Kapitel 16:
Fragen & Beweise
»Elysa?«
Sie schluckte hart. Die Stimme erinnerte sie im Halbschlaf daran, dass sie sich nicht allein in dem Bett befand. Angst schlängelte sich über ihre Arme und sorgte für ein Kribbeln. Unbehaglich, aber bei Weitem nicht mehr so wie am Anfang noch.
»Ja?«
»Was hat Calypso zu dir gesagt?«
Elysa schwieg, starrte in die Dunkelheit. »Nicht viel.«
»Das glaube ich dir nicht. Ich habe drei Schwestern und denen habe ich immer angehört, wenn sie versucht haben mich anzulügen.«
»Ihr wart zu dritt?«, fragte Elysa zum einen aus Neugierde, zum anderen in der Hoffnung, Lucie auf neue Gedanken zu bringen. Drei Kinder deuteten darauf hin, dass ihre Familie privilegiert war. Den meisten Elternpaaren wurde höchstens zweimal Nachwuchs zugewiesen.
»Ja, ich bin die Älteste.«
»Erzähl mir von ihnen.« Trotz oder vielleicht gerade wegen ihrer Ängste hatte sich Elysa immer Geschwister gewünscht. Schließlich war ihre Mutter, und damit auch ihre Familie, die Einzige, deren Berührungen keine Panik in ihr auslösten. Noch jemanden zu haben, bei dem es ihr so ging, war eine wärmende Vorstellung. Doch aufgrund von Theodoras Krankheitsausbruch und dem frühen Tod von Elysas Vater war es niemals dazu gekommen.
»Du willst nur von meinen Fragen ablenken.« Lucie seufzte. »Die Jüngste von uns, Lizzy, ist acht und die mittlere, Jill, ist zwölf. Die beiden haben genau das richtige Alter, um mich in den Wahnsinn zu treiben.« Lucie lachte, aber ein Hauch Wehmut schwang darin mit.
»Du vermisst sie?«, flüsterte Elysa.
»Verdammt doll.« Ihre Stimme war belegt. »Aber das spielt ja keine Rolle, oder? Wir führen ein neues Leben.«
Es klang so bitter, dass Elysa ein ungutes Gefühl beschlich. Dieses Gespräch hatte Potential, sich in eine vollkommen falsche Richtung zu entwickeln.
»Es geht ihnen bestimmt gut.«
»Natürlich. Aber wer weiß, wie lange das bei mir noch der Fall ist?«
»Lucie, ich …«
»Nein, ich meine es ernst. Weißt du, was mit den Bienen geschieht, die ausgedient haben?«
Elysa biss sich auf die Unterlippe. Wenn Calypso tatsächlich jedes Wort davon mitbekam, musste sie schnellstmöglich dafür sorgen, dass Lucie die Klappe hielt. Oder zumindest nichts Verfängliches mehr von sich gab.
»Spielt das eine Rolle? Über zwanzig Jahre dauert eine Amtszeit und die werden wir hier leben. Ich will mir jetzt noch keine Gedanken darüber machen, was dann ist.«
»Das klingt dumm.«
»Lucie …«
Das Bettzeug raschelte, als sich Lucie zu ihr umdrehte. »Es gibt alle zwanzig Jahre zehn Bienen, richtig?«
»Bis auf dieses, stimmt.«
»Die Erste Biene übernimmt die Führung des Bienenstocks, wie Tanja jetzt, und hat nach Ende des Zyklus die Möglichkeit, in das Komposium aufgenommen zu werden. Aber was ist mit dem Rest der Bienen? Was geschieht mit ihnen nach ihrer Amtszeit? Und wenn Tania nicht ins Komposium aufgenommen wird, wo kommt sie dann hin?«
»Verdammt viele Fragen, dafür dass du diejenige bist, die die Kurse belegt hat«, entgegnete Elysa vage.
»Das gehört zu den Dingen, über die keiner spricht. Du weißt doch: Die Vergangenheit spielt keine Rolle. Eine absurde Regel, weil es ja auch um unsere Zukunft geht.«
»Du solltest …«
»Ich meine, welchen Sinn hat das hier alles, wenn sie uns im Nachhinein ohnehin ins Exil schicken?«
»Lucie, jetzt lass gut sein.«
»Siehst du?«
»Was?«
»Das meine ich. Seit du von dem Treffen mit Calypso zurück bist, benimmst du dich merkwürdig.«
»Schwachsinn.« Elysa atmete tief durch. Alles in ihr schrie danach, Lucie die Wahrheit zu sagen. Sie biss sich so fest auf die Zunge, dass sie Blut schmeckte.
»Irgendetwas scheint mit ihm faul zu sein.«
»Er … ist anders, als man denkt«, antwortete Elysa ausweichend.
»Anders gut oder anders schlecht?«
Elysa seufzte. »Lucie, du weißt doch, dass wir über die Treffen nicht sprechen dürfen.«
»Ich will ja auch nicht darüber reden, sondern wissen, wie du ihn findest.«
Elysa wurde warm, ihre Wangen glühten förmlich vor Hitze. »Er ist sehr … wortgewandt.« Keine Lüge und dennoch nicht die volle Wahrheit. Es fühlte sich so falsch an, dass Elysa eine neue Welle Angst zu überwältigen drohte.
