Kapitel 10:

Talent & Fitness

 


»Und wir beugen uns tief hinab, bis unsere Hände den Boden berühren.«

Der goldene Einteiler des näselnden Mannes glänzte so stark, dass er Elysa in den Augen blendete. Ihr Atem ging schwer. Frustriert stellte sie fest, dass sie nicht einmal ansatzweise den Marmorboden erreichte. Als wären ihre Arme gut zehn Zentimeter zu kurz. Vorsichtig schielte sie hinüber zu Lucie, die dieses Problem nicht zu haben schien. Gelangweilt blickte sie Elysa an und verdrehte die Augen. Sie schwitzte nicht einmal.

»Und halten!«, trompetete Oscar, der sich ihnen als Fitnesstrainer vorgestellt hatte. Nach nunmehr dreißig Minuten intensiven Trainings würde Elysa ihn jedoch mehr als Folterknecht bezeichnen. Sie hatte in ihrer Zeit im Fügungszentrum nur die Grundkurse im Sport belegt. Da ihr Gewicht immer im Optimalbereich gelegen hatte, waren ihr auch niemals zusätzliche Kurse auferlegt worden. Zu den Bienen-Vorbereitungslehrgängen gehörte dies jedoch offensichtlich dazu. Während Elysa bereits an die Grenzen ihrer Kondition stieß, schienen die übrigen Mädchen gerade einmal warm geworden zu sein.

»Ihr wollt doch hübsch für unseren König sein, oder? Dann wiederholen wir die letzte Abfolge noch einmal. Eins … zwei … und … drei …«

Oskar begann enthusiastisch die Choreografie vorzuturnen, die sie noch vor wenigen Minuten einstudiert hatten. In seinem goldenen Gymnastikanzug gab er ein derart komisches Bild ab, das Elysa sich das Lachen verkneifen musste und stets hinterherhinkte. Mit seinen spargeldürren Beinen und den merkwürdigen grünen Haaren, die ihm in die Stirn fielen, wirkte er tatsächlich wie ein Frosch, der sich ein goldenes Kostüm übergestreift hatte. Elysa kam ein glucksender Laut über die Lippen.

»Aufpassen, Elysa!«, rief er in quäkendem Tonfall. Doch zu spät: Lucie prallte mit ihr zusammen, weil Elysa sich in die falsche Richtung bewegt hatte.

»Immer schön mitmachen, Mädels! Wir sind hier nicht zum Spaß!«, rief er, und irgendwie wusste Elysa, dass diese Aussage allein ihr galt.

Das Training zog sich noch eine Dreiviertelstunde hin, die Elysa an ihre Grenzen beförderte. Als Oscar sie schließlich erlöste, dröhnte ihr Herzschlag laut durch den Körper und ihre Knie fühlten sich zittrig an. Japsend lehnte sie sich gegen eine der Säulen und wünschte sich nichts lieber als eine kühlende Dusche.

Lucie trat neben sie und grinste. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ein zarter Schweißfilm stand auf ihrer Stirn. Ansonsten deutete nichts darauf hin, dass sie gerade Sport getrieben hatte. »Na? Kaputt?«

»Vollkommen … erledigt.«

Sie blickte zur Tür, wo Lauren gerade gemeinsam mit Oscar durch die goldenen Flügeltüren verschwand. »Wo … will sie hin?«

Lucie reichte ihr eine Wasserflasche und Elysa nahm gierig ein paar Schlucke. Dabei störte es sie merkwürdigerweise nicht, dass gerade noch Lucie daraus getrunken hatte.

»Mutti hat eine Runde Extraturnen gegen den dicken Hintern angeordnet«, antwortete Carol, die ebenfalls zu ihnen stieß. Erleichtert stellte Elysa fest, dass auch sie verschwitzt und müde aussah. Carol wischte sich mit einem Handtuch mehrmals durchs Gesicht. »In meinen Kursen hatten wir vermehrt Krafttraining, dieses Rumgehüpfe ist nichts für mich«, brachte sie erschöpft hervor, als hätte sie Elysas Gedanken gelesen.

»Ihre Mutter ist wirklich ein Sklaventreiber«, murmelte Lucie und öffnete den Zopf, mit dem sie die hellblonden Haare zurückgebunden hatte. Elysa fiel nicht zum ersten Mal auf, dass die Mädchen immer, wenn sie über ihre Familien redeten, sich unruhig umschauten. Die Vergangenheit war zwar tabu, doch sprachen die Bienen regelmäßig darüber, wenn Tania und Calypso nicht in der Nähe waren.

