Kapitel 1: Damals

 

 

 

Serena drückte ihr Ohr noch fester gegen die Tür. Nichts als leises Murmeln war zu hören. Das massive Holz verschluckte sämtliche Worte. Sie schnaufte. Beharrlich setzte sie ihren Marsch durch das kleine Zimmer fort. Der Stoff ihres ausladenden Kleides raschelte bei jedem Schritt. Es war eines ihrer Lieblingsstücke; eine A-Linie in Fliederblau mit goldener Schnürung und einer diamantenbesetzten Korsage. Ihre schlanke Figur kam darin perfekt zur Geltung. Umso mehr ärgerte es sie, dass die Bratensoße hässliche braune Spuren darauf hinterlassen hatte. Das Kleid war von oben bis unten ruiniert. Serena spürte, wie ihr Tränen in die Augen stiegen. Wut und Verzweiflung pochten durch ihren Körper.

Die melodische Stimmfarbe des Königs erklang auf dem Flur.

Tröstend.

Einfühlsam.

Serena presste die Lippen fest aufeinander. Hass paarte sich mit Wut und ergab einen wahren Sturm an Gefühlen, der nun in ihr tobte. Es war nicht gerecht. An und für sich war es das nie, wenn es um das Mädchen ging. Serena sah es deutlich vor ihrem inneren Auge: wie ihr Ehemann dort draußen beruhigend auf das kleine Biest einredete, während sie – das eigentliche Opfer – hier drinnen ausharrte.

Heute Abend war der sprichwörtliche Knoten geplatzt. Dieses Mal war die Göre zu weit gegangen. Allein beim Gedanken daran spürte sie, wie ein Zittern durch ihren Körper ging. Serena ballte die Hände zu Fäusten und seufzte. Eine einsame Träne lief über ihre Wange. Gereizt wischte sie sie fort, trat an den Spiegel und überprüfte den Sitz ihrer Frisur. Die brünetten Haare waren aufwendig geflochten und hochgesteckt, nicht eine Strähne war verrutscht. Angespannt untersuchte sie ihre Augen nach Spuren, welche die Träne hinterlassen haben könnte. Mit ihren achtundzwanzig Jahren war sie definitiv zu alt, als dass sie sich jetzt zu weinen erlaubte. Doch natürlich war alles in bester Ordnung. Sie seufzte und strich sich über den flachen Bauch, die Rundung ihrer Hüfte und stellte zufrieden fest, dass das Alter ihrer Schönheit noch keinen Abbruch getan hatte. Auch wenn sie sich stets einbildete, dass sich bereits die ersten Fältchen durch ihre Gesichtshaut gruben.

Um sich abzulenken, trat sie an die Fassade ihres Zimmers; eine Wand aus Schattenglas. Das durchsichtige Material kam direkt aus den Schattenbergen und wurde von den kleinen schwarzbeflügelten Silberelfen einzig für den Glaspalast gefertigt. Bloß die Innenwände des Gebäudes bestanden aus gemauerten Steinquadern mit unebener Oberfläche. Sie waren schwarz und ein glitzernder Schimmer lag auf ihnen. Draußen, weit unter ihr, erkannte sie die Lichter von Survia. Von der Stadt aus gesehen, wirkte das Schloss besonders prachtvoll. Immer wenn sie sich das Bild des gläsernen Palastes vor ihrem inneren Auge abrief, musste sie lächeln. Wie er auf der Anhöhe thronte mit seinen zahlreichen Türmen und Giebeln. Das Schattenglas schimmerte hellblau, wenn die Sonne auf das Gebäude schien, und warf funkelnde Reflexe hinab auf die Stadt. Doch heute konnte sie selbst dieser Gedanke nicht aufmuntern.

Die Holztür öffnete sich plötzlich und stieß heftig gegen die steinerne Innenwand. Serena erstarrte. Wut verzerrte Jurans Gesichtszüge. Er war ein gut aussehender König, auch wenn man ihm sein Alter allmählich ansah: maskuline Gesichtszüge mit ausgeprägten Lachfalten und graue Strähnen in seinem dunklem Haar. Natürlich hatte sie die Blicke bemerkt, die ihm die Frauen zuwarfen; das war mehr als nur Ehrerbietung gegenüber dem Herrscher. Sie selbst hatte ihn nie so gesehen. Für Serena war er von jeher ein betagter Mann gewesen, der nicht in der Lage war, länger als drei Stunden friedlich an einem Ort zu verharren. Der ruhelose König, nannte man ihn hinter seinem Rücken.

