Kapitel 23:

Bo & Gefühle

 


Zögerlich trat Elysa in den Durchgang zu der kleinen Bibliothek. Calypso stand vor einem Regal, eines der Bücher hielt er aufgeschlagen in der Hand und schien angestrengt zu lesen. Einen Moment blieb sie so stehen und beobachtete ihn. Als er schließlich aufsah, zuckte er zusammen und schlug das Buch überrascht zu.

»Elysa!«

»Entschuldige«, murmelte sie. »Du wolltest mich sprechen?« Elysas Kehle fühlte sich staubtrocken an. Das Gespräch mit Melinda wollte ihr nicht aus dem Kopf gehen. Innerlich bereitete sie sich schon darauf vor, ins Exil geschickt zu werden. Ihre Finger verkrampften sich ineinander. Damit wäre nicht nur ihr eigenes Schicksal besiegelt.

»Ja!« Calypsos Augen leuchteten vergnügt auf.

»Komm mit. Ich wollte dir schon lange etwas zeigen.«

Noch bevor Elysa etwas erwidern konnte, griff er nach ihrer Hand und zog sie mit sich. Die Berührung jagte ihr Schauer über den Rücken, doch die Panik blieb aus.

Elysa ließ es geschehen, dass er sie durch den gesamten königlichen Trakt zerrte. Erst als sie in einem kleinen Schlafzimmer vor einem Gemälde angelangt waren – beim Motiv musste es sich um einen der frühen Bienenkönige handeln – ließ er sie los. Elysa strich mit ihrer eigenen über die Hand, die er eben noch umfasst hatte. Die Gefühle in ihrem Inneren ließen sich ohne große Mühe bändigen, dennoch glühten ihre Wangen vor Hitze.

»Entschuldige.«

Elysa blickte überrascht auf.

Calypso deutete auf ihren Unterarm. »Ich vergesse zwischendurch einfach, dass …«

»Vollkommen in Ordnung«, sagte sie schnell. Auf ihren Lippen lag ein zittriges Lächeln.

Calypso nickte. Auf einmal war seine Miene ernst. Er drehte sich zu dem Bild um und begann den edlen goldenen Rahmen abzutasten. Als er einen hervorstehenden Schnörkel berührte, klickte es leise und das mannshohe Gemälde sprang einseitig ein Stück aus der Wand. Die Scharniere quietschten, als Calypso danach griff und es wie eine Tür öffnete. Direkt hinter dem Durchgang lag eine Treppe, die nach unten führte. Gegen ihren Willen spürte Elysa, wie ein aufgeregtes Kribbeln durch ihren Körper ging.

Calypso lächelte, als er sich zu ihr umdrehte. »Nicht schlecht, oder?« Er bestieg die erste Stufe und lächelte Elysa zu. »Komm.«

Licht flackerte auf, als sie neben Calypso trat. Er ging voran. Die Stufen bestanden, ebenso wie die Wände, aus schlichtem grauen Beton. Rechts von ihr befand sich ein Geländer, von dem die gelbe Farbe bereits abblätterte. Schlichte Leuchtstoffröhren spendeten Licht, flackerten teilweise und verbreiteten eine unheimliche Stimmung.

»Wohin gehen wir?«, flüsterte sie nach einer Weile, als sie die Stille nicht mehr aushielt.

»Wirst du schon sehen«, sagte Calypso. Obwohl er ihr den Rücken zugewandt hatte, vernahm sie sein Grinsen. »Es wird dir gefallen.«

Er schickt dich persönlich ins Exil, wisperte eine düstere Stimme tief in ihrem Inneren. Elysa schluckte. Irgendwie wollte sie das nicht glauben, und doch waren es wieder einmal ihre Ängste, die ihr Denken beherrschten.

Als sie das Ende der Treppe erreichten, fühlten sich Elysas Knie weich an und drohten unter ihr nachzugeben. Sie befanden sich vor einer massiven Metalltür. Calypso griff unter sein Hemd und holte wieder den Schlüssel hervor. Er zwinkerte Elysa zu, bevor er ihn in das Schlüsselloch steckte und die Tür öffnete. Sie knarrte protestierend, ließ sich aber öffnen. Direkt dahinter befand sich ein dunkelroter Vorhang aus schwerem Stoff.

