Kapitel 24:

Gewinn & Verlust

 

 


Grinsend betrachtete Calypso den Kartenstapel. Sie beide hatten bloß noch eine Karte in der Hand und er war dran. Punktemäßig lagen sie ungefähr gleich, sodass der nächste Zug die Entscheidung dieser Partie bringen würde. Angespannt starrte Elysa auf die 12A, die in der Mitte des Tischs lag. Wartete. Er zögerte den finalen Spielzug gern hinaus.

»Mach«, zischte sie, was bei Calypso ein Lachen provozierte. Inzwischen war seine Nähe für sie zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Seit ihrem Gespräch in der Schatzkammer berührte er sie immer mal wieder flüchtig am Arm, kam ihr näher, als sie es normalerweise ertrug, oder stupste sie spielerisch an, wenn sie ihn beim Kartenspielen schlug. Und tatsächlich blieben größere Ängste aus. Als hätte Calypso in ihrem Inneren einen Knoten gelöst. Natürlich war ihre Panik nicht weg, aber wenn sie sich in seiner Nähe aufhielt, wirkte alles auf einmal beherrschbar. Sie fühlte sich stärker.

Mit einem siegessicheren Grinsen legte Calypso eine 12B auf den Stapel.

»Nicht schlecht«, sagte sie lächelnd, zückte ihre Karte und legte sie besonders langsam auf seine. 12C. Der höhere Buchstabe beendete den Spielzug und entschied zu ihren Gunsten.

»Nicht wirklich?«, sagte Calypso und stieß ein verstörtes Lachen aus. »Das ist die vierte Runde, die du jetzt schon gewinnst.«

Elysa grinste. »Tja.«

»Tja?« Er lachte auf.

Elysa verschränkte die Arme vor der Brust, das Grinsen lag noch immer auf ihren Lippen. Plötzlich stand Calypso auf und umrundete mit zwei großen Schritten den Tisch. Er ging neben ihr in die Hocke. Irritiert beobachtete Elysa, wie er vor ihr unter den Tisch schaute und offensichtlich etwas suchte.

»Was machst du da?«

Er grinste breit, als er aufsah. »Ich spiele Bee seit über sechs Jahren und ich will meinen, recht erfolgreich. Du hingegen spielst es seit exakt zwei Tagen. Also muss es doch irgendeinen Trick geben, warum du ständig gewinnst.«

»Du glaubst, ich betrüge?« Elysa blickte ihn mit gespielter Empörung an. Sie rutschte auf dem Stuhl herum, sodass sie ihn direkt ansah. Er hockte immer noch vor ihr. Seine Knie berührten sie fast.

»Was macht deine Skala?«, fragte er plötzlich. In seinen Augen lag ein amüsiertes Blitzen.

Elysa lehnte sich ein Stück zurück, schaute ihn skeptisch an. »Zwei. Wieso?«

Calypso griff nach ihren Händen. Kurz raubte die plötzliche Berührung Elysa den Atem. Er zog sie näher zu sich heran. »Tief durchatmen«, flüsterte er. Elysa tat es, spürte, wie die Angst ein erträgliches Maß annahm. Außerdem war da noch etwas anderes; ein warmes Kribbeln.

»Mach die Augen zu.«

Wieder zögerte sie nicht. Keinen Augenblick später fühlte sie seinen warmen Atem auf ihrem Gesicht. Ihr Herz pochte so fest gegen ihren Brustkorb, dass sie das Gefühl hatte, es würde jeden Moment einfach herausspringen.

»Skala?«, flüsterte Calypso und es klang seltsam brüchig.

»Eins.« Sie musste nicht lange darüber nachdenken. Ihr gesamter Körper war warm, jede Zelle, jede Faser schien in heller Aufregung zu sein. Und doch wünschte sie, dass dieser Moment niemals endete.