Das brünette Aas stand draußen auf dem Flur. Serena hatte sie sofort bemerkt. Joranas Wangen waren gerötet und ihre Augen vom Weinen geschwollen. Was für eine Heuchlerin. Serena sah deutlich den Triumph in dem kleinen Gesicht aufblitzen.

Wortlos schloss ihr Gemahl die Tür. Serena schob trotzig das Kinn vor und richtete sich so gerade wie möglich auf, während sie Jurans strafenden Blick über sich ergehen ließ.

»Hast du zu der Sache irgendetwas zu sagen?« Seine sonst so harmonische Stimme klang mühevoll beherrscht.

»Wahrscheinlich ist es klüger, wenn ich gar nichts sage. Habe ich recht, mein König?«, antwortete sie spitz.

»Nenn mich nicht so!«

Serena lächelte schmal. Sie wusste, dass er es bevorzugte, wenn sie persönlichere Anreden verwendete. Er war wohl der erste Monarch seit den großen Schattenkriegen, dem unwohl dabei war, König zu sein. Und das, obwohl er sein Volk liebte. »Ich hatte wirklich gehofft, eine Dame deines Standes würde besser mit solchen Situationen umgehen.«

Serena schnalzte wütend mit der Zunge. Damit traf er einen wunden Punkt. Auf ihre Contenance und Souveränität war sie schon immer besonders stolz gewesen. Heute Abend war ihre Selbstbeherrschung wie fortgespült.

»Es gibt Situationen, in denen es auch mir schwerfällt, die Fassung zu bewahren«, brachte sie steif hervor.

»Das habe ich gesehen. Du weißt, wie ich zu derartigen Gewalttätigkeiten stehe. Und ich dachte eigentlich, in diesem Punkt stimmen wir überein.«

»Hat sie dir gesagt, was geschehen ist? Mein Geburtstag ist ruiniert. Jorana hat mich blamiert! Die Gäste wurden mit Essen beworfen, auch ich habe etwas abbekommen, und von dem dadurch entstandenen Durcheinander wollen wir gar nicht reden. Die Hofdiener sind noch immer damit beschäftigt, den Boden von den Resten des Buffets zu befreien. Sie ist hitzköpfig und unerzogen!«

»Sie sagt, sie wurde ausgelacht. Von dir und deinen Gästen, infolge eines recht hämischen Scherzes über ihr Auftreten!«

»Ihr Kleid war verschmutzt! Von Schlamm besudelt, weil sie sich mit den Kindern im Hof gebalgt hat. Kurz vor Beginn der Festlichkeit. Das war keine Häme, sondern eine gerechte Strafe!«

»Egal wie sie sich aufgeführt hat, es rechtfertigt nicht, sie zu schlagen!« Juran richtete sich steif auf, Entschlossenheit lag in seinem Blick. »Ich habe entschieden, Jorana mit auf Reisen zu nehmen. Vorerst werden wir den gesamten Frühling fort sein. Ich glaube, etwas Abstand vom Palast würde ihr guttun.«

»Wie bitte?!«

Die Lippen des Königs wurden schmal. Er blickte Serena ernst an, und doch verriet eine allzu bekannte Geste seine Nervosität; Juran strich sich mit der flachen Hand durch das ergraute Haar.

»Du nimmst sie mit? Willst du sie für ihr schändliches Verhalten auch noch belohnen?« Serenas Stimme war lauter geworden und leicht schrill.