»Warte kurz«, sagte Calypso und beugte sich nach vorn. Umsichtig spähte er durch den Vorhang. Als er den Kopf wieder zurückzog, schaute er sie zufrieden an. »Perfekt. Die Luft ist rein.«

»Die Luft ist …?« Elysa kam nicht dazu, ihre Frage zu beenden, denn Calypso war bereits durch die beiden Stoffbahnen geschlüpft. Ein ungutes Gefühl beschlich sie, als sie ihm folgte. Der Flur, auf dem sie sich befanden, war leer.

»Sind wir … heimlich hier?«, fragte Elysa zögerlich.

Calypso grinste breit. »Wegen der Renovierungsarbeiten soll ich den Königstrakt eigentlich nicht verlassen. Aber ehrlich gesagt sehe ich es nicht ein, mich einsperren zu lassen, bloß weil der Palast verschönert wird.«

Elysas Magen verkrampfte sich schmerzhaft. »Calypso, wir sollten das nicht tun …«, sagte sie leise, auch wenn in ihr das erleichternde Gefühl heranwuchs, dass er sie vielleicht doch nicht verbannen wollte.

Calypso schnaubte, das Lächeln verschwand aus seinem Gesicht. »Es ist mir aber wichtig. Ich will, dass du etwas siehst.«

»Wir können auch noch, wenn alles wieder … normal ist, danach schauen.« Elysa blickte ihn flehend an. »Wirklich.«

»Nein.« Calypso presste die Lippen aufeinander. »Ich will es dir heute zeigen.«

Damit wandte er Elysa den Rücken zu und lief mit großen Schritten den Flur entlang. Verunsichert blickte Elysa zu den Vorhängen, die geschickt in die Wanddekoration integriert waren und so rein gar nicht den Eindruck machten, als läge eine Tür dahinter. Was, wenn sie einfach zurückginge? Dann müsste er ihr doch folgen, oder? Frustriert schaute sie zu Calypso, der nun fast das Ende des langen Flurs erreicht hatte. Doch was, wenn solch ein Verhalten tatsächlich dazu führte, dass er sie aus dem Palast verwies? Elysa seufzte. Vielleicht war der Ort, an den er sie brachte, ja in einem Teil des Schlosses, der nicht beschädigt war? Ohne weiter darüber nachzudenken, folgte sie Calypso und holte ihn schließlich ein, gerade als er offensichtlich nach der Türklinke greifen wollte.

»Ich wusste, dass du dir das nicht entgehen lässt«, sagte er und lächelte nun wieder.

»Hm«, brachte Elysa hervor.

Als er die Klinke hinunterdrückte, bildete sich in ihrem Inneren ein schmerzhafter Klumpen. Was, wenn Tania ihnen über den Weg lief oder der Flur, der dahinter lag, zerstört war?

Nichts dergleichen war der Fall. Tatsächlich herrschte hinter der Tür reger Betrieb. Diener liefen gehetzt und teilweise schwer beladen über den Flur. Niemand schenkte ihnen Beachtung, als sie sich in die Menge schoben und dem Gang nach rechts folgten. Alle schienen zu beschäftigt, um ihren König zu erkennen. Eine Tatsache, die Calypso offensichtlich amüsierte. Elysa fiel auf, dass viele der roten Stoffvorhänge nun die Wände zierten, mehr als sie vorher noch in Erinnerung gehabt hatte. Sie wagte zu vermuten, was sie in Wahrheit verbergen sollten. Natürlich war es nicht möglich, bis zum Ball alle Schäden restlos zu beseitigen. Dennoch hatte man wohl eine Lösung gefunden, um die zahlreichen Risse zu verbergen. Statt dem Hauptgang zu folgen, gelangten sie nun an eine weitere Treppe. Sie war schmal und unscheinbar, wirkte wie ein reiner Dienstbotenaufgang. Und tatsächlich war an dem Zugang am Ende der Stufen ein Schild angebracht, auf dem stand: »Ausschließlich für Personal«. Calypso schien sich nicht daran zu stören, denn er griff, ohne zu zögern, nach der Klinke.

