Kapitel
2:
Schmerz & Gegengift
Elysa verschränkte die Arme vor der Brust.
Weniger aus Trotz, mehr um das Zittern ihrer Finger zu verbergen.
»Gib es mir.«
»Sagst du mir jetzt, wofür du es brauchst?«, fragte Darian grinsend.
Sie befanden sich am Rand der großen Parkanlage im äußeren Ring der Wabe. Elysa blickte auf den strahlend grünen Rasen, der jeden Tag penibel von einer ganzen Armada von Gärtnern gepflegt wurde. Dieses Grün hier täuschte nicht vor, echt zu sein; es war es tatsächlich, genau wie die Bäume und Blumen. Auf dem großen Teich im Zentrum des Parks, in direkter Nähe zum Fügungszentrum, schwammen Seerosen. Der Garten, so nannten sie diesen Bereich, war ein Geschenk des vorletzten Königs gewesen. Ein Ort, der dazu einlud, zu entspannen und der Natur zu frönen, wie sie früher einmal gewesen war. Eine Farce, wenn man bedachte, dass die braunen Kieswege, die durch das Gelände führten, nicht verlassen werden durften.
Elysa blickte abermals in Richtung Himmel. Kein Stück Blau war mehr zu erkennen, nur tristes Grau. Es nieselte leicht. Wenigstens war aufgrund des Wetters niemand unterwegs.
»Also?«
Elysa blickte zu Darian. »Nein.«
»Ein kleiner Hinweis? Ich meine, ich kann dir nicht das harte Zeug besorgen, ohne zu wissen, was du damit vorhast. Ich wette, allein eine Tablette haut dich komplett aus den Schuhen.«
»Mach dir da mal keine Sorgen.«
Darian schnaubte. »Hast du, was ich wollte?«
Elysa ging in die Hocke, öffnete ihren Rucksack und zog als Erstes den zusammengeknüllten Poncho heraus. Verseucht. Ihre Schulungsunterlagen waren erwartungsgemäß in Mitleidenschaft gezogen; zerknittert, stellenweise eingerissen. Sie schob alles beiseite und ertastete den Grund. Das kleine Fläschchen fühlte sich noch immer kalt an. Als Elysa es aus der Tasche holte, wurden Darians Augen groß. Sie presste das Gefäß mit der gelb schimmernden Flüssigkeit an ihre Brust.
»Ambrosia«, flüsterte Darian beinahe andächtig.
»Ja. Gib mir erst die Tabletten.«
»Ich frage besser nicht, woher du das Zeug hast, oder?« Er hob eine Augenbraue.
»Da, wo sie fehlt, wird man sie nicht vermissen«, gab sie knapp zurück. Tatsächlich war es noch immer die Flasche, die sie vor drei Jahren zu ihrer Zwischenprüfung bekommen hatte. Ein Geschenk des Komposiums, das sie niemals geöffnet hatte.
Darian seufzte. »Egal. Wir machen es gleichzeitig.«
Ihre Finger berührten sich kaum, als es zu dem Austausch kam. Doch es reichte, um ein unangenehmes Kribbeln in Elysas Körper auszulösen. Blitzschnell ließ Darian das Behältnis in seiner Hosentasche verschwinden. Trotz der geringen Größe schaute der Kopf heraus. Elysa umfasste das kleine Döschen mit beiden Händen und atmete tief durch. Endlich. Erleichterung flutete ihr Bewusstsein.
»Vielleicht doch ein Junkie?« Darian grinste und fing dafür einen verärgerten Blick auf. Er zuckte mit den Schultern. »Hey, was soll ich denn denken, wenn du mir nicht verrätst, was du damit willst?«
»Sagst du mir denn, wofür du das brauchst?«, fragte Elysa und deutete auf die halb verborgene Flasche Ambrosia.
»Weißt du, wie viel das Zeug wert ist? In den Arbeiterstraßen würden die Leute so ziemlich alles für einen Schluck dieses Luxusgetränks geben.« Darian legte den Kopf schief. »Aber das ist natürlich vollkommen unverständlich für jemanden deines Standes.«
Elysa stöhnte entnervt. »Wie auch immer. Danke für deine Hilfe.«
Sie drehte sich gerade um, als sie eine Hand auf ihrer Schulter spürte. Elysa fuhr zusammen und duckte sich mit einer fließenden Bewegung unter der Berührung weg. »Bist du bescheuert?« Ihre Wangen röteten sich und sie wich zurück.
Darian lachte. »Ach ja. Ich vergesse immer, wie hoch die Strafen auf den Kontakt von Fügungskandidatinnen zu Männern sind.«
Er log. Das stand offen in seinem breiten Grinsen.
»Mach’s gut«, knurrte sie und entfernte sich eilig.
»Elysa?!«
Sie drehte sich nicht um, lief unbeirrt weiter.