»Darum geht es nicht, wir müssen eine Lösung finden. Wenn ich sie hierlasse, bringt ihr euch irgendwann noch um.«

»Vielleicht solltest du endlich das tun, was von einem König erwartet wird. Bleib im Glaspalast und kümmere dich um die Belange deines Volkes!«

Juran tat einen Schritt auf sie zu und Serena wich zurück. »Wage es nicht, mir zu erklären, wie ich meiner Berufung nachgehen sollte. Ich bewirke außerhalb sehr viel mehr als du in Survia!«

Serena schnaubte. »Das Kind braucht eine feste Hand. Da draußen wird sie – «

»Ich ziehe es vor, selbst zu entscheiden, was für meine Tochter gut ist, und um ihre Erziehung brauchst gerade du dir keine Sorgen zu machen.«

Serena hasste sich dafür, in diesem Moment Eifersucht zu empfinden. Sie verschränkte die Arme vor der Brust, presste die Lippen fest aufeinander. Das war genau das, was dieses Balg wollte. Und wie immer bekam sie es.

»Ich weiß, es reißt uns auseinander, aber ich denke, es ist der richtige Weg.«

»Ein uns gibt es schon längst nicht mehr.«

Tiefe Trauer lag in König Jurans Blick. »Wahrscheinlich hast du recht. Und eben deswegen möchte ich dir ein Angebot unterbreiten.«

Serena schwieg. Sie hatte genug gorbisches Blut, um sich seinen Vorschlag anzuhören. Verhandlung war schließlich von jeher das Geschick ihres Volkes.

»Ich biete dir die volle Befehlsgewalt über Survia. Jeder Beschluss liegt in deinem Ermessen und erfordert keine zusätzliche Bestätigung durch mich.«

»Wieso solltest du das tun?«

»Weil ich deine Art, mit der Bevölkerung und deren Belangen umzugehen, gutheiße. Doch im Gegenzug erwarte ich von deiner Seite keinerlei Widerstand, was meine Entscheidungen bezüglich Jorana betrifft, und ich wünsche mir, dass du mich nicht verlässt.«

»Ich hatte nicht vor – «

Juran hob die Hand und brachte sie so zum Schweigen. »Jorana hat mich über gewisse Dinge in Kenntnis gesetzt. Geschehnisse, die sich in den letzten Monaten hinter meinem Rücken vollzogen haben.«

Serena errötete. Dieses kleine redefreudige Biest …

»Du brauchst dich nicht zu schämen, Serena. Ich verstehe dich vollkommen. Die Einsamkeit … es ist bestimmt schwer.«

»Ich …«, begann sie, brach allerdings ab. Dass er trotz dieses Wissens verständnisvoll blieb, schmerzte. Keinerlei Bedauern oder gar Eifersucht spiegelte sich in seinen Augen.

»Ungeachtet meines Zugeständnisses betreffend deiner Situation, halte ich dich zu absoluter Verschwiegenheit an. Das Volk könnte es merkwürdig auffassen, wenn es mitbekommt, dass seine Königin eine Liaison mit dem Hofbürokraten hegt.«

Das Rot auf Serenas Wangen nahm eine noch tiefere Farbe an. Ja, es stimmte, sie hatte sich einsam gefühlt. Doch hinzu kam die geradlinige Art ihres Liebhabers, die sie seit Verlassen ihrer Heimat so sehr vermisste. In Gorba waren die Menschen anders, nicht so sprunghaft wie der König. Man handelte kühl und nutzbringend.

»Wie dem auch sei, Serena. Ich möchte dich nicht unnötig beschämen. Ich weiß, du stehst nicht in der Schuld der Schattengöttin und hast daher jederzeit die Möglichkeit zu gehen.«

Seine Worte trafen sie tief in ihr Herz. Nein, sie hatte ihm kein Kind geschenkt und war deshalb nicht an diesen Ort gebunden. Eine Ehe war nichts im Vergleich zu dem, was geschah, wenn man ein Kind vor die Schattengöttin brachte. Serena hatte sich so sehr Nachwuchs gewünscht. Seit ihrem sechzehnten Lebensjahr war sie nun hier und nichts dergleichen war geschehen.

»Die Sache ist beschlossen und mein Angebot denkbar großzügig. Sind wir uns einig?«

Sie nickte mit zugeschnürter Kehle.

»Gut. Du wirst sicher verstehen, dass ich es vorziehe, heute Nacht meine eigenen Gemächer aufzusuchen. Ich wünsche dir angenehm zu ruhen, meine Liebe. Wir werden bereits in den frühen Morgenstunden abreisen. Es bleibt dir überlassen, ob du zu unserer Verabschiedung erscheinst.«

»Juran?«

Er blieb stehen, drehte ihr jedoch weiterhin den Rücken zu.