»Sie meint es doch nur gut«, sagte Melody, die sich nun ebenfalls zu ihnen gesellte. Auch sie wirkte nicht so, als hätte sie bis eben noch trainiert.

Lucies Augenbrauen hoben sich, als sie sagte: »Dass das gerade von dir kommt?«

Melody zuckte mit den Schultern. »Sie hat Glück, dass sich ihre Eltern wenigstens für das alles hier interessieren. Meine haben sich nicht mal gefreut.«

»Also mal ehrlich. Ich wäre lieber ein Arbeiter, der Klos schrubbt, als die als Mutter zu haben.«

»Das behauptest du jetzt. Ich sage zu Lauren immer, sie kann froh sein, dass sie ihre Mom hat. Vielleicht schafft sie es sogar und wird die Erste Biene. Dann hat sich der ganze Stress doch gelohnt.«

»Lauren? Ernsthaft?« Carol runzelte die Stirn. »Dafür fehlt der Kleinen einfach das Arschloch-Gen. Wenn die sich vor die Weiber stellt und denen sagen will, wo es langgeht, dann macht doch keiner …« Carol verstummte, als Melody ihr einen wütenden Blick zuwarf.

»Also ich gebe Carol recht. Das wird nichts, selbst wenn ihre Mutter sie persönlich zum König trägt«, sagte Lucie ungerührt.

Melodys Wangen röteten sich. »Ihr werdet euch alle noch wundern, was in Lauren steckt!« Damit wandte sie sich von den Mädchen ab und stapfte davon.

»Das war unnötig, ihr zwei«, sagte Elysa und wischte sich abermals den Schweiß aus dem Gesicht. Endlich ging ihr Atem wieder regelmäßig, doch ihre Haut glühte noch immer.

Lucie hob beide Augenbrauen und schüttelte genervt den Kopf. »Sie soll sich nicht so anstellen. Ich habe weder sie noch ihre geliebte Lauren beleidigt.«

»Wascht euch endlich!«, erklang Tanias lautstarke Stimme und ließ die Mädchen herumfahren. Sie klatschte mehrfach in die Hände und warf den kleinen Grüppchen herrische Blicke zu. Als ihre Augen an der verschwitzten Elysa hängen blieben, kräuselten sich ihre Lippen.

»Vorausgesetzt, ihr könnt euch nach der kleinen Sporteinheit noch auf den Beinen halten.«

Elysa spürte eine weitere Welle Hitze über sich zusammenschlagen, dieses Mal aus einem anderen Grund.

 

»Mein Großonkel hat mir schon von der Feier erzählt, es wird so wunderschön«, trällerte Zidora.

»Meinst du den Ball?«, fragte eine der Blonden, Elysa wusste nicht einmal ihren Namen. Still verharrte sie in der letzten Kabine der Gemeinschaftsduschen und schlang die Arme fest um ihren nassen Körper. Sie verhielt sich leise, lauschte. Die Mädchen hatten nach ihr den Raum betreten und sie bisher noch nicht entdeckt. Zu Elysas Glück.

»Ja, mein Onkel hat mir schon so viel Tolles erzählt. Ich kann euch noch nicht viel verraten, aber es soll ein rauschendes Fest werden. Und wir alle bekommen neue Kleider!«

»Neue Kleider?«, quietschte eine ihrer Anhängerinnen.

»Der König sei höchstpersönlich dabei gewesen, als sie entworfen wurden«, sagte Zidora und Elysa konnte ihr Grinsen förmlich hören.

»Das ist so aufregend.«

Im Stillen bezweifelte Elysa, dass der König auch nur eine Sekunde seine Zeit damit verbracht hatte, ihre Kleider anzuschauen. Zumindest nicht der Calypso, den sie kennengelernt hatte.

»Aber das ist noch nicht alles.« Zidora machte eine gedehnte Pause. Sie genoss es offensichtlich, die Mädchen auf die Folter zu spannen. »Der Talentwettbewerb soll am gleichen Abend wie der Ball erfolgen.«

»Was?«, erklang es einstimmig aus den Mündern der Mädchen.