»Calypso!«

Die Drohne, die sich direkt hinter der Tür befand, riss die Augen weit auf und musterte erst ihn, dann Elysa ausgiebig.

»Hallo Smash«, sagte Calypso. »Ich will zu Bo.«

»Ich …« Die stämmige Frau hatte kurzgeschorene Haare und merkwürdig aufgedunsene Gesichtszüge.

»Hat Bo Dienst?«, versuchte Calypso es erneut. Die Drohne versperrte ihnen mit ihrem massigen Körper den Durchgang.

»Nein, sie ist im Speiseraum«, gab sie schließlich stumpf zurück.

»Gut«, sagte Calypso und drückte die Frau zur Seite. Verunsichert folgte Elysa ihm und wich den scharfen Blicken der Wachdrohne aus.

»Calypso? Was machen wir hier?«, wisperte Elysa gehetzt, während sie ihm folgte.

»Das siehst du gleich.«

Schließlich erreichten sie einen weitläufigen Saal. Mehrere Reihen Metallbänke mit den dazu passenden Tischen waren aufgebaut. Überall befanden sich Wachdrohnen, die sich entweder laut unterhielten oder über den Teller gebeugt ihr Mahl einverleibten. Als Elysa und Calypso den Raum betraten, wurde es sofort still und die Augen aller Anwesenden hingen an ihnen. Doch das schien Calypso nicht zu stören. Vielmehr hellte sich seine Miene auf, als er das – oder vielmehr diejenige – entdeckte, weswegen sie hier waren.

»Bo!«

Die junge Frau lächelte. Im Gegensatz zu den meisten anderen hier war sie schmal gebaut. Ihre dunklen Haare waren kurzgeschoren, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Als sie sich näherten, setzte Elysas Herzschlag für eine Weile aus. Sie schnappte nach Luft.

»Carol.« Der Name kam krächzend über ihre Lippen, kurz bevor ihr die Freundin um den Hals fiel. In diesem Augenblick war Elysa selbst zu überrascht, um in Panik zu verfallen.

»Entschuldige«, keuchte Carol und wich von ihr zurück. »Ich weiß, du bist da nicht so! Aber es ist so toll, dich zu sehen! Mann, ich wollte euch schon viel eher sagen, dass alles okay ist mit mir, aber … «

Carol blickte leicht verunsichert zu Calypso, der ein zufriedenes Lächeln auf den Lippen trug.

»Leider mussten wir das Geheimnis für uns behalten«, beendete er ihren Satz.

»Geheimnis? Ich verstehe gar nichts mehr …«, murmelte Elysa und blickte verwirrt von Carol zu Calypso.

»Vielleicht sollten wir uns hinsetzen und Elysa in Ruhe die Lage erklären«, schlug Calypso vor.

 

Verwirrt beobachtete Elysa ihre ehemalige Bienen-Freundin dabei, wie sie sich den unappetitlich wirkenden Eintopf einverleibte. Er hatte eine leicht gräuliche Farbe und war dickflüssig. Carol hatte sich weit über den Tisch gebeugt und schaufelte das Essen in sich hinein. Ab und zu sah sie auf und berichtete, was geschehen war.

»Ich hab bei der ersten Bienenbotschaft voll Mist gebaut … hab geplappert, ohne das Hirn einzuschalten … und echt gesagt, dass ich viel lieber Wache geworden wäre … so was Idiotisches … ich dachte echt, der schickt mich sofort ins Exil.«

Sie trug natürlich keine Schminke mehr, war aber dennoch bei Weitem die Schönste der Frauen hier unten.