Als etwas ihre Lippen berührte, hörte ihr Herz auf zu schlagen. Angst fuhr durch ihren Körper, elektrisierte sie und konkurrierte mit den anderen Gefühlen. Doch da war noch etwas: Neugier. Der Kuss dauerte nur wenige Sekunden, doch für Elysa war er in so vielerlei Hinsicht eine Premiere.

»Skala?« Er war ihr noch immer ganz nah.

»Eins.« Ihre Stimme klang fremd. Sie wagte es nicht, die Augen zu öffnen, den Moment zu zerstören. Tatsächlich verspürte sie den Wunsch, dass sich die letzten Sekunden wiederholen würden. Calypso kam ihrer stummen Bitte nach. Dieses Mal drückte er seine Lippen etwas fester auf ihre, küsste sie sanft und so liebevoll, dass sie das Gefühl hatte, in tausende glückliche Teile zu zerspringen. Zögerlich erwiderte sie den Kuss. Calypso keuchte und wich zurück. Erschrocken öffnete Elysa die Augen.

»Habe … ich etwas falsch gemacht?«, brachte sie atemlos hervor. Ihr Herzschlag pochte noch immer durch ihren gesamten Körper. Calypso wirkte leicht benommen, als er heiser auflachte.

»Nein, es war perfekt.«

Hitze schoss in Elysas Wangen. Sie wusste nicht, was sie sagen sollte, nie hatte sie etwas Vergleichbares erlebt. Sie senkte verlegen den Blick. Calypso erhob sich und ließ ihre Hände los. Sie fühlten sich feucht an.

»Du bist …« Calypso beendete seinen Satz nicht, sondern schüttelte lächelnd den Kopf.

»Ich bin?« Diese neuen Gefühle verunsicherten Elysa vollends.

»Perfekt.« Calypso musterte sie so eingehend, dass sie sich wieder einmal nackt fühlte. Zugleich kehrte in ihrem Inneren wieder diese angenehme Wärme ein.

»Das ist alles … verwirrend«, gab sie zu und starrte auf das Kartendeck.

»Aber schön?«

»Ja!« Sie antwortete so schnell, dass Calypso leise zu lachen begann. Diese Tatsache bescherte ihr eine weitere Hitzewelle, die unter ihre Gesichtshaut kroch und rote Spuren auf ihren Wangen hinterließ.

»Elysa, ich mag dich wirklich.«

»Ich dich auch.«

Sie blickten sich an. Dieses Mal hatte Elysa nicht das Bedürfnis, seinen forschenden Augen auszuweichen. In ihnen lag so etwas wie Anerkennung oder auch Bewunderung. Elysa konnte es noch nicht betiteln.

»Könntest du dir vorstellen, meine Erste Biene zu sein?«

Wieder beschleunigte sich Elysas Herzschlag. Das Absurde war, dass sie bei dem Gedanken tatsächlich zum ersten Mal glücklich war. »Ja.«

Er lächelte erleichtert. »Das freut mich.«

»Mich auch.«

 

Sie saßen auf der Couch und über den Fernsehbildschirm flackerte ein Film, dessen Handlung Elysa nicht erfassen konnte. Ihre gesamte Aufmerksamkeit galt Calypso, dessen Daumen ganz sanft über ihren Handrücken strich. Sie saßen nah nebeneinander, seine Hand hielt ihre. Elysa sah zu ihm auf, sein Gesichtsausdruck war vollends entspannt. Genau wie ihre Ängste schienen auch seine Schmerzen verschwunden zu sein. Die warmen Gefühle in ihrem Inneren überwogen alles andere.

»Was ist?«, fragte er, als er ihren Blick bemerkte.

»Nichts«, flüsterte sie.

»Dann werde ich ab jetzt jeden Tag so angestarrt?«, foppte er sie und grinste.

»Jeden Tag?«, fragte sie und der Gedanke fühlte sich so unheimlich gut an.

