Kapitel 15:
Entscheidungen & Exil
Angespannt starrte Elysa auf den Bildschirm.
Die Handlung des Films ging vollkommen an ihr vorbei, irgendetwas
mit viel Action und Explosionen. Nicht weit entfernt von ihr saß
Carol. Nichtsahnend. Zum Tode verurteilt. Der Gedanke an ihr
Schicksal schnürte Elysa die Kehle zu. Wann würde Calypso seine
Drohung wahr machen?
»Was ist eigentlich los mit dir?«
Lucie saß neben ihr auf der Couch, näher als gewöhnlich, weil sich heute ein Hauptteil der Mädchen in die Couchlandschaft drängte. Doch selbst die Enge löste ein erträgliches Maß an Angst aus, sie war einfach hintergründig. Lucie hatte sich eines ihrer Nachthemden als Turban um den Kopf geschlungen und den Schleier daran befestigt. Das sah immer noch seltsam aus, aber verbarg immerhin die scheußliche Glatze.
»Nichts.«
»Ach komm schon. Seit du wieder da bist, hast du kein einziges Wort über Calypso verloren. Während die anderen gar nicht aufhören können zu plappern, wenn sie von ihm zurückkommen.«
Einige der Bienen schauten zu ihnen herüber, unter anderem auch Carol.
»Dann haben die anderen Mädchen ja schon genug erzählt.« Angespannt starrte Elysa auf den Fernseher, nahm jedoch keines der Bilder tatsächlich wahr.
»Wahrscheinlich, weil sie sich Calypso förmlich an den Hals geschmissen hat«, sagte Zidora in beißendem Tonfall.
»Na du musst es ja wissen«, knurrte Elysa. Sie spürte Wut in sich aufsteigen. Bisher hatte die Rothaarige über das gemeinsame Essen nicht ein Wort verloren.
»Es war schon fast abartig«, fügte Zidora an die Mädchen um sie herum gerichtet hinzu und ignorierte Elysa. »Kein Wunder, dass er mich weggeschickt hat, es muss sogar ihm unangenehm gewesen sein.«
»Eigentlich war es vielmehr so, dass du ihm auf die Nerven gegangen bist.«
Zidoras Wangen röteten sich, sie musterte Elysa aus schmalen Augen. »Pass auf, was du sagst.«
Die beiden jungen Frauen erhoben sich zeitgleich. Wütend taxierten sie sich.
»Sonst was?«
Zidoras Lippen kräuselten sich. »Das willst du lieber nicht rausfinden.«
»Hey!« Lucies Stimme hallte laut durch den Bienenstock. »Es reicht!«
Zidora musterte sie zornerfüllt. »Halt dich da raus!«
»Bescheuert«, sagte Lucie ungerührt, lachte bitter und schüttelte den Kopf.
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden. Ich hab gesagt, dass du bescheuert bist. Der ewige Zickenterror. Würde mich nicht wundern, wenn Calypso jede Einzelne von uns ins Exil schickt.«
Elysa fuhr heftig zusammen, was ihr einen irritierten Seitenblick von Lucie einbrachte. Elysa biss sich auf die Unterlippe. Lucie wusste ja gar nicht, wie nah sie mit dieser Äußerung an der Wahrheit lag. Doch auch Zidora schienen diese Worte zu treffen, denn sie setzte sich wieder hin. Elysa tat es ihr nach, ihr Magen schmerzte. Einzig der Actionstreifen, der über den Fernseher flackerte, füllte den Raum mit Geräuschen. Erst als eine Weile verstrichen war, begannen sich die Frauen wieder leise zu unterhalten.
»Du bist anders«, flüsterte Lucie.
»Quatsch.« Elysa tat, als würde sie die Handlung des Films voll in Beschlag nehmen. Tatsächlich fürchtete sie jedoch, dass die Wahrheit ihr längst ins Gesicht geschrieben stand.
Lucie betrachtete Elysa eingehend. »Nein, ich meine es ernst, irgendwas hat sich verändert an dir.«
Statt einer Antwort schüttelte Elysa bloß den Kopf. Sie spürte, dass auch Carol noch immer zu ihr herübersah, doch sie wollte den Blick einfach nicht erwidern. Das Gefühl, von Calypso beobachtet zu werden, war schlimmer denn je.
»Carol!«
Erneut zuckte Elysa zusammen. Lucie legte die Stirn in Falten und auch das eine oder andere Mädchen musterte Elysa nun mit offenkundiger Skepsis.
»Was hast du denn?«, zischte Tania und sah Elysa an, als wäre sie von allen guten Geistern verlassen. Die ältere Biene schüttelte entnervt den Kopf, als Elysa nicht antwortete.
»Carol, morgen Früh hast du ein Treffen mit Calypso. Direkt nach deinen Untersuchungen hole ich dich ab.«
»Ich … als Einzige?« Carols Stimme klang leicht schrill. Die Mienen einiger Mädchen wandelten sich. Sie bedachten Carol mit missgünstigen Blicken, die Elysa einen kühlen Schauer über den Rücken jagten.