»Wenn du irgendjemandem etwas davon erzählst …?!«
Er beendete den Satz nicht, doch das war auch nicht nötig. Elysa verstand die Drohung. Sie presste die Dose fest an sich, ließ sie nur widerwillig in den Taschen ihres Overalls verschwinden. Jetzt würde alles gut werden.
Ihre Wohneinheit lag am Ende einer Sackgasse. Wie Sonnenstrahlen führten die Wege vom Fügungszentrum weg. Dieselben gelb-roten Reihenhäuser säumten als Block jede Straßenseite.
Die Gasse war leer. Während der festgelegten Ruhezeiten hielten sich beinahe alle Fügungskandidatinnen mit ihren Familien in ihrem Zuhause auf, und die hatte seit wenigen Minuten begonnen. Elysa lief etwas schneller. Abermals grummelte der Erdboden. Sie hob den Blick, schaute die Mauer hinauf, die den Staat Beehive schützte. Wabe 21 war einer der Randbezirke und somit direkt an der Außenwand gelegen. Wie eine Festung umgab der hohe Schutzwall den Staat; breit und massiv. Schusssicher, durchbruchsicher und sehr stabil. Das Material war ein Produkt des Krieges, eine der wenigen positiven Entwicklungen.
Elysa eilte zu der Wohnungstür. Sie öffnete sich automatisch, als die Gesichtserkennung Elysa identifizierte.
Im Haus war es dunkel. Sämtliche Vorhänge waren zugezogen, weil das Licht Theodora in den Augen schmerzte. Elysa war so daran gewöhnt, dass sie kaum Zeit benötigte, bis sie in dem Dämmerlicht etwas erkennen konnte. Sie stellte ihren Rucksack ab und schlüpfte aus dem Poncho. Schnell huschte sie in das kleine Gästebad direkt neben der Eingangstür und schälte sich aus dem Overall. Ihre Alltagskleidung lag ordentlich zusammengefaltet auf der Kommode. Als Elysa das Bad neu gekleidet verließ, blieb das andere Kleidungsstück achtlos auf dem Boden liegen.
Das leise Jammern aus dem Schlafzimmer gehörte genauso zu dieser Wohnung wie die Dunkelheit. Mechanisch lief sie durch den Flur. Saurer Geruch schlug ihr entgegen. Das bedeutete, dass Theodora sich schon wieder übergeben hatte. Elysa schloss die Augen, atmete tief durch und betrat das Zimmer. Ihre Mutter hustete pfeifend, wälzte sich unruhig.
»Hallo Mom.«
Die Frau reagierte nicht, sondern wimmerte nur.
»Ich weiß, ich war lange weg. Ging leider nicht anders.« Elysa griff nach dem Eimer, der neben dem Bett stand. Tatsächlich befand sich das Frühstück darin, das sie ihrer Mutter erst vor wenigen Stunden mühevoll eingeflößt hatte. Elysa seufzte. Immerhin war es dieses Mal in dem Behälter gelandet.
»Aber ich habe dir etwas mitgebracht, damit es dir besser geht.« Sie holte das Döschen hervor und schüttelte es, sodass die Pastillen darin klimperten. Wieder keine Reaktion außer schmerzerfülltem Stöhnen.
Elysa griff nach dem Glas auf dem Nachttisch und füllte es mit Wasser. Vorsichtig öffnete sie die kleine Dose und zählte neun Tabletten. Lächerlich wenig in Anbetracht des Risikos, das sie eingegangen war. Sie nahm eine heraus und brach sie in der Mitte durch. »Du bekommst erst mal nur eine Halbe. Wir müssen uns das, was wir haben, gut einteilen.«
Die Lippen von Theodora fühlten sich kühl und spröde an, als sie die weiße Pastillenhälfte dazwischen zwängte. Elysa drückte mit dem Glas den Mund auf, versuchte ihr die Flüssigkeit einzuflößen, wobei die Hälfte über das Kinn lief. Ihre Mutter hustete, würgte, aber die Tablette war bereits verschwunden.
»Na siehst du«, sagte Elysa zufrieden und strich ihr liebevoll einige feuchte Haarsträhnen aus dem Gesicht. Bei Theodora standen ihre Ängste im Hintergrund, es waren die einzigen Momente, in denen sie die Nähe zu einem anderen Menschen ertrug. Gegen ihren Willen stiegen Elysa Tränen in die Augen. Theodora war einmal eine hübsche Frau gewesen; blonde Haare, hochgewachsen, schlank, zierliche, elegante Figur. Durch die Krankheit war ihr Gesicht eingefallen, die Haut fast transparent und ihr Haar strohig.
Elysa war als Säugling in die Familie von Theodora und Daniel eingegliedert worden. Ihr Vater war gestorben, als Elysa sechs Jahre alt gewesen war. Sie wusste kaum etwas über ihn, außer dass Theodora ihn unheimlich geliebt hatte.
Solange wie Elysa sich erinnerte, pflegte sie ihre Mutter. Die Krankheit hatte ihr bereits damals die Lebensenergie geraubt, wenn auch nicht in dem Maße wie jetzt. Seit dem Tod ihres Vaters hatte sich der Krankheitsverlauf drastisch verschlimmert. Das bedeutete für Elysa ein streng durchstrukturiertes Leben mit wenig Raum für eigene Interessen. Zu den Zeiten, in denen die anderen Fügungskandidatinnen den angebotenen Freizeitbeschäftigungen nachgingen oder gemeinsam etwas unternahmen, musste Elysa zurück zu Theodora. Sie brauchte regelmäßig Sauerstoff über die Apparatur, musste gefüttert und gewaschen werden, ihre Medikamente bekommen. Laut dem Komposium war das ihre Aufgabe, es gab keine Unterstützung. Selbst in der einstündigen Mittagspause aß Elysa nicht in der Mensa, sondern brachte das Essen mit nach Hause. Sie kam kurz vor Beginn der Fügungskurse und ging, noch bevor einer der anderen Mitschüler das Gebäude verließ. Eine Tatsache, die wohl auch dafür verantwortlich war, dass Elysa keine Freunde hatte. Sie störte sich daran wohl deswegen nicht, weil ihr zumeist keine Zeit dafür blieb. Ihr Leben drehte sich um Theodora und darum, möglichst gute Leistungen in den Fügungskursen zu erzielen. Denn selbst wenn ihre Zukunft in hohem Maße vorbestimmt war, wollte sie das Bestmögliche für sich und ihre Mutter erreichen. Eine Pflegerin, die für das gesundheitliche Allgemeinwohl zuständig war, lebte sehr viel besser als eine schlichte Reparatur-Arbeiterin. Abgesehen davon lag eine medizinische Fügung bei ihren Erfahrungswerten nahe.
An eine fröhliche Theodora erinnerte Elysa sich nur so schemenhaft, als wäre es bloß ein Traum. Theodoras Gebrechen war wie bei so vielen anderen eine Folge des Krieges. Obwohl die Kämpfe lange vorbei waren, fraß sich der Krebs noch immer wie eine Seuche durch die Bevölkerung. Es war wie ein Fluch, der sich über den neuen Staat Beehive gelegt hatte. Vielleicht verdienten sie es nicht, das, was sie so grundlegend zerstört hatten, wieder aufzubauen.
Theodora hustete japsend, würgte. Gräulicher Schleim lief über ihr Kinn. Elysa griff nach einem Tuch und wischte die Verschmutzung routiniert weg.
»Seit gestern steht fest, dass die neue Krebstherapie keine Anwendung finden wird. Sie sagen, dass es zu teuer ist. Stattdessen soll die Geburtenrate noch weiter angehoben werden. Sie haben gute Hoffnung, weil Calypso jung ist und seine Werte ausgezeichnet sind.«
Theodora verzog das Gesicht schmerzerfüllt. Elysa merkte, dass sie plapperte. Das geschah immer öfter, wenn sie bei ihrer Mutter am Bett saß. Sie griff nach ihrer Hand, streichelte sie.
»Sie munkeln, er sähe fantastisch aus. Beinahe jedes Mädchen im richtigen Alter hofft eine Biene zu werden, gerade weil sie jetzt die Aufnahmebedingungen gelockert haben. Ich verstehe das nicht.« Elysa atmete tief durch. »Ihr einziges Lebensziel wäre dann, dem König Nachwuchs zu schenken.«
Sie zuckte mit den Schultern. Theodora stöhnte schmerzerfüllt, ihr Körper krampfte. Als sie nach Luft rang, griff Elysa nach dem Sauerstoffgerät und legte ihr den Beatmungsaufsatz über Nase und Lippen.
»Eine halbe Stunde Frischluft für dich, Mom. Vielleicht wirken dann ja auch die Schmerzmittel.« Elysa verstaute die Tablettendose sorgsam auf dem Nachttisch und verließ das Zimmer. Das laute Surren der Apparatur bereitete ihr Kopfschmerzen. Sie ging ins Wohnzimmer und berührte den Touchscreen, der in schlummerndem Zustand wie die gläserne Platte des Esstisches anmutete. Sie seufzte, als sie den rot blinkenden Briefumschlag in der linken oberen Ecke sah. In letzter Zeit enthielt der virtuelle Briefkasten selten gute Neuigkeiten. Dennoch tippte sie ihn an. Sechs neue Nachrichten. Die ersten drei waren Reklame-Mails, die für die neusten Nahrungsergänzungsmittel warben. Außerdem war da noch der Newsletter von Wabe 21. Es folgte der wöchentliche Bericht von Theodoras Arzt, der Elysa die aktuellen Röntgenbilder und den Krankheitsstatus mitteilte. Wie erwartet sah es schlecht aus. Die Lunge war komplett infiltriert und die vor einiger Zeit entdeckten Hirntumore hatten an Größe noch zugenommen. Die nüchterne Analyse lautete: 2 % Überlebenschance, errechnete Lebensdauer: 2–6 Wochen. Außerdem fand sich in dem Text abermals der Hinweis, dass aufgrund der fortschreitenden Erkrankung keine Medikamente mehr für Theodora vorgesehen waren. Zu teuer für jemanden, der ohnehin zum Tod verurteilt war. Elysa schloss die Augen.
1 …
2 …
3 …
Zählen beruhigte die Nerven, erdete sie gewissermaßen. Das hatte es schon immer getan. Als Elysa bei zwanzig angekommen war, öffnete sie die Augen und schloss den Bericht. Die letzte Benachrichtigung kam von der Fügungseinrichtung und war mit einem roten Ausrufungszeichen versehen. Elysa biss sich fest auf die Unterlippe, bekämpfte die aufkeimende Angst mit Schmerz. Sie wusste, dass sich ab morgen alles verändern würde, und das unter Umständen nicht zum Guten. Anhand ihrer Gene maß man sie und ordnete jede Einzelne ihrer zukünftigen Arbeit zu. Wann dies geschah, entschied das Komposium. Man bekam ein Haus in der entsprechenden Straße zugewiesen, erhielt eine praktische Ausbildung ergänzend zu der bisherigen und führte das Gelernte ein Leben lang aus.
Punkt.
Niemand konnte ihr sagen, was während der Arbeitszeiten mit Theodora geschah, ob für sie gesorgt wäre oder wie ihr Alltag aussehen würde. Seufzend tippte Elysa auf die Nachricht.
Sehr geehrte Elysa,
schon morgen ist es so weit, Ihre Fügung steht kurz bevor. Ein ganz besonderer Moment im Leben eines jeden Bürgers von Beehive. Ab diesem Zeitpunkt sind Sie nicht länger eine Fügungskandidatin, sondern ein vollständiges Mitglied Ihrer Wabe. Das bringt natürlich auch Verpflichtungen mit sich. Im Folgenden haben wir noch einmal die möglichen Wege für Sie aufgezählt:
1. Arbeiterin
Ein fleißiges Mitglied unserer Gemeinschaft, das uns mit Kleidung, Nahrung und Serviceleistungen versorgt.
2. Drohne
Der Schutz unserer Bürger ruht auf ihren Schultern.
3. Pflegepersonal/Hebammen
Sie sind für die Geburt, Genesung und Untersuchung des Volkes zuständig.
4. Bürokratin
Ordnet, sortiert und dokumentiert alle Vorgänge der Wabe.
5. Biene
In ihren Händen liegt unsere Zukunft.
Wie Sie sehen, besteht in diesem Jahr die einzigartige Möglichkeit, als Biene dem Staat Beehive zu dienen. Eine ganz besondere Ehre, die mit dem Amtsantritt unseres neuen Königs Calypso zusammenhängt, der mit Beginn seines Regierungszyklus sogar zwanzigMädchen in den Palast aufnimmt. Die Wahl findet unter den Kanidatinnen im Alter von 16–21 statt. Gemeinsam mit unserem neuen König blicken wir in eine glückliche Zukunft!
Wir wünschen Ihnen unzählbaren Erfolg auf Ihrem übrigen Lebensweg. Es lebe Beehive und die Gemeinschaft! Auf dass viele Jungen geboren werden!
Das Komposium
Elysa schloss kurz die Augen und massierte sich die Stirn. Seit Jahren sammelte das Komposium Daten über ihre körperliche Entwicklung, Ärzte nahmen einmal wöchentlich Blut ab, scannten ihren Organismus nach irgendwelchen Merkmalen. Es war demnach die Summe aus ihrer Körperanalyse und ihren schulischen Leistungen, die Elysas Zukunft ergab. Doch eigentlich war es schon unmittelbar nach ihrer Geburt entschieden gewesen. Ab dem Moment, wo man sie in eine Familie einsortiert hatte, die selbst nur mäßige bis schlechte Gene aufwies, war klar, dass das Kind niemals mehr zu erwarten hatte.
Aus dem Schlafzimmer ihrer Mutter erklang das Piepen des Sauerstoffgeräts. Der Zyklus war beendet. Zögerlich erhob sich Elysa. Sie und ihre Mutter würden also morgen schon ihre Sachen packen und zurück in den Arbeiterbezirk ziehen. Und damit hatte das Komposium recht. Ihr Leben würde sich ab Tagesanbruch grundlegend verändern.