was ihr Calypso angetan habt.«
Darian ließ sich auf eines der Betten nieder, das in direkter Nähe zu ihrem stand, und stützte sich rücklings auf den Ellbogen ab. »Was haben wir ihm denn angetan?«
»Er ist tot«, stieß sie hervor und ihre Stimme zitterte dabei. Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Schwachsinn. Der ist genauso wenig tot, wie du es bist. Er hat höchstens ein wenig Kopfschmerzen, aber das wird vergehen.«
»Aber …« Elysas Herz raste. Schmerz wich Erleichterung.
»Sie haben ihn nur betäubt. Wie dich auch, was übrigens so nicht geplant war.« Er warf ihr einen entschuldigenden Blick zu. »Die Jungs sind nicht besonders geduldig.«
»Ich will zu ihm!«
Darians Gesicht verzog sich. »Nicht jetzt.«
»Wo bin ich eigentlich?« Ihre Stimme klang leicht schrill.
»In Sicherheit.« Ein Lächeln umspielte seine Lippen.
»Geht es auch etwas genauer?«
»Wie kann man nur so kratzbürstig sein?«
»Hast du mich ausgezogen?«, fragte sie noch immer außer sich.
Darian lachte. »Seit wann beantwortet man Fragen mit einer Gegenfrage?«, wiederholte er das, was sie immer zu ihm gesagt hatte. Elysa stieß zwischen zusammengepressten Zähnen Luft aus. »Aber falls es dich beruhigt: Nein. Die Krankenschwestern vor Ort haben sich darum gekümmert. Fühlst du dich jetzt besser?«
Elysa antwortete nicht, sondern warf ihm einen finsteren Blick zu. »Machst du mich jetzt los?«
»So wie du gerade drauf bist? Nein.«
»Dann beantworte meine Frage.«
Er warf ihr einen eindringlichen Blick zu.
»Bitte?«
»Als Erstes musst du mir versprechen, mir nicht die Augen auszukratzen, wenn ich dich losmache.«
»Sehr witzig.«
Doch Darian blickte sie nur lächelnd an.
»Ich verspreche es.«
»Gut.« Damit erhob sich Darian, zog einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und begann sich an den Fesseln zu schaffen zu machen. »Dann zeige ich dir jetzt, wo du bist.«
Elysa richtete sich auf, sobald er das kühle Metall von ihren Handgelenken gelöst hatte. Sie stöhnte, als ein Schmerz durch ihren Brustkorb zuckte, und rieb über die Stelle, wo sie das Betäubungsgeschoss erwischt hatte.
»Ist nur ein blauer Fleck, der verschwindet in ein paar Tagen.«
Elysa stand auf. Zu plötzlich, denn einen Moment wurde ihr schwindelig.
Darian griff nach ihr. »Vorsichtig.« Besorgnis huschte über sein Gesicht.
Elysa entriss ihm den Arm. »Alles bestens«, fauchte sie. »Ich will zu Calypso!«
»Später. Komm mit und zieh die vorher an.« Er warf ihr ein Paar schlichte weiße Turnschuhe vor die Füße.
Elysas Herz blieb stehen, der Pulsschlag setzte aus und raubte ihr den Atem. Mit jedem Schritt, den sie weiter in das Zelt hineinlief, fühlten sich ihre Knie weicher an. Theodora lag in einem großen Bett, zahlreiche Schläuche waren mit Kanülen in ihrem linken Arm verbunden. Fast so, als würde sie lediglich noch von ihnen am Leben gehalten. Ihre Augen standen offen, weiteten sich, als sich Elysa dem Bett näherte.
»Mama …« Es klang atemlos, wie gehaucht. Theodoras Arm hob sich, sie stieß ein Japsen aus. Sofort war Elysa bei ihr, umfasste ihre Hand. Die Tränen kamen von ganz allein, liefen ungehindert über ihre Wangen. Sie zitterte.
»Elysa.« Es war nicht mehr als ein verzerrtes Wispern. Sie drückte die Finger ihrer Mutter und strich ihr zeitgleich durchs Gesicht. Die Stirn war kühl und trocken. Ein gutes Zeichen?
»Wie geht es dir?«
Theodora öffnete den Mund, wie um zu antworten, doch sie krächzte bloß heiser. Jemand räusperte sich und Elysas Blick zuckte herum. Die Frau war ebenfalls in den beigefarbenen Camouflage-Look gekleidet wie so viele andere, die sich in dem Camp befanden. Passend zu dem tristen sandigen Boden, der sie hier umgab. Sie hielt ein Klemmbrett in der Hand. Dunkle Haare waren zu einem strengen Dutt zurückgesteckt, ihre Wangen waren leicht gerötet. Sie konnte nicht älter als vierundzwanzig sein.
»Hallo Elysa, mein Name ist Sofia. Ich versorge deine Mutter hier im Camp.«
»Hallo.« Elysas Stimme klang heiser.