»Ja. Scheinst wohl etwas Besonderes zu sein.« Tania zuckte mit den Schultern, ihr Ausdruck blieb neutral.
Täuschte sich Elysa oder war Carol gerade etwas blasser geworden? Während die anderen Mädchen sie umarmten und beglückwünschten, wirkte sie auf einmal sehr steif. Ob sie etwas ahnte?
Calypso hatte sein Versprechen verdammt schnell wahr gemacht. Oder hatte er gelogen und wollte Carol tatsächlich sehen? Auf einmal fühlte sich ihr Brustkorb furchtbar eng an. Sie versuchte das Gefühl zu verdrängen, von sich zu schieben, doch dieses Mal gelang ihr das nicht.
»Ach, und Elysa? Ich habe ein Paket für dich.« Tania zog unter dem Arm ein kleines Päckchen hervor. Golden mit roter Schleife.
»Für mich?«
»Von Calypso«, grollte sie.
Die Mädchen um sie herum quietschten aufgeregt. Perplex nahm Elysa es entgegen.
»Er hat mich ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es nur für dich bestimmt ist.« Tanias Blick war ernst. Elysa hielt die schmale Verpackung fest umklammert. »Und ihr Übrigen: Morgen beginnen die Anproben für eure Ballkleider. Wer ab jetzt auch nur ein Gramm zunimmt, den jage ich höchstpersönlich so lange über den Schlossplatz, bis er wieder hineinpasst! Außerdem kommt Oscar in der nächsten Zeit, um mit euch den Talentwettbewerb durchzusprechen und die einzelnen Auftritte zu planen. Es hat sich ja schon herumgesprochen, dass die beiden Ereignisse auf einen Tag fallen! Wenn ihr mir vor dem Komposium Schande bereitet, lernt ihr mich von einer vollkommen neuen Seite kennen. Lasst euch gesagt sein, dass die Veranstaltung eine der letzten Möglichkeiten ist, euch vor dem König zu beweisen.«
Damit wandte sie ihnen den Rücken zu und überließ die Mädchen ihren aufgeregten Gesprächen. Lucie jedoch starrte immer noch neugierig auf das Paket, wie auch einige andere Bienen.
»Was ist das?«, flüsterte Lucie.
»Ich habe keine Ahnung«, murmelte Elysa wahrheitsgemäß. Unter den Blicken der anderen erhob sie sich und ging in Richtung ihres Zimmers. Sie würde keine Minute länger warten, um zu schauen, was Calypso ihr geschickt hatte.
Fassungslos starrte Elysa in den kleinen Karton. Dabei war es nicht einmal das knappe Outfit, das sie bis ins Mark erschütterte, sondern die Nachricht, die er in geschwungener Schrift auf einen weißen Zettel geschrieben hatte. Ordentlich auf zarte Seide und teure Spitze gebettet.
Für die Nacht, ich bin sicher, es steht dir ausgesprochen gut. Morgen ist für Carol Stichtag und weiterhin stellt sich mir die Frage: Wie loyal bist du? Calypso
Die Unterwäsche, die diesen Namen kaum noch verdiente, war eine Frechheit, keine Frage. Doch darum ging es nicht. Nein, vielmehr war es ihm wichtig, ihr mitzuteilen, was morgen passieren würde, damit kein Zweifel daran bestand, welches Schicksal Carol ereilen würde. Stichtag. Elysa schüttelte sich. War sie tatsächlich bereit, so weit zu gehen? Der zweite Zettel war es, der ihr diese Entscheidung abnahm. Er befand sich ebenfalls in der Schachtel, allerdings nicht so sauber platziert, sondern hastig zwischen die Wäsche geschoben. Zwei Nachrichten, die unterschiedlicher nicht sein könnten.
Du darfst sein Vertrauen nicht verlieren. D.
Die Botschaft war kürzer, aber nicht weniger bedeutsam. In der Kombination fassten die beiden Nachrichten perfekt Elysas Dilemma zusammen. Sie schloss die Augen, atmete tief durch. Das alles war Wahnsinn. Unwillkürlich fragte sie sich, ob Calypso sie in diesem Augenblick beobachtete. Genoss er es, wie sie perplex in das Paket starrte? Die Botschaft von Darian hatte sie in aller Verborgenheit der Schachtel gelesen und jetzt wieder zwischen die Stoffteile geschoben. Doch vielleicht hatte er auch das gesehen? Die Verunsicherung trieb ihr den Schweiß auf die Stirn. Kurz war sie dazu verleitet, mit dem langsamen Zählen zu beginnen, um sich zu beruhigen, verwarf den Gedanken jedoch wieder. Wenn sie die nächste Zeit irgendwie überstehen wollte, musste sie sich in den Griff bekommen. Mit steifen Beinen erhob sie sich, legte den Deckel sorgsam auf die Schachtel und trug sie zu ihrem Kleiderschrank. Demonstrativ öffnete sie die Tür und verstaute die Verpackung in dem untersten Fach. Dann schloss sie den Schrank und verließ das Zimmer.