»Und …?«
»Nichts und.«
»Du lässt dir echt alles aus der Nase ziehen.«
»Lucie … ich kann nicht«, stammelte Elysa.
»Ich hab echt gedacht, du bist anders.«
»Es tut mir leid. Ich würde wirklich gerne …«
»Ach komm. Lass gut sein, Elysa.« Das Bettzeug bauschte sich, als Lucie ihr den Rücken zuwandte.
Da war sie wieder, die Angst. Als hätten allein Lucies Worte sie aus der Tiefe gelockt. Elysa begann zu zittern, ihr Herz raste. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie versuchte gleichmäßig zu atmen, nicht zu hektisch.
1 …
Lucie rutschte noch ein Stück weiter zurück. Ihre Art, Elysa ihr Missfallen mitzuteilen.
2 …
Erst als sie bei achtundvierzig ankam, erklang neben ihr das leise Schnarchen von Lucie. Es dauerte noch bis siebenundachtzig, bis sich ihr Herzschlag wieder vollends beruhigt hatte. Nun fühlte sich ihre Kehle jedoch verdammt trocken an und müde war sie auch nicht mehr. Elysa schob die Beine aus dem Bett und schlich auf Zehenspitzen zu der Tür, unter deren Spalt mattes Licht hindurchschien. Die Wasserkaraffe stand auf einem kleinen Tisch am Ende des Flurs. Sacht schloss Elysa die Tür hinter sich.
»Ich habe nur Durst«, sagte sie schnell zu der Drohne, die sie fragend ansah. Es war jene, die sie jede Nacht wachhielt. Eine übergewichtige Frau mit einer blonden Stoppelfrisur und einem schrägen Grinsen. Hastig eilte Elysa über den Gang, kein Ton war zu hören. Die Wachdrohne wartete vor ihrer Zimmertür, während Elysa sich in eines der bereitstehenden Gläser einschenkte. Gierig nahm sie einige Schlucke, genoss die Wirkung, die das kühle Wasser auf ihren kratzigen Hals hatte.
»Biene Elysa.«
Diese zuckte zusammen, sah sich verunsichert um.
»Erlaubst du?«
Erst spät sah Elysa die Dienerin, die sich ihr mit einer weiteren Wasserkaraffe näherte. Elysa erkannte sie; die junge Frau hatte ihr das erste Päckchen mit dem knappen Outfit gebracht.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte das Mädchen, während sie den halb leeren Wasserbehälter gegen den vollen austauschte.
»Nein«, murmelte Elysa.
»Das trifft sich gut«, flüsterte die Dienerin, zwinkerte ihr zu und Elysa bemerkte gerade noch den kleinen gefalteten Zettel, der nun neben der Karaffe lag. Irritiert blickte sie die Dienerin an. Ihr Blick war freundlich, aber nichtssagend.
»Kann ich sonst noch etwas für dich tun?«
Elysa schwieg, blickte in Richtung der Drohne, die sie noch immer im Visier hatte.
»Nein danke …«, gab sie verstört zurück.
»Was ist denn da los?«, zeterte die Frau von der anderen Seite des Flurs.
»Ich habe nur das Wasser ersetzt«, rief die Dienerin und schenkte Elysa einen letzten eindringlichen Blick. Ohne sich noch einmal umzudrehen, verschwand sie aus ihrem Sichtfeld.
Möglichst beiläufig stellte Elysa das Glas auf dem Tisch ab und griff nach dem Stück Papier. Sie wandte der Drohne halb den Rücken zu, sodass sie nicht sehen konnte, was genau Elysa tat. Ihr Herzschlag setzte einige Schläge aus. Zeitgleich wurde ihr heiß und kalt. Ihre Mutter starrte ihr von dem Foto entgegen. Sie lag in einem Bett, an mehrere Geräte angeschlossen. Theodora war blass und sah schwach aus, aber dennoch lebte sie. Auf den unteren Rand des altmodischen Polaroids waren mit einem schwarzen Stift die Worte geschmiert: Sie lebt. Ich treffe dich morgen im Untersuchungsraum.
Augenblicklich fielen ihr die Kameras ein und sie ließ das Foto im Bund ihrer Hose verschwinden. Mit zitternden Fingern stellte sie das Glas auf dem Tisch ab. Was, wenn Calypso etwas davon gesehen hatte? Wie konnte Darian das riskieren?
»Wie lange kann das denn noch dauern?!«, donnerte die Stimme der Drohne.
»Ja, ja, ist gut«, murmelte sie in Richtung der Wächterin, lief den Flur entlang und schlüpfte zurück in das dunkle Zimmer. Lucie atmete gleichmäßig. Elysa wusste, dass Einschlafen heute unmöglich war, und das lag dieses Mal nicht einzig an der Nähe zu ihrer Freundin.