»Du weißt sicher, dass der Krebs weit fortgeschritten ist. Ihr … geht es den Umständen entsprechend.«
»Es ist besser, als das, was vorher war«, murmelte Elysa und fing dafür einen verwirrten Blick der jungen Frau auf. Sie begann die Hand ihrer Mutter zu streicheln und erschrak beinahe, als sich Theodoras Lippen zu einem schmalen Lächeln verzogen. In den letzten Jahren hatte sie nur noch Pein in diesem Gesicht gesehen. Abermals stiegen ihr Tränen in die Augen.
»Nun, sie wird wahrscheinlich nur noch wenige Wochen haben«, flüsterte Sofia so leise, dass man sie kaum verstand.
»Hat sie Schmerzen?«
»Nein. Sie wird fast dauerhaft mit Analgetika versorgt. Wenn es so weit ist … wird sie mit Glück einfach nur einschlafen.«
»Dann haben wir schon mehr gewonnen, als ich mir jemals erhofft hätte.« Abermals streichelte sie die Gesichtshaut ihrer Mutter, genoss es, dass sie reagierte. »Ich hab dich lieb.« Der folgende Laut – die Antwort – war für jemand Fremden nicht zu definieren und hätte für Elysa dennoch nicht klarer sein können. Sie drückte Theodoras Finger.
»Elysa?«
Sie vernahm Darians Stimme und auch den drängenden Tonfall. Dennoch ließ sie sich Zeit, bis sie sich zu ihm umdrehte. Theodoras Hand ruhte noch immer in ihrer.
»Darian?«
Die Blicke zuckten zu dem jungen Mann herum, der in dem Zeltdurchgang erschien. Rotes Haar stach unter der Militärkappe hervor, passend dazu trug er den beigefarbenen Zweiteiler. Als er die zahlreichen Augenpaare bemerkte, die ihn nun musterten, errötete er. Nervös tippte er sich gegen seine Kappe. »Entschuldige bitte die Störung, aber das kann nicht länger warten. Ich komme auf direkte Anweisung von Vater.«
»Was?«, knurrte Darian leise.
»Es ist das passiert, was wir bereits vermutet haben.« Der Mann machte sich gerade.
»Was sagt das Ärzteteam?«
»Ohne ihm zu schaden, können sie nichts machen.«
»Verdammt«, murmelte Darian und massierte sich die Stirn, als wollte er einen üblen Kopfschmerz vertreiben.
»Vater erwartet dich.«
Darian nickte langsam, schaute den Mann bereits nicht mehr an, sondern sah zu Elysa. »Ich fürchte, ich muss dich bitten, mit mir zu kommen.«
»Jetzt?« Elysa blickte von ihm zurück zu Theodora. Sie hatte die Augen geschlossen und schlief.
»Ich weiß, das ist nicht leicht. Vor allem nicht jetzt. Aber wir dürfen keine Zeit verlieren, weil … Calypso braucht deine Hilfe. Wir brauchen deine Hilfe.«
»Darf ich jetzt zu ihm?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Ja.« Darians trauriger Tonfall gefiel Elysa nicht.
Widerwillig löste sie sich von Theodoras Hand, beugte sich vor und drückte ihrer Mutter einen Kuss auf die Stirn. Als sie sich zurücklehnte, war da wieder dieses Lächeln, das Elysa die Tränen in die Augen trieb. »Ich komme bald wieder«, sagte sie mit gebrochener Stimme und trat von dem Bett zurück. Als sie sich zu Darian umdrehte, seufzte Elysa.
»Ich werde dafür sorgen, dass du sofort unterrichtet wirst, falls irgendetwas ist«, sagte Sofia und blickte sie mitfühlend an.
»Danke.« Elysa lächelte. Theorora war hier viel besser aufgehoben als in jedem einzelnen Tag im Fügungssektor. Bevor sie durch das Zelt nach draußen traten, blickte Elysa noch einmal zurück zu ihrer Mutter. Das Nächste, was sie wissen musste, war, ob es Calypso gut ging, und danach würde Darian ihr erklären müssen, was hier eigentlich vorging. Theodoras Brustkorb hob und senkte sich regelmäßig, Sofia stand an ihrem Bett und beobachtete die Apparaturen. Ihre Mutter war in Sicherheit. Was auch immer das für den Moment bedeutete. Und Calypso lebte, alles Weitere würde die Zukunft bringen.
»Komm, du willst doch Calypso sehen oder doch nicht?« Ungeduld stand in Darians Gesicht.
Elysas Herzschlag beschleunigte sich. »Ja.« Sie lächelte.
Als sie aus dem Zelt traten, fiel Elysa auf, dass sie sich am Rand des Lagers befanden. In einiger Entfernung erblickte sie die hohe Mauer von Beehive, davor etliche Meter trockenen, rissigen Bodens. Fassungslos versuchte Elysa zu verstehen, was falsch an diesem Bild war.
»Wo …?«, fragte sie atemlos.
Darian grinste breit. »Willkommen im Exil«, sagte er und bestätigte damit die unglaubliche Vermutung, die sich in ihr breitmachte.
Ende Band 1