»Doch dann hat er mich … zu diesem Treffen gerufen.« Sie nahm einige Schlucke aus dem Becher und strahlte Elysa an. »Und hat echt gesagt, er will, dass ich bekomme, was ich mir gewünscht habe.«

Ungläubig musterte Elysa den Bienenkönig. »Das hat er?«

Calypso grinste zufrieden. »Ich war beeindruckt von so viel Ehrlichkeit.«

»Es war dämlich. Ist ja nicht so, als hätte man mir nicht beigebracht, was man in so 'ner Bienenbotschaft sagt und was nicht.«

Wut kochte in Elysa hoch. »Mir hast du gesagt, du hättest sie verbannt!«

»Ich wollte wissen, ob ich dir vertrauen kann. Außerdem durften die anderen Bienen nicht erfahren, dass ich einfach so den Wechsel von Carols Fügung veranlasst habe.« Calypso zuckte mit den Schultern.

Elysa atmete lautstark aus. Ein Wirrwarr an Gefühlen beherrschte ihr Innerstes.

»Er hat mir einen Ausbildungsplatz bei den Wachdrohnen beschafft und auch alles andere geklärt. Mein Name ist jetzt Bo.« Sie strahlte über das ganze Gesicht und Elysas Herz schlug etwas schneller. Die ganze Sorge um Carol war anscheinend vollkommen umsonst gewesen.

»Tut mir leid, dass ich dir das nicht eher sagen konnte«, sagte Calypso vorsichtig. »Ich wollte wirklich, aber die Gelegenheit hat sich bisher einfach nicht ergeben. Es gibt nur wenige Eingeweihte, die über Carols tatsächlichen Aufenthaltsort Bescheid wissen.«

»Mein Vater ist verdammt stolz auf mich«, sagte Bo und schob ihren Teller von sich weg. Sie sah tatsächlich glücklich aus.

»Das freut mich«, sagte Elysa. Auf einmal fühlte sie sich erleichtert. Nicht nur weil es Carol gut ging, sondern auch weil Calypso sie nicht ins Exil geschickt hatte. Nein, vielmehr hatte er der jungen Frau eine zweite Chance ermöglicht und das vollkommen uneigennützig.

»Bo!« Die strenge Stimme einer älteren Frau mit Glatze schallte durch den Saal. Sofort kam Bo auf die Beine und stand stramm neben dem Tisch.

»Beweg deinen Hintern raus zu den anderen! Die Pause ist vorbei!«

Trotz des strengen Tons wirkte Bo keineswegs eingeschüchtert, eher stolz. »Ich muss jetzt wieder arbeiten«, sagte sie und grinste dabei. »Wahnsinn, dass du vorbeigeschaut hast!«

Elysa sah ihr an, dass sie sie am liebsten noch einmal in den Arm genommen hätte. Doch sie zögerte in letzter Sekunde, nickte ihr zu und joggte schließlich in Richtung Ausgang. Elysa starrte ihr fasziniert hinterher.

»Überrascht?« Calypso lächelte und verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ja …«

»Ich hätte sie nicht einfach ins Exil geschickt.«

»Aber mich?«

»Nein.« Calypso machte ein verkniffenes Gesicht. »Komm mit, ich möchte dir noch etwas zeigen. Dann können wir reden.«

Benommen folgte Elysa ihm aus dem Speisesaal. Dieses Mal folgten sie einem anderen Gang. Eine Metalltür versperrte wieder einmal den Weg, doch diese hier war nicht abgeschlossen. Als Calypso sie öffnete, schlug ihnen ein kalter Luftzug entgegen, der Elysa frösteln ließ.

»König Calypso.« Die Drohne, die sie dahinter erwartete, musterte sie kurz skeptisch, trat dann aber zur Seite. Calypso nickte ihr zu und lächelte.

Hinter der massigen Frau lag eine Wendeltreppe aus Metall, die sich nach unten wand.