Zidora lachte. »Ja, wie ich gehört habe, soll die Vorstellung vor dem versammelten Komposium stattfinden. Für mich natürlich kein Problem.«

Während Zidora sich lässig gab, schwiegen die anderen betroffen und auch Elysa spürte, wie sich ein fester Klumpen in ihrer Magengegend bildete. Talentwettbewerb?

»Was wirst du aufführen?«, fragte diejenige, die Elysa als Diana identifizierte. Ein Mädchen mit fast hüftlangem, wasserstoffblondem Haar, das ständig lächelte.

»Ich bekomme seit dem fünften Lebensjahr Gesangsunterricht. Ich werde mit meinem Auftritt dafür sorgen, dass Calypso mich nicht so rasch wieder vergisst.«

»Sicherlich wirst du ganz fantastisch sein«, sagte eines der Mädchen.

»Davon ist auszugehen.«

Das Rauschen des Wassers verstummte. Anscheinend waren sie fertig. Endlich. Elysa fror so sehr, dass sie bereits am ganzen Körper zitterte.

»Ich muss mit euch noch über etwas anderes sprechen.« Zidoras Stimme hatte einen verschwörerischen Tonfall angenommen, der Elysa hellhörig werden ließ. »Ist sonst noch jemand hier?«

Elysa drückte sich reflexartig an die geflieste Wand. In unmittelbarer Nähe wurden Türen aufgeschlagen. Sie vernahm Schritte, eines der Mädchen näherte sich ihrer Kabine. Elysa verbarg sich halb hinter der Schwingtür. Sie hielt die Luft an, schloss die Augen. Die Schritte näherten sich. Jemand berührte die Tür und schob sie noch ein Stück weiter auf, sodass Elysa sich noch enger an die kalte Wand drückte.

»Hier ist niemand!«

»Sicher?«

Die Badeschlappen des Mädchens klatschten durch die feuchte Sanitäranlage. Sie entfernte sich. Elysa atmete erleichtert aus.

»Es geht um diese Lucie. Sie nervt mich schon lange. Ich denke, der Talentwettbewerb ist die richtige Gelegenheit, um sie in die Schranken zu weisen.«

Wieder erklang das Kichern der Mädchen. »Was hast du vor?«

»Nun«, begann Zidora gedehnt. »Wenn mich nicht alles täuscht, hat sie im Fügungsunterricht Tanzkurse genommen. Was darauf schließen lässt, dass sie Ähnliches bei dem Talentwettbewerb aufführen wird. Ich rechne mit irgendeiner albernen Stepptanznummer.«

»Furchtbar.«

»Schrecklich.«

»Nicht wahr?« Nun war es Zidora, die giggelte. »Doch das allein wird natürlich nicht genügen, um dem König zu zeigen, was für eine furchtbare Person sie ist.«

»Natürlich nicht.«

»Deswegen habe ich mir gedacht, dass wir ihre Schuhe vielleicht mit ein paar Spezialeffekten ausstatten.«

Das darauffolgende Gelächter war hämisch. Elysa schluckte. Das klang nicht gut.

»Das ist eine fantastische Idee, Zidora.«

»Ich weiß.«

»Und wie willst du das anstellen?«, fragte Diana.

»Ich habe eine der Dienerinnen bestochen. Sie wird mir vor der Veranstaltung aus Lucies Schrank ihre Schuhe besorgen. Alles Weitere ist ein Kinderspiel.«

»Und wofür brauchst du uns?«, fragte eines der anderen Mädchen.

»Ihr müsst dafür sorgen, dass Lucie abgelenkt wird. Wenn sie bemerkt, was wir vorhaben, war alles umsonst.«

»Und wie sollen wir das machen?«, fragte jenes Mädchen mit dieser dünnen, piepsigen Stimme, die Elysa Kopfschmerzen bereitete.

»Stell nicht immer so dusselige Fragen, Joselyn. Das ist natürlich euch überlassen. Ein wenig Kreativität kann man wohl selbst von euch erwarten.«

Die Tür zu den Waschräumen wurde aufgestoßen und das Gezeter von Zidora verstummte, als sie wieder zufiel. Elysa wartete noch einen Augenblick, bevor sie ihre Duschkabine verließ. Sie durchschritt vor Kälte zitternd den Waschraum und griff nach einem Handtuch. Eilig hüllte sie sich darin ein. Sie musste unbedingt mit Lucie sprechen.

Katharina Groth - Beehive Band 1 - Calypsos Herz
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