»Klingt nicht schlecht, oder?« Er lehnte sich in ihre Richtung und beschleunigte damit ihren Herzschlag. Die Angst kroch ganz leise durch ihren Hinterkopf, wurde jedoch nicht stärker.

»Ganz und gar nicht.« Ihre Stimme klang rau. Seine Nähe trieb ihr die Hitze in die Wangen. Und dann küsste Calypso sie abermals und sorgte dafür, dass Elysas Welt aus den Angeln geriet.

Ein Räuspern unterbrach den Moment. Die beiden fuhren auseinander. Elysa errötete, als sie Tania entdeckte, die sich mit verschränkten Armen vor ihnen aufgebaut hatte.

»Was?«, stieß Calypso barsch hervor. Als Elysa weiter zurückweichen wollte, drückte er ihre Hand, die er noch immer festhielt.

»Ich bin hier, um Elysa zurück zu den anderen zu bringen«, sagte Tania und presste die Lippen aufeinander, sodass sie eine schmale Linie bildeten.

»Das wird nicht nötig sein, ich habe entschieden, dass sie meine Erste Biene wird.«

Tanias Wangen röteten sich.

»Das freut mich natürlich. Dennoch muss sie auf den Talentwettbewerb und auch auf den Ball entsprechend vorbereitet werden, genau wie die übrigen Bienen auch.«

Calypso stand auf. »Sie kann ebenso gut hier vorbereitet werden.«

»Nein. Das kann sie nicht. Und das weißt du auch, Calypso.« Tanias Stimme zitterte vor Wut. »Die Entscheidung, wer deine Erste Biene wird, darf ohnehin erst nach dem Ball verkündet werden und bis dahin bist du verpflichtet, dich auch mit anderen Mädchen zu verabreden.« Sie warf Elysa einen abschätzigen Blick zu. »Und außerdem kann es ja auch sein, dass du deine Meinung noch einmal überdenkst.«

Schmerz zuckte durch Elysas Körper. Der Gedanke, dass Calypso sich mit den anderen Mädchen treffen sollte, ließ Wut durch ihr Innerstes pochen.

»Ich …«

»Calypso, reize nicht meine Geduld. Deine Begleiterin hat mich angewiesen, die junge Frau zurück in den Bienenstock zu bringen, und sie hat dafür gute Gründe.«

Calypso erblasste, öffnete den Mund und schloss ihn wieder. Dann blickte er zu Elysa und sie wusste, der Kampf war verloren. Gegen ihren Willen spürte sie Enttäuschung.

»Deine Sachen sind bereits gepackt und werden zurück in den Bienenstock geschafft«, sagte Tania und Elysa erhob sich. Dann blickte die ältere Biene wieder zu Calypso »Und dich erwarten bereits Abendessen mit drei der Damen, die du auf deine Favoritenliste gesetzt hast.«

Ein weiterer Schlag traf Elysa. Doch noch härter war es, dass Calypso zustimmend nickte. Nach allem, was seit dem gestrigen Tag geschehen war … Doch was hatte sie erwartet? Dass die anderen Mädchen vergessen waren, nur weil sie …? Elysa versuchte, den Gedanken abzustreifen, doch eine gewisse Traurigkeit machte sich unerbittlich in ihr breit.

»Komm jetzt, ich habe nicht den ganzen Tag Zeit«, polterte Tania, als sich Elysa noch immer nicht rührte. Mit zitternden Knien ging Elysa an Calypso vorbei.

»Elysa, ich …«

Er wollte nach ihrer Hand greifen, doch Elysa wich ihm aus. Sie ertrug seine Berührung jetzt nicht. Ohne ein weiteres Wort folgte sie Tania aus dem Königstrakt. Mit jedem Schritt, den sie sich von Calypso entfernte, fühlte sie eisige Kälte in ihrem Inneren hochsteigen.

Katharina Groth - Beehive Band 1 - Calypsos Herz
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