»Mit deinem Angebot kannst du trotzdem nicht die Schuld umgehen, die Jorana noch zu begleichen hat. Wenn es so weit ist, wird sie ihr Opfer bringen müssen.«

Juran fiel leicht in sich zusammen. Er antwortete nicht, sondern verließ schweigend den Raum.

Als würde die gesamte Kraft ihren Körper verlassen, sackte Serena auf den Boden. Ihr beschmutztes Kleid umgab sie wie ein schützender Wall, hinter dem sie die Tränen zuließ. Sie wollte den Frust laut herausschreien, doch das Einzige, was über ihre Lippen kam, waren raue Schluchzer. Beinahe hätte sie das leise Klopfen überhört. Sie holte einige Male tief Luft, bevor sie sich zu antworten erlaubte.

»Verschwindet!«, rief sie, ohne sich vom kalten, steinernen Boden zu erheben. Die Tür wurde dennoch einen Spalt breit geöffnet.

»Meine Königin«, erklang es, noch bevor sie ihrem Unmut über das offensichtliche Ignorieren ihres Befehls Luft machen konnte. Fillo. Er hatte nur wenige Minuten vergehen lassen, seitdem der König gegangen war.

»Komm herein.« Eilig richtete sie sich auf und wischte sich die Tränenspuren vom Gesicht.

Die Tür wurde vollständig aufgeschoben. Fillo, der Hofbürokrat, betrat den Raum und betrachtete Serena mit analytischem Blick. Es mochte bei den meisten Menschen auf Unverständnis stoßen, doch eben diese grellblauen Augen waren es, die sie so häufig auf den Boden der Tatsachen zurückholten. Fillo war bei Weitem kein hübscher Mann. Er war kaum größer als die hochgewachsene Königin selbst, hatte einen leicht hervorstehenden Bauch und verbarg seinen allmählich zurückweichenden Haaransatz zumeist unter Mützen oder Kappen. Er gehörte zu den Menschen, die man einmal sah und danach getrost wieder aus dem Gedächtnis strich.

»Ich habe gehört, der König beliebt, bereits morgen wieder abzureisen. Mit der Prinzessin.« Er schloss leise die Tür. Der letzte Satz war eine Feststellung, aus der deutliche Zweifel hervorgingen.

»Ja, er hat mir gerade seine Entscheidung mitgeteilt«, sagte sie trocken.

Fillos Augenbrauen hoben sich. »Es tut mir leid, dass Eure Geburtstagsfeier so ein Ende nehmen musste. Ich habe mich bei Euren Gästen entschuldigt und der Speisesaal wurde inzwischen wieder in einen annehmbaren Zustand gebracht.«

»Du brauchst dich nicht zu entschuldigen, Fillo. Es war nicht deine Schuld.«

Seine Worte waren sanft wie eine Umarmung und ersetzten diese vollends. Serena war nie ein Mensch gewesen, der sich mit überflüssigem Geplänkel lange aufhielt. Fillo wusste dies genau und es widersprach seiner Natur, ihr Jeweiliges anzubieten.

»Wie verfahren wir weiter, meine Königin?«

»Wir werden für Ordnung sorgen, Fillo. Endlich wird es so geschehen, wie eine Stadt wie Survia es verdient.«

Fillos Blick war fragend, schließlich machte sich ein Lächeln breit. »So wird also doch der Gerechtigkeit Genüge getan?«

»Zumindest in den meisten Fällen«, antwortete sie, als ihre Gedanken zu Jorana zurückkehrten.

»Kommt Zeit, kommt Rat, meine Königin. Wir werden für alle Probleme eine Lösung finden.«

Diese Nacht, in der die Königsfamilie vereint unter einem Dach verbrachte, blieb Fillo in der Kammer der Königin. Niemand scherte sich um diesen Umstand, nur das leise Munkeln der Kammerzofen und Diener erfüllte die Gemäuer des Glaspalastes.

Katharina Groth - Beehive Band 1 - Calypsos Herz
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