»Komm«, forderte Calypso sie auf und betrat die ersten Stufen. Immer tiefer stiegen sie. Calypso war so schnell, dass ihr leicht schwindelig wurde. Am Ende der Treppe befand sich eine Holztür. Calypso holte den Schlüssel unter seinem Hemd hervor, drehte ihn im Schloss und wandte sich zu ihr um. Als er die Tür öffnete, lächelte er sie an. »Willkommen im Herz des Palastes.«

Elysa stockte der Atem. Das Licht wurde vom Gold zurückgeworfen und blendete sie. Der Raum, der sich ihr eröffnete, glich vielmehr einer riesigen Halle. Reichtümer stapelten sich in Form von Goldmünzen, Barren, Geschmeiden, Diamanten, Smaragden und auch Gemälden. Es war berauschend und übermächtig. Die Schätze reichten fast bis an die Decke.

»Komm«, sagte Calypso. Er lächelete sanft und deutete auf eine Bank aus edlem dunklen Holz, die neben der Tür stand. Ein wenig benommen begleitete Elysa ihn. Münzen knirschten unter ihren Füßen und sorgten dafür, dass sie wegrutschte. Mit zittrigen Knien setzte sie sich auf die Bank. Die Luft hier war kühl und ließ sie frösteln. Im selben Moment legte jemand eine Decke über ihre Schultern. Calypso lächelte, als Elysa ihm einen dankbaren Blick zuwarf.

»Ich komme hierher, wenn ich mich daran erinnern möchte, wie vergänglich alles ist«, sagte er und die beiden starrten auf die gehäuften Reichtümer. »Was nützen all diese Schätze in einer Welt, die dem Untergang geweiht ist? Gar nichts. So schön das hier auch ist.«

Elysa kuschelte sich in die Decke, die zwar leicht kratzig war, aber dennoch wärmte. »Steht es wirklich so schlecht um uns?«, fragte Elysa nach einer Weile. Sie wusste natürlich von der rückläufigen Geburtenrate und dem Krebssterben, aber bisher hatte sie immer das Gefühl gehabt, dass das Komposium der Zukunft optimistisch entgegensah.

»Es sieht verdammt schlecht aus. Im letzten Königszyklus wurden in ganz Beehive kaum Jungen geboren und nur wenige taugen tatsächlich als Könige. In Wabe 3, 6 und 8 mussten die alten Könige ihre Amtszeit verlängern, weil es keinen Nachfolger gibt. Außerdem lässt sich das Krebssterben noch immer nicht eindämmen. Keine Therapie schlägt an.« Elysa musterte Calypso von der Seite. Der Ernst in seinem Gesicht gefiel ihr nicht. Sie schwiegen eine Weile.

»Ich werde dich nicht ins Exil schicken. Genauso wenig, wie ich es mit Carol getan habe.«

Elysa musterte Calypso von der Seite. Seine Gesichtsmuskulatur zuckte.

»Nicht?«

Calypso schüttelte den Kopf. »Ich könnte nicht …« Er blickte sie kurz von der Seite an und wandte sich dann eilig wieder ab. Elysa schluckte, suchte krampfhaft nach Worten.

»Warum hast du das getan?«

»Was?«

»Mich zu Carol gebracht?«

Calypso kniff die Lippen zusammen. »Ich hätte nicht damit leben können, dass du von mir denkst …« Wieder brach er ab. Durch sein Gesicht zuckte Schmerz.

»Ich bin verwirrt«, gab Elysa zu und zog die Decke noch enger um ihren Körper.

»Ich mag dich, Elysa.« Calypsos Blick war unbestimmt in den Raum gerichtet. »Ehrlich gesagt sogar ab dem Tag, als du versucht hast abzuhauen. Auch wenn es zu dem Zeitpunkt noch nicht so gewirkt hat.«

Elysa schüttelte den Kopf. Die Gefühle in ihrem Inneren gerieten durcheinander. Sie verstand die Welt nicht mehr.

»Glaub mir, wenn ich die Möglichkeit hätte, würde ich selbst hier verschwinden. Ich hab es mir nicht ausgesucht, König zu sein.«

Die Aussage wog so schwer, dass sich augenblicklich ein massiver Klumpen in Elysas Brust bildete. Er musste ihr tatsächlich vertrauen, wenn er ihr so etwas erzählte »Und … was würdest du stattdessen gern tun?«, fragte sie zögerlich.

Ein Lächeln stahl sich in Calypsos Gesicht. »Ich weiß es nicht.« Nun sah er Elysa direkt an. »Als Wachmann arbeiten oder auch im Fügungszentrum. Irgendetwas, wo ich was bewirken kann. Hier bin ich ein teures Ausstellungsstück und bloß für die Fortpflanzung zuständig. Das ist … deprimierend.«

»Aber du bist der König. Das, was du sagst, ist Gesetz.«

Calypso lachte und es klang verbittert. »Das habe ich anfänglich auch noch gedacht. Doch glaube mir, es sind ganz andere, die hier die Entscheidungen treffen.« Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz. Reflexartig legte Elysa eine Hand auf seine Schulter. Calypsos Atem ging schwer.

»Wer trifft die Entscheidungen?«, flüsterte Elysa.

Calypso keuchte und sackte etwas in sich zusammen. Keine Frage, irgendetwas bereitete ihm körperliche Schmerzen.

»Das … kann ich dir nicht sagen«, brachte er mühevoll hervor.

Einem inneren Impuls folgend begann Elysa seine Schulter zu streicheln. Sie kämpfte die aufkeimende Panik nieder und klammerte sich an den Gedanken, dass seine Kleidung eine ähnliche Funktion wie die Latexhandschuhe aus den Untersuchungen hatten; ein Wall zwischen ihr und ihm.

Elysa hakte nicht weiter nach, denn offensichtlich gab es etwas – oder jemanden –, der unbedingt verhindern wollte, dass Calypso weitersprach. Es dauerte eine Weile, bis Calypsos Gesichtszüge sich wieder entspannten. Als Elysa ihre Hand zurückzog, griff er so plötzlich danach, dass sie zusammenzuckte. Augenblicklich ließ er sie los. »Entschuldige«, murmelte er. »Ich wollte nur etwas probieren.«

Elysa hielt ihre Hand schützend in der anderen. Ihre Haut kribbelte, das Herz raste.

Calypso betrachtete sie forschend. »Darf ich etwas versuchen?«, fragte er vorsichtig. Elysa wusste selbst nicht, was sie dazu bewegte, als sie nickte. Calypso streckte seine Hand nach ihr aus, und ohne groß zu zögern, legte sie ihre eigene in seine Handfläche. Sie fühlte sich warm an. Kleine Stromstöße kribbelten unter ihrer Haut und warnten vor der nahenden Panik. Eben, als die Berührung noch durch den Stoff der Kleidung gedämmt gewesen war, hatte sie kaum registriert, was geschah. Doch Körperkontakt so bewusst zuzulassen, schürte augenblicklich wieder die alten Gefühle.

»Auf einer Skala von eins bis zehn, wobei zehn unerträglich und eins schön ist; was empfindest du gerade?«

Elysa blickte Calypso ungläubig an, antwortete zögerlich: »Acht?« Nach Elysas Empfinden war das schon ein Fortschritt, wäre sie doch vor wenigen Wochen noch bei zwölf oder fünfzehn gewesen.

Calypso nickte, seine Miene war unergründlich. »Schließ die Augen und atme mehrmals tief durch.«

Ohne zu zögern, tat sie, was er von ihr verlangte. Mit jedem tiefen Atemzug wurde die Angst beherrschbarer und auch das schmerzhafte Kribbeln ließ langsam nach. Was blieb, war ein leichtes Kitzeln, ähnlich dem Gefühl, wenn einem der Fuß einschlief.

»Gut, jetzt mach die Augen wieder auf.« Calypso lächelte, als sie ihn blinzelnd anschaute. »Was macht deine Skala?«

Angespannt lauschte Elysa in sich hinein. Die Angst war leichter Unruhe gewichen und die Tatsache, dass er noch immer ihre Hand hielt, ließ sich gut akzeptieren. Auch fühlte sie nun nicht mehr das dringende Bedürfnis, sie ihm sofort wieder zu entreißen. »Vier?«

Calypso lächelte zufrieden. Neugierig beobachtete Elysa, wie er mit dem Daumen sanft ihren Handrücken streichelte. Ein warmes Gefühl machte sich breit und schob sich neben die Wachsamkeit. Ihr gesamter Körper war angespannt, was eigenartig und zugleich interessant war.

»Alles in Ordnung?«

»Ja«, flüsterte Elysa.

Calypso nickte wissend. »Das hat mir auch schon geholfen.«

»Wieso …?«

Calypsos Mundwinkel zuckten. Er entließ sie aus seinem Blick, ihre Hand hielt er jedoch noch immer in seiner. Und tatsächlich schien sich ihr Körper daran zu gewöhnen.

»Die Ausbildung als König ist hart und man muss lernen, mit vielen Dingen umzugehen. Ich habe recht früh gelernt, dass man einen Weg finden muss, um mit seinen Ängsten umzugehen.« Er sah kurz zu Elysa herüber. »Sonst entgehen einem die guten Sachen.«

»Sprichst du von den Schmerzen, die du hast?«, fragte Elysa vorsichtig.

Augenblicklich verschloss sich Calypsos Gesicht. »Zum Beispiel.« Er schien nachzudenken. »Du willst noch immer wissen, woher sie kommen?«

»Ja«, entgegnete Elysa, auch wenn sie auf einmal Angst vor der Antwort hatte.

Es dauerte eine Weile, bis er zu sprechen begann. »Das klingt jetzt furchtbar verrückt, aber … sie sind in meinem Kopf.«

Elysa schluckte trocken. »Sie?«

Calypso wandte den Blick ab, stieß ein trockenes Lachen aus. »Ich kann das … nicht genau beschreiben … aber sie strafen mich, wenn ich nicht tue, was sie verlangen.« Als er sie ansah, stand die pure Verzweiflung in seinem Gesicht. »Du musst mich echt für irre halten.«

»Ich … es klingt merkwürdig.«

Calypso lachte abermals auf. »Ja, das stimmt.« Er schüttelte den Kopf. »Sie erwarten von mir einiges; so zu sein, wie ich bin: kühl und unnahbar. Das ist … anstrengend.«

»Kann ich dir irgendwie helfen?«, fragte Elysa vorsichtig. Seine Worte überforderten sie.

Calypso schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Ich fürchte nicht … aber wenn ich mit dir zusammen bin, ist irgendwie alles erträglicher.«

Elysa wurde warm. »Das geht mir mit dir genauso«, flüsterte sie.

Eine Weile saßen sie so da. Elysa erblickte eine goldene, etwa dreißig Zentimeter große Figur; Beehives Wappentier. Die Biene war mit gelben, glänzenden Diamanten besetzt und lag schräg auf einem kleinen Haufen Goldmünzen. Sie war wunderschön.

Elysa genoss die Stille zwischen ihnen. Für den Moment war alles gesagt. Schließlich drückte er kurz, aber bestimmt ihre Hand. Sie fühlte sich ganz warm an. »Skala?« Er grinste.

Elysa lächelte. »Zwei?«

Ein versonnener Ausdruck trat in sein Gesicht, dann nickte er zufrieden. Als er sich erhob, ließ er sie los. Augenblicklich fühlte sich ihre Hand kalt an und eine vollkommen neue Sehnsucht trat an die Stelle von Zufriedenheit. Elysa verspürte den Wunsch, dass er sie wieder berührte. Das passte so überhaupt nicht zu ihrem bisherigen Leben, dass sie Calypso nur perplex anstarren konnte.

»Wollen wir wieder zurück?« Er schmunzelte. »Wenn die Wachdrohnen im Königstrakt merken, dass wir verschwunden sind, bricht die Hölle los.«

Elysa nickte, weil sie sich außerstande fühlte, etwas zu entgegnen. In der letzten halben Stunde war etwas so Entscheidendes geschehen, dass ihre gesamte Welt aus dem Gleichgewicht geriet. Ihr Bild von Calypso hatte sich vollständig gewandelt. Stumm folgte sie ihm zurück durch den Palast.

Katharina Groth - Beehive Band 1 - Calypsos Herz
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