Kapitel 17:
Leben & Tod
Die Pflegerin musterte sie skeptisch. »Dein
Blutdruck ist etwas hoch, fühlst du dich nicht wohl?«
»Nein, mir geht es gut.« Elysa wrang die Finger ineinander. In Wahrheit war rein gar nichts in Ordnung. Nur noch wenige Minuten und sie würden Carol wegbringen. Und Darian wollte sie treffen. Vermutlich um ihr noch mehr Druck zu machen als ohnehin schon.
»Fertig.« Die blonde Pflegekraft lächelte sie emotionslos an. Elysa rutschte von der Bahre, ihre Knie fühlten sich weich an.
»Warte noch kurz hier.«
Elysa verschränkte die Arme vor der Brust und nickte, woraufhin die Frau das Zimmer verließ.
»Du hast dich dran gehalten.«
Elysa erschrak so heftig, dass sie rückwärts gegen die Krankenliege stolperte. Darian grinste.
»Wo … kommst du denn her?«
Er deutete hinter sich. »Durch die Tür.«
»Schleichst du dich immer so an?«
»Vielleicht bist du einfach zu unaufmerksam?« Darian hob beide Augenbrauen, lief zu der Liege und setzte sich lässig darauf. Elysa wich von ihm zurück und sah verunsichert zu der Tür.
»Keine Sorge. Niemand wird hier reinkommen.«
»Da scheinst du dir ja sehr sicher zu sein«, grummelte Elysa. »Ist überhaupt jemand hier nicht eingeweiht?«
Darian lächelte und schwieg.
»Wofür braucht ihr mich?« Elysa ballte die Hände zu Fäusten.
»Weil er der Schlüssel ist«, entgegnete Darian und auf einmal wurde seine Miene ernst. »Elysa, das alles hier ist noch viel größer, als du dir vorstellen kannst.«
»Erklär mir endlich, was los ist!«
»Das geht nicht.«
»Warum?« Elysas Fingerknöchel traten weiß hervor, ihre Nägel bohrten sich in ihre Haut.
»Weil das alles gefährden würde.« Darian verschränkte die Arme vor der Brust.
»Alles gefährden? Calypso schickt Carol ins Exil!«
Er schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Sorgen. Es wird ihr nichts geschehen.« Er lachte merkwürdig hohl.
»Und woher soll ich das wissen?«
»Du wirst mir wohl einfach vertrauen müssen.«
Elysa lachte. »Wenn du mir wenigstens einen Hinweis geben …«
»Ich werde dir heute sogar mehr als das geben. Denn, ob du es glaubst oder nicht, es liegt auch im Interesse meiner Leute, dass du dir der Wichtigkeit deiner Aufgabe bewusst wirst.« Er rutschte von der Liege. »Komm mit.«
»Aber …?«
»Ich habe doch gesagt, du sollst dir keine Gedanken darum machen«, murmelte Darian entnervt und trat durch eine Tür, die Elysa bisher noch nicht aufgefallen war. Dahinter lag ein schmaler Flur mit gelben Wänden.
»Wo gehen wir hin?«, zischte Elysa, als sie zu ihm aufschloss.
»Du wirst gleich etwas zu sehen bekommen.« Darian wirkte angespannt. Der Gang verlief schnurgerade und endete an einem weiteren Durchgang, der mit einem Zahlenfeld gesichert war.
»Es ist verdammt wichtig, dass du nicht durchdrehst, verstanden?«
Elysas Augen wurden groß. »Was meinst du?«
Darian seufzte, trat an das Codefeld und begann eine Zahlenfolge einzutippen. »Ich will einfach, dass du nicht rumschreist oder so, klar?« Der Zugang öffnete sich und offenbarte eine weitere Tür mit einem massiven Hebel. Darian griff danach, sah aus, als wollte er daran ziehen, drehte sich aber noch einmal zu ihr um. »Also du bist still, ja?«
»Ich werde sicher nicht …« Elysas Atem stockte, als Darian an dem Riegel zog. Kälte schlug ihr entgegen. »Was … ist …?«
»Das ist die Wahrheit«, sagte Darian geheimnisvoll.
Elysas Kehle wurde trocken. Bei jedem Einatmen transportierte sie mehr dieses chemischen Geruchs in ihre Lunge. Ihr Atem bildete kleine Wölkchen in der Kälte. Das Geräusch, als sich die Tür hinter ihnen wieder schloss, hatte etwas Endgültiges.
»Das …?«
Darian trat an die erste Bahre auf der rechten Seite. Insgesamt befanden sich auf der einen Raumhälfte vier, auf der anderen fünf; jeweils im gleichen Abstand. Auf allen lag ein weißes Tuch, unter dem sich deutlich die Statur eines Menschen abzeichnete. Elysa wurde übel. Sie beobachtete Darian dabei, wie er nach dem ersten Laken griff.
»Darf ich dir Dora vorstellen, eine der letzten Bienen?« Die Haut der Frau war weiß, blutleer. Sie trug nichts außer der goldenen Unterwäsche, die Elysa aus ihrem eigenen Schrank kannte. Elysa schnappte nach Luft.
»Nicht schreien«, mahnte Darian und trat an die nächste Bahre. »Das ist Leona.« Er wartete nicht, sondern enthüllte sofort ein weiteres bleiches Gesicht. »Marie.«
Gerade als er sich dem nächsten Metalltisch zuwandte, fand Elysa ihre Stimme wieder. »Nein.«
Er musterte sie.
»Ich habe es verstanden«, sagte Elysa leise.
»Tatsächlich?«
Sie senkte den Blick, als sich Darian mit einem Ellbogen auf die Kante von Maries Totenbett lehnte. Die unmittelbare Nähe zu der Leiche schien ihm nichts auszumachen. Ein Schütteln ging durch ihren Körper.
»Dann erklärs mir«, bat er grinsend.
»Hier liegen die Bienen aus der letzten Generation.« Die Worte klangen so hohl und viel zu schlicht.
»Richtig. Weiter. Was schließt du daraus?«
»Dass sie jemand umgebracht hat?«
Darians Miene hellte sich auf. »Ganz genau. Alle bis auf eine.«
»Tania?«
»Sie ist die letzte Überlebende.«
»Aber … warum?« Elysa rang nach Atem.
»Weil sie nicht mehr gebraucht werden.«
»Und deswegen …? Wieso hier?«, stammelte Elysa.
»Weil Dinge mit den Körpern geschehen. Sie haben zwar lebend ausgedient, aber tot noch lange nicht.«
»Sie machen noch etwas mit ihnen?«
»Sie brauchen ihre Daten.«
»Das Komposium?«
»Vielleicht.«
»Und meinst du, Tania weiß … davon?«
Darian beobachtete Elysa, wirkte interessiert. »Vermutlich. Ehrlich gesagt kann ich dir das nicht genau beantworten. Und zwar wegen der Frage, die du dir als Nächstes stellen musst.«
Elysa blickte ihn fragend an.
»Wir haben keine Ahnung, wer genau das hier getan hat.« Darian grinste. »Bisher gehen die Menschen immer davon aus, dass die höchste Macht innerhalb der Waben …«
»… die Könige sind«, unterbrach Elysa ihn.
»Nein, nein. Die Könige sind bloß der Meinung, sie hätten etwas zu sagen. Schein und Sein. Die eigentlichen Entscheidungsträger sind andere.«
»Wer?«
»Das wissen wir nicht. Aber das Komposium hat damit zu tun.«
»Also sind sie doch für den Tod der Bienen verantwortlich.«
Darian griff nach einem der weißen Tücher, das auf dem Boden gelandet war, und deckte es wieder über die Frau, deren Augen leer an die Decke starrten. »Wir glauben, dass mehr dahintersteckt. Etwas Größeres. «
»Was?«
Darian schüttelte den Kopf. »Ich kann dir nicht alles sagen, aber wir brauchen deine Hilfe. Wir müssen herausfinden, wer das hier zu verantworten hat.« Er deutete auf die umliegenden Leichen. »Weil das hier ist nur ein ganz kleiner Teil, glaub mir.«
Elysa atmete tief durch. Ihre Gedanken rasten. Außerdem war ihr übel von dem chemischen Duft, der in diesem Raum vorherrschte. Die Kälte war zur Nebensächlichkeit geworden. Elysa spürte, dass sie zitterte, doch ihre Haut war taub. Im Geist sah sie sich und all die anderen Bienen hier liegen.
»Wenn wir nichts unternehmen, wird noch viel Schlimmeres passieren.«
»Können wir jetzt gehen?«, fragte Elysa. Ein saurer Geschmack stieg ihr in den Mund.
Darian blickte sie eine Weile an, nickte. Sie schwiegen, während sie zurück in den Untersuchungsraum gingen.
»Hilfst du uns?«
»Was soll ich tun?«
»Wir sind uns ziemlich sicher, dass derjenige, wer auch immer die Entscheidungen trifft, auch mit dem König in Kontakt tritt. Er scheint das wichtigste Glied in der Kette zu sein. Aber an ihn kommen wir nicht einfach so ran. Nur die Bienen haben regelmäßig Kontakt zu ihm. Wir müssen wissen, wer an oberster Stelle steht.«
»Er wird es mir nicht einfach so sagen.«
»Nein. Du brauchst sein Vertrauen.«
»Calypso ist sehr misstrauisch.«
»Was wiederum bestätigt, dass er ein Geheimnis hüten muss.«
Darian machte einen Schritt in ihre Richtung. Sie müsste bloß die Hand ausstrecken, um ihn zu berühren. Die plötzliche Nähe verstärkte die Taubheit ihres Körpers, das Gefühl von Panik blieb jedoch aus.
»Deiner Mutter wird nichts geschehen, Elysa. Das ist kein leeres Versprechen. Aber wenn wir nicht bald herausfinden, wer da oben die Regeln macht, haben wir alle ein Problem.«
»Was meinst du?«
»Heb dir deine Fragen für Calypso auf. Für heute reicht es erst mal.« Damit wandte er ihr den Rücken zu und ließ sie in dem kleinen Behandlungsraum zurück.
»Ist Carol schon weg?«, fragte Elysa mit dünner Stimme. Sie hatte das ungute Gefühl, dass der Leichengestank an ihrer Haut haftete. Immer wieder tauchten vor ihrem inneren Auge die Bilder der fahlen Frauen auf. Der chemische Geruch klebte an ihren Schleimhäuten, hatte sich in ihrer Nase festgesetzt.
»Klar, direkt nach der Untersuchung. Wo warst du denn so lange?«, fragte Lucie misstrauisch.
Elysa spürte, wie ihr Magen krampfte. Jede einzelne Faser von ihr wollte Darian vertrauen. Wenn er recht hatte, müsste sie sich um Carol keine Sorgen machen. Und dennoch tat sie es. Sicher würde er ihr auch Lügen erzählen, um zu erfahren, wer die Leute hinter dem Komposium waren.
»Hey! Antwortest du mir?!«
Elysas Blick zuckte zu Lucie. »Ähm … ja, entschuldige. Die Untersuchung hat länger gedauert. Meine Blutwerte waren nicht in Ordnung.«
Lucies Augen weiteten sich. »Was?«
»Keine Sorge, sie haben bloß etwas verwechselt. Ich bin okay.« Elysa versuchte lässig zu klingen, es gelang ihr nur teilweise.
Lucies Lippen wurden schmal. »Dann darfst du dich ja jetzt doppelt freuen.«
»Wieso?«
»Die Dienerschaft hat gerade wieder dein Bett ins Zimmer getragen. Anscheinend hast du irgendetwas richtig